6

Toppe und Astrid hatten ganz früh am Samstag morgen aufbrechen wollen, aber bis sie das Zelt abgebaut, alles zusammengepackt und an der Rezeption bezahlt hatten, war es doch schon nach zehn gewesen, und an der Fähre in Pointe de Grave hatten sie dann auch noch fast eine Stunde warten müssen. Beim Fahren hatten sie sich abgewechselt und nur ein paar ganz kurze Pausen gemacht, trotzdem wurde es zwei Uhr morgens, bis sie endlich in Kleve ankamen. Sie waren todmüde, ließen alle Sachen im Auto und fielen nur noch ins Bett.

Toppe wachte auf, weil er fürchterlich schwitzte. Vorsichtig, um Astrid nicht zu wecken, schob er sich aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete es weit. Draußen war es frisch, die Vögel machten Spektakel – es mußte noch sehr früh sein. Der Wecker war noch im Koffer. Wo hatte er diese Nacht nur seine Armbanduhr hingelegt? Er fand sie unter seiner Hose auf dem Fußboden. Erst zehn vor fünf. Zu früh, irgendwen anzurufen. Er legte sich wieder hin, verschränkte die Hände im Nacken und starrte an die Decke. Vorgestern hatte er spät noch einmal mit Norbert telefoniert. Ob die inzwischen mehr wußten? Eigentlich hatten er und Astrid noch eine Woche Urlaub vor sich, und die Schule fing auch erst in acht Tagen wieder an. Was sollte er mit den Jungen machen? Gabi, von der er seit fünf Monaten geschieden war, juckelte mit einem Freund irgendwo in der Toskana herum und war nicht zu erreichen. Sicher konnten seine Söhne schon mal ein paar Stunden allein bleiben, aber jemand mußte dafür sorgen, daß sie was zu essen kriegten und nicht den ganzen Tag vor der Glotze oder ihren Computerspielen rumhingen. Außerdem, so wie die beiden im Moment miteinander standen, konnte man nicht sicher sein, daß sie sich nicht gegenseitig an die Kehle gingen. Christian hatte seit Freitag abend mit niemandem mehr ein Wort gewechselt.

Ihm war immer noch heiß, aber wenn er jetzt duschte, wurde Astrid bestimmt wach. Er betrachtete sie zärtlich. Sie hatte die Decke bis zu den Oberschenkeln heruntergeschoben, und ihr Haar bedeckte ihre Brüste und Schultern. Wie eine Nixe, dachte er.

Auf nackten Füßen tappte er in die Küche. Seit Astrid eingezogen war, hatte sich in seiner Wohnung einiges verändert. Vorher hatten nur ein paar schäbige Möbel daringestanden, die von Freunden und Bekannten ausrangiert worden waren. Astrid hatte ihre ganzen Sachen mitgebracht. Alles sehr edle, teure Stücke – schließlich hatte sie als Fabrikantentochter nie knausern müssen. Es war auch gemütlich geworden, aber wohl fühlte er sich nicht – es war einfach nicht seins. Nun ja, irgendwann wollten sie sowieso umziehen. Beide brauchten sie ein eigenes Zimmer, und das war in dieser kleinen Wohnung nicht möglich.

Er stellte die Kaffeemaschine an, setzte sich an den polierten Glastisch und nahm sich die Post der letzten vierzehn Tage vor, die die Putzfrau dort sorgfältig gestapelt hatte.

Um kurz nach sechs rief er Norbert van Appeldorn an.

»Ich habe nicht mehr geschlafen«, schnitt ihm van Appeldorn die Entschuldigung ab, und Toppe konnte im Hintergrund Norberts kleine Tochter Nora aus vollem Hals brüllen hören. »Es gibt hier gerade ein kleines Problem«, quetschte van Appeldorn zwischen den Zähnen hervor.

»Bleib mal einen Moment dran, ja?«

Es dauerte eine ganze Weile, und Toppe verwünschte sich, weil er seine Zigaretten in der Küche gelassen hatte.

Van Appeldorn berichtete ausführlich und ein bißchen ungelenk von Breitenegger, dem holländischen Laster und den toten Kindern. Einen persönlichen Kommentar gab er nicht, aber Toppe kannte ihn lange genug und wußte, was die umständlichen Formulierungen bedeuteten.

»Wann fährst du ins Präsidium?« fragte er.

»Wir haben für acht Uhr eine Teamsitzung angesetzt, mit dem ED und Siegelkötter. Bonhoeffer wollte den Pathologiebericht per Boten schicken, gestern abend noch.«

Die Reporter überfielen sie gleich am Eingang des Präsidiums. Von links und rechts wurden ihnen Mikros unter die Nase gehalten, aber Toppe drängelte sich mit starrem Blick zur Treppe durch.

»Wir können Ihnen leider noch gar nichts sagen«, wiederholte Astrid mehrfach und lächelte einigen bekannten Gesichtern zu. »Wir sind gerade aus unserem Urlaub zurückgerufen worden.«

Vom Kopf der Treppe her schallte lautes Händeklatschen. »Meine Damen und Herren!« Siegelkötters Kreidestimme sorgte unvermittelt für Ruhe. »Wenn Sie sich bitte noch ein wenig gedulden mögen. Wir stehen Ihnen selbstverständlich Rede und Antwort. Sagen wir.« Mit weit ausholender Geste legte er seine Armbanduhr frei und tippte mit dem rechten Mittelfinger auf das Glas. »Sagen wir, um zehn Uhr im Konferenzraum.«

Heinrichs stand mit dem Rücken zum Fenster, als sie ins Büro kamen. Er eilte sofort auf Toppe zu, Schmerz in den Augenwinkeln, und umarmte ihn. Astrid schluckte.

Stasi schloß die Tür, setzte sich auf Breiteneggers Platz und faltete die Hände auf der Tischplatte. »Es ist für uns alle sehr bitter«, begann er. »Günther Breitenegger war ein verdienstvoller Mitarbeiter, der eine nicht zu schließende Lücke hinterläßt. Dennoch.« Pause. ». dennoch oder vielleicht gerade deswegen sollten wir gemeinsam all unsere Erfahrung einbringen, den Fall aufzuklären.« Das »auch zum Troste der Witwe« verlor sich im lauten Schweigen der anderen. Van Appeldorn sah aus, als ob er schliefe.

»Ist der Pathologiebericht schon da?« fragte Toppe mit halber Stimme.

Heinrichs hatte auf das Stichwort gewartet und zog rasch ein paar dicht beschriebene Blätter aus einem hellbraunen Umschlag. »Tibiakopffraktur rechts«, las er schnell, unterbrach aber sofort, weil die beiden ED-Leute hereinkamen.

»Schon was verpaßt?« fragte Berns gespannt und zog einen Stuhl heran.

Toppe schüttelte den Kopf.

»Tibiakopffraktur rechts«, begann Heinrichs wieder.

»Fibulafraktur rechts. Auf der linken Seite eine Acetabulumfraktur und eine Scapulafraktur. Intracerebrale Blutung im linken Occipitalhirn, im rechten Frontalhirn eine Contre-coup-Läsion. Hangman’s fracture C2/C3 mit hohem Querschnitt. Todesursache: zentrale Atemlähmung. Todeszeit: 29.07.94 zwischen 17.30 Uhr und 18.30 Uhr.«

»Hat Bonhoeffer eine Übersetzung beigelegt?« fragte van Appeldorn.

»Hier ist noch ein handschriftlicher Zettel«, antwortete Heinrichs. »Vermutlich folgender Unfallhergang: der Wagen kam von rechts hinten; die Brüche an Schien- und Wadenbein stammen von der Stoßstange. Der Körper muß einige Meter durch die Luft geflogen sein und ist dann mit der linken Hüfte, Schulter und dem linken Hinterkopf auf die Straße geprallt. Die Art des Schädelbruches weist darauf hin, daß die Halswirbelsäule im Augenblick des Aufpralls leicht gedreht war. Offensichtlich«, schloß Heinrichs beklommen, »hat er sich im letzten Moment noch nach hinten umgedreht.«

Siegelkötter legte nachdenklich zwei Finger an die Lippen. »So wie ich es sehe, spricht ja wohl nichts mehr gegen die Freigabe des Leichnams. Ich werde sofort mit der Staatsanwaltschaft telefonieren. Wir müssen den Beerdigungstermin festlegen. Es haben sich bereits etliche Kollegen von außerhalb angemeldet.«

»Herrgott noch mal! Sie!« rief Astrid, besann sich aber sofort, Toppes warnender Blick wäre nicht nötig gewesen. Sie sah Stasi aus kleinen Augen an. »Besprechen Sie das bitte zuerst mit Frau Breitenegger! Vielleicht will sie ja lieber ein Begräbnis in aller Stille.«

»Ziemlich wahrscheinlich sogar«, sagte Heinrichs. »Die beiden haben immer sehr zurückgezogen gelebt.«

Berns nestelte schon die ganze Zeit an seiner Krawatte herum; auf seiner Halbglatze hatte sich in feinen Perlen der Schweiß gesammelt. Als van Gemmern sich jetzt eine Zigarette anzündete, fuhr er zu ihm herum. »Kannst du nicht aufhören zu qualmen? Hier geht man sowieso schon kaputt!«

»Ja, es ist wirklich stickig hier«, meinte Siegelkötter.

»Öffnen Sie das Fenster, Frau Steendijk.«

»Wie bitte?« Astrid sah ihm, halb gespielte Verblüffung, halb empört, in die Augen. »Sprechen Sie mit mir?«

Van Appeldorn lachte leise, stand auf und öffnete beide Fenster weit.

»Hier ist noch ein Zettel von Bonhoeffer«, räusperte sich Heinrichs. »Lieber Paul, zu deiner Frage nach dem Todeszeitpunkt bei den beiden Kindern.«

Berns sprang auf und riß ihm das Blatt aus den Fingern. Er las halblaut, dann schlug er die Augen gen Himmel, atmete tief aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Was ist denn los?« wollte Toppe wissen. Dramatische Auftritte dieser Art waren eigentlich nicht Berns’ Sache.

»Ach, ich dachte die ganze Zeit, wenn wir uns die Karre am Freitag abend noch vorgenommen hätten,. ob die Kinder da noch.«

»Aber ja«, meinte Stasi gedehnt, »der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen.«

Berns schnaubte einmal kräftig in seine Richtung. »Hier steht: die Totenstarre ist in diesem Moment (Samstag, 30.07. um 11.34 Uhr) noch nicht gelöst. Die Körpertemperatur der Leichen ist immer noch ungewöhnlich hoch. Nach Berechnung der Abkühlungsrate, unter Berücksichtigung der relativ hohen Außentemperaturen, müssen die Körper auf 42° C bis 44° C erhitzt gewesen sein. Je höher die Körperkerntemperatur ist, um so länger dauert die Zeitspanne, die vergeht, bis es zum Temperaturabfall kommt (Lagperiod). Je langsamer die Abkühlung, um so früher tritt die Starre ein. Der Zustand der Totenflecken ist von der Temperatur unabhängig und zeigt eindeutig, daß die Kinder länger als zehn Stunden tot sein müssen. Die fehlende Pupillenreaktion bei Injektion und die jetzt schon einsetzende Fäulnis legen die Vermutung nahe, daß der Tod vor mehr als achtzehn Stunden eingetreten ist. Die Obduktion werde ich erst vornehmen, wenn die Starre sich gelöst hat.«

Van Gemmern nickte vor sich hin. Astrid rechnete auf einem Zettelchen: »Samstag morgen 11.34 Uhr, minus achtzehn Stunden.«

»Minus 24, plus 6«, sagte van Gemmern. »Macht Freitag nachmittag um 17.30 Uhr. Wir sind gegen 19 Uhr eingetroffen. Da müssen die Kinder also schon tot gewesen sein.«

»Vielleicht waren sie sogar schon tot, als der Unfall passierte«, mischte sich van Appeldorn ein. »Ich habe mit der Rettungsleitstelle telefoniert und dann mal versuchsweise einen Zeitplan aufgestellt.«

»Augenblick, Norbert.« Toppe hob die Hände. »Wenn’s recht ist, würde ich gern zuerst den Bericht vom ED hören.« Die Sonne war um die Hausecke gewandert und schien ihm jetzt direkt ins Gesicht. Er rückte seinen Stuhl ein wenig nach links und öffnete die beiden oberen Knöpfe an seinem Polohemd.

Ganz gegen die üblichen Gepflogenheiten überließ Berns van Gemmern das Wort und zog es vor, Zeichnungen und Fotos auf den beiden Doppelschreibtischen auszubreiten. Van Gemmern rückte seine Brille zurecht und versenkte die schmale Nase in seinen Unterlagen. »Als erstes haben wir uns Günthers Auto vorgenommen, aber da gab es nichts Auffälliges, keine Zettel, keinen Hinweis. Zum Unfallort: wir fanden Teile einer Scheinwerferstreuscheibe und eines Blinkers. Die Spuren bestätigen Bonhoeffers Theorie. Der Wagen traf das Opfer von rechts hinten mit einer Aufprallgeschwindigkeit von 70 bis 80 km/h. Es findet sich eine Driftspur, was bedeutet, daß das Fahrzeug vor dem Aufprall nur mäßig abgebremst wurde, jedoch im Augenblick des Zusammenstoßes ausreichend, ansonsten wäre der Körper des Unfallopfers auf den Wagen aufgeprallt oder überrollt worden.«

Er wartete, bis Berns anhand der Fotos und Skizzen alles erläutert hatte: »Also, hier am linken Straßenrand ging Günther, und zwar in Richtung Kleve. Das Auto kam von Grafwegen, geriet mit hoher Geschwindigkeit nach rechts von der Fahrbahn – deutliche Spuren im Farnkraut, seht ihr? Ist dann mit unvermindertem Tempo scharf nach links rübergezogen und hat Günther rechts hinten erwischt.« Er zog ein zerknittertes grün-rot kariertes Taschentuch aus der Hose und wischte sich über den Kopf.

Van Gemmern übernahm wieder. »Die Glasscherben, die wir gefunden haben, der Radstand und die Art der Bereifung weisen auf einen PKW der gehobenen Mittelklasse hin, aber unsere Auswertung wird im Moment noch von einem Sachverständigen überprüft. Seine Ergebnisse dürften in zwei, drei Tagen vorliegen. An der Kleidung des Unfallopfers konnten wir keinerlei Spuren von Lack oder Kunststoff finden, aber darüber hatten wir ja schon gesprochen.« Er nahm die Brille ab und blinzelte. »Unsere Mittel für eine solche Untersuchung sind äußerst begrenzt, aber das BKA wird uns bestimmt schon in ein paar Tagen Genaueres mitteilen können.«

»Wochen«, meinte Heinrichs bitter. »In ein paar Wochen! Das kennen wir doch.« Er stemmte seine zwei Zentner aus dem Stuhl hoch, ging zum Fenster und holte ein paarmal tief Luft. »Und was hat jetzt dieser holländische Wagen mit dem Unfall zu tun?« fragte er, als er sich wieder umdrehte. »Was sind das für Kinder? Hat Günther was davon mitgekriegt? Hat er sie entdeckt?«

»Himmelarsch!« fuhr Berns ihn an. »Spekulieren kannst du immer noch. Wir sind noch bei den Fakten, oder seh ich das falsch?«

Er wartete gar nicht erst ab, sondern legte gleich los mit seinen Ergebnissen zum holländischen Auto: Papiere hatten sie keine gefunden. Im Führerhaus nur das Übliche: Parkscheibe, Eiskratzer, ein paar Cents, die zwischen die Sitze gerutscht waren, zwei leere Einwegfeuerzeuge, eine angebrochene Rolle Red Band Zoutjes, Papiermüll, vertrocknete Pommes, zwei volle Dosen Heineken in den Plastikschlingen eines Sixpacks und jede Menge verschiedener Fingerspuren. Im Laderaum: je acht nagelneue Damen- und Herrenräder, Werkzeug und in den angenagten Kartons Fahrradersatzteile und -zubehör.

»Die Kiste hat einen Motorschaden, Kolbenfresser«, fuhr Berns fort. »Sie ist ihm offensichtlich verreckt. Ungefähr hier.« Er zeigte ihnen die Stelle auf dem Foto. »Dann hat der Fahrer sie langsam ausrollen lassen. Wir haben da eine deutliche Spur auf der Straße. Die Reifenspur des Verunfallers schneidet sie an dieser Stelle. Sie liegt eindeutig darüber.«

Heinrichs riß die Augenbrauen in die Höhe. »Der Holländer war also schon da, als der Unfall passierte!«

»Zumindest stand das Auto schon da«, murmelte van Appeldorn und ergänzte etwas auf seinem Zeitplan.

Van Gemmern zerbrach die Stille. »Nur der Vollständigkeit halber: die beiden Säuglinge lagen in einer Babytragetasche aus marineblauem Kunststoff. Ich weiß noch nicht, wo sie hergestellt worden ist, aber auf dem Sperrholzboden ist ein Stempelaufdruck in kyrillischer Schrift. Die Kleidung der Kinder ist momentan noch in der Pathologie, aber ich kann sie gleich abholen. Die Ersatzwindeln, die in der Tasche lagen, scheinen kein deutsches Fabrikat zu sein. Das blaue Gummitier ist ’Made in Taiwan’. Die beiden Schnuller, einer blau, einer gelb, haben in der Mitte einen kyrillischen Namenszug. Weiter bin ich leider noch nicht.«

Er stand auf und fing an, die Fotos und Blätter zusammenzuschieben.

»Kyrillisch …« sagte Siegelkötter zögernd. »Kyrillisch … riecht das nicht stark nach illegalem Kinderhandel mit dem Ostblock?«

Niemand reagierte.

Toppe rollte einen Kuli zwischen den Handflächen hin und her. »Der Motor geht kaputt, der Fahrer läuft los, um zu telefonieren, damit ihn jemand abholt oder abschleppt. Ist er danach wieder zum Wagen zurückgegangen?«

»Wieso hat er die Kinder nicht mitgenommen?« dachte Astrid laut.

»Und was hat Günthers Unfall damit zu tun?« kam es von Heinrichs.

Jetzt regte sich auch van Appeldorn. »Genau das ist die Frage!« Er nahm seinen Zeitplan zur Hand. »Um 18.14 Uhr ist Opgenoorths Anruf bei der Leitstelle eingegangen. Wenn man die Fahrzeit rechnet, das Hickhack mit Frau Tenbuckelt, muß er Günther so zwischen 18.05 Uhr und 18.10 Uhr gefunden haben. Außerdem wissen wir, daß der Holländer eine halbe Stunde vorher um Hilfe telefoniert hat, also gegen 17.45 Uhr. Zu Fuß brauchte er vom Kartenspielerweg bis zum Haus Tenbuckelt ungefähr fünfzehn Minuten. Sein Wagen ist also gegen 17.30 Uhr liegengeblieben.«

»Da waren die Kinder schon tot«, sagte Astrid, »oder zumindest schon in einem lebensbedrohlichen Zustand.« Ihre Sonnenbräune paßte nicht zu der Müdigkeit in ihrem Gesicht.

»Genau das hat den Fahrer in Panik versetzt«, spann van Appeldorn weiter. »Zwei tote Kinder konnte er ja wohl schlecht mit zum Telefonieren nehmen. Er ist einfach abgehauen, hat einen Kumpel angerufen und sich abholen lassen.«

Heinrichs hatte sich inzwischen wieder hingesetzt. »Ich frage das noch mal«, sagte er, und in seinen Augen war jetzt keine Beklommenheit mehr. »Was ist, wenn Günther die beiden toten Kinder entdeckt hat? Der Holländer ruft einen Kumpel in Kleve an, und der erledigt das Problem, indem er Günther über den Haufen fährt.«

»Stop!« rief Berns. »Das Auto, das Günther überfahren hat, kam aus Richtung Grafwegen. Um einen Kumpel in Grafwegen anzurufen, brauchte er keine Vorwahl zu wählen.«

Van Appeldorn winkte ab. »Quark! Der kann hin und her gekurvt sein. Aber viel wichtiger, Günther wird doch wohl kaum die toten Kinder entdeckt und dann seelenruhig bei dem Auto gewartet haben, bis ihn jemand umfährt.«

»Es könnten doch zwei Leute im Auto gewesen sein«, meinte Toppe, »und einer ist bei Günther geblieben, bis der andere zurückkam.«

»Wie auch immer«, sagte Astrid, »vom Zeitplan her könnte der Holländer zumindest Zeuge des Unfalls sein.«

Stasi schob seinen Siegelring bis zum Fingernagel hoch und wieder runter; auf und ab, auf und ab.

»Eins ist jedenfalls sicher«, meinte van Appeldorn schließlich, »wenn der Holländer bei seinem Auto war, den Unfall gesehen hat oder daran beteiligt war, dann ist er hinterher nicht in Richtung Kleve abgehauen. Sonst hätte Opgenoorth ihn nämlich sehen müssen.«

»Genau«, nickte Heinrichs. »Wenn er von einem Auto abgeholt worden ist, dann sind sie nach Grafwegen und Holland gefahren, oder aber er ist zu Fuß durch den Wald.«

Toppe rieb sich nachdenklich die Stirn. »Sicher wissen wir eigentlich nur, daß ein Holländer um 17.45 Uhr telefoniert hat, weil er angeblich eine Autopanne hatte. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit war er der Fahrer des Wagens am Kartenspielerweg – folglich muß das Auto seit spätestens 17.30 Uhr dort gestanden haben. Zwei Fragen: war der Holländer im Auto oder in der Nähe des Autos und Opgenoorth hat ihn in der Aufregung nicht bemerkt und: um wieviel Uhr ist der Notarzt eingetroffen?«

»Um 18.40 Uhr.« Van Appeldorn wußte, worauf Toppe hinauswollte. »Du hast recht. Der Wagen hat dort über eine Stunde gestanden.«

»Eben. Da muß es doch noch andere Leute geben, die das Auto oder den Fahrer gesehen haben; Spaziergänger, Autofahrer.«

»Das wollte ich gerade ansprechen«, mischte sich Stasi ein. »Ich werde die Presse bitten, uns bei der Suche nach eventuellen Zeugen behilflich zu sein. Aber noch einmal zurück zum Kinderhandel. Die Kinder kommen aus dem Ostblock nach Holland.«

»Und es gibt einen Abnehmer in Deutschland«, ergänzte Toppe. »So sieht es aus, aber wir wissen noch nicht genug, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Was ist mit diesem Fahrradhändler, dem das Auto gehört?«

Van Appeldorn hob bedauernd die Hände. »Ich kann noch mal nachhaken, wenn du willst, aber die lieben Kollegen in Nimwegen werden nicht gerade begeistert sein. Die wissen schon, was sie zu tun haben.«

Siegelkötter erhob sich, stand da, die Fingerspitzen auf dem Schreibtisch. »Sie wissen, daß ich seit geraumer Zeit in einer Kommission arbeite, die sich mit der Verbesserung der grenzüberschreitenden polizeilichen Arbeit befaßt. Ich verfüge also über die allerbesten Kontakte. Aus diesem Grund möchte ich in der Sache Kinderhandel persönlich ermitteln.« Er lächelte professionell. »Betrachten Sie mich also als Kollegen, und vergessen Sie mal für eine Weile den Vorgesetzten.«

Toppe und van Appeldorn tauschten einen unergründlichen Blick.

Schon an der Tür meinte Siegelkötter: »Ansonsten leitet wie immer der Hauptkommissar die ganze Sache. Das mit Ihrem restlichen Urlaub verrechnen wir schon irgendwie. Selbstverständlich haben Sie freie Hand bei der Einteilung des Teams, und vergessen Sie nicht«, er deutete eine leichte Verbeugung an, »auch ich gehöre dazu.«

Jetzt stand Toppe auf. »Ganz so einfach ist das nicht, Herr Siegelkötter. Ich habe zwei Kinder, die im Augenblick auf mich angewiesen sind. Ihre Mutter ist noch im Urlaub.«

»Ich erwarte, daß Sie für dieses Problem eine Lösung finden«, schnappte Stasi in gewohntem Ton, besann sich dann aber auf seine neue Rolle. »Wie ist es denn, wenn ich die Kollegin Steendijk noch für eine Woche freistelle? Sie kann die Kinderbetreuung übernehmen.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« sagte Toppe bestimmt.

Siegelkötter drückte die Klinke herunter. »Ihre privaten Probleme gehören wohl kaum hierher, Herr Toppe. Sie haben vierzig Minuten Zeit, sie zu lösen, dann erwarte ich Sie auf der Pressekonferenz.«

»Da geht er hin, der liebe Kollege«, murmelte Heinrichs.

Astrid kochte. »Die alte Ratte! Ich hätt’s von mir aus angeboten, Helmut, wenn der das jetzt nicht gesagt hätte.«

»Blödsinn!« fuhr Toppe ihr über den Mund. »Es sind meine Kinder und nicht deine. Was hast du damit zu tun?«

Astrid zuckte zusammen und schaute weg.

»Können die Jungs nicht für ein paar Tage bei mir zu Hause wohnen?« bemühte sich Heinrichs schnell. »Meine Frau sagt bestimmt nicht nein.«

»Soll das ’n Witz sein?« kam es gereizt von van Appeldorn. »Wie alt sind die Blagen eigentlich? Die kommen doch wohl alleine klar!«

Was wußte Norbert schon von Halbwüchsigen? Seine Mädchen waren noch klein und pflegeleicht. In ein paar Jahren war’s dann an Toppe, müde zu grinsen.

»Sie müssen wohl allein klar kommen, aber vielleicht können sie ja wenigstens bei Oma essen.« Ihm war mulmig bei dem Gedanken, seine frühere Schwiegermutter um Hilfe bitten zu müssen. Sie hatte ihn nie leiden können und ihm sein Eheleben nicht gerade versüßt mit ihrer Neugier und dem Gezerre um die Liebe ihrer einzigen Tochter. Daß ihr Mann zum Pflegefall geworden und sie jetzt quasi immer ans Haus gefesselt war, hatte sie noch unausstehlicher gemacht.

Astrid hatte Toppes Worte inzwischen verdaut. Sie nahm seine Hand. »Solange du bei der Pressekonferenz bist, könnte ich doch kurz nach Hause fahren und wenigstens schon mal das Auto ausräumen.«

»Untersteh dich!«

Sie lachte und küßte ihn auf den Mund. »Keine Sorge, ich lasse die ganze Wäsche für dich liegen.«