39
Harts Island, Maine
Eine attraktive Mittvierzigerin, schlank und mit kurzen blonden Haaren, lehnte an einem Ford F-150 Pick-up, als die Mangini anlegte.
»Hallo, ich bin Lori Sparks.« Das war also die Besitzerin des Crow’s Nest. »Bob Fane hat gesagt, Sie brauchen ein Fahrzeug.« Sie deutete auf den Pick-up. »Der Schlüssel steckt. Stellen Sie ihn einfach vor das Nest, wenn Sie fertig sind.«
Sie bedankten sich und stiegen ein.
»Ich hoffe, Sie finden sie«, rief Sparks ihnen hinterher. »Sie ist ein liebes Mädchen. Sie hätte ein bisschen Ruhe verdient.«
McCabe fuhr so schnell, wie es die gewundenen, engen Inselsträßchen zuließen. Er war sich sicher, dass Quinn hier auf Harts Island war, und zwar auf Kellys Grund und Boden. Zu meinem Herzen kehr ich jetzt zurück, dorthin, wo ich das erste Mal in seine blauen, blauen Augen sah. Casco Bay und die Skyline von Portland zogen zu ihrer Linken vorbei. Die charakteristischen Formen einzelner Bürogebäude sowie die Zwillingstürme des Observatoriums und der katholischen Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis zeichneten sich gegen den Himmel ab, anmutige Silhouetten vor einem filmreifen orangefarbenen Sonnenuntergang. Der Regisseur John Ford, der aus Portland stammte, hätte in diesem Anblick geschwelgt. Am Ende der asphaltierten Straße lenkte McCabe den Ford auf den holperigen Waldweg, den sie auch gestern Abend schon genommen hatten. Der Pick-up passte kaum zwischen den Baumreihen hindurch. Maggie verdrehte ihren Körper auf dem Sitz so, dass ihre Austrittswunde möglichst wenig schmerzhafte Schläge abbekam.
»Bloß noch ein paar Minuten«, sagte McCabe.
Sein Handy vibrierte. Art Astarita aus New York. McCabe hielt an.
»Wir sind jetzt in der Bank«, sagte Astarita. »Ms. Archer öffnet gerade ihr Schließfach.« Pause. »Okay, da ist der Umschlag. Wir machen ihn auf.«
McCabe widerstand dem Drang, Astarita zur Eile anzutreiben.
»Mein Gott, McCabe, ihr habt ja ein paar richtig schnuckelige Mädchen da oben in Portland. Das ist ja widerlich. Irgendein älterer Typ, der perverses Zeug mit einem Mädchen treibt, das aussieht wie zwölf oder so. Fesseln. Vielleicht auch Folter.«
»Sie ist angeblich sechzehn.«
»Sieht aber nicht so aus.«
»Ist das Gesicht des Kerls zu sehen?«
»Ja. Von vorne. Von der Seite. Alles andere sieht man auch. Ich maile dir die Bilder zu, sobald ich sie eingescannt habe. Da hast du ja einen ganz bezaubernden Typen erwischt. Ich hoffe, du schneidest ihm die Eier ab.«
McCabe bedankte sich, und sein Dank kam aus tiefstem Herzen. Der Kreis war geschlossen. Würden die Fotos ausreichen, um Wolfe ins Gefängnis zu bringen? Lainie hatte nicht daran geglaubt, aber da war sie auch noch am Leben gewesen.
Er stellte den Pick-up auf dem Wendekreis ab. Kein anderes Fahrzeug weit und breit. Falls Abby hier war, dann war sie nicht mit dem Auto gekommen. Das Gleiche galt für Wolfe. In der Hütte und um sie herum war keinerlei Bewegung zu erkennen. Vielleicht hatte McCabe das Gedicht ja falsch interpretiert. Vielleicht waren sie gar nicht hier.
Sie bewegten sich lautlos durch den Wald. Maggie nahm ihre Krücke zu Hilfe, um das Gleichgewicht zu halten und den schneebedeckten Boden vor ihren Füßen abzutasten. Jetzt auf den Hintern zu fallen hätte ihr gerade noch gefehlt. Am Rand der Lichtung, vielleicht dreißig Meter von der Hütte entfernt, blieben sie stehen. Jetzt konnten sie Abby sehen. Sie stand am Klippenrand, alleine, und hatte ihnen den Rücken zugewandt. Sie schaute auf die Felsen hinunter, während ihre nackten Zehen sich an der eisglatten Kante eines großen, weit überhängenden Felsblocks entlangtasteten. Er gab ein nahezu perfektes Sprungbrett ab. Von Richard Wolfe war weit und breit nichts zu erkennen.
Abby trug ein fließendes weißes Sommerkleid. Ein Kleid, wie man es zur Highschool-Abschlussfeier trägt. Portland High, Jahrgang 1999. Es passte weder zur Jahreszeit noch zum Ort. Ihre Arme hingen seitlich herab. Es sah aus, als hätte sie etwas in der Hand. Aber was es auch war, es verlor sich in den sanften Stoffbahnen, die sie im Rhythmus des von der See hereinwehenden Windes umschwebten. Das rötlich braune Haar trug sie zurückgesteckt, und eine Girlande aus weißen Blüten wand sich um ihren Kopf. Nein, das da sah nicht nach Schulabschlussfeier aus, befand McCabe. Abby war für eine Hochzeit zurechtgemacht. Eine Braut, die die Ankunft ihres Bräutigams erwartet. Ersehne die Umarmung des TODES, erneut. Zum allerersten Mal. Nur der Brautstrauß und der Schleier fehlten. Der Wind wurde jetzt stärker, und Januar-Tauwetter hin oder her, ihr musste eiskalt sein. McCabe überlegte, ob sie wohl springen würde, wenn sie bemerkte, dass sie sich ihr näherten.
»Lass sie nicht aus den Augen«, sagte er zu Maggie. »Ich werfe mal einen Blick in die Hütte.« Er zog die Fünfundvierziger aus dem Halfter, steckte sie in seine geräumige Manteltasche und machte sich auf den Weg. So schnell und leise wie möglich überquerte er die ungeschützte Lichtung. Mit Bill Fortiers L.L.Bean-Stiefeln hatte er auf den rutschigen Eisplatten sehr viel besseren Halt als gestern.
Er gelangte zur Hütte und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Spähte durch das Fenster. Der Hauptraum wirkte dunkel und leer. Er drückte die Haustür auf und trat ein. Nichts.
»Richard? Sind Sie da?« Seine Stimme klang freundlich, kollegial.
Keine Reaktion. Schnell überprüfte er die anderen Zimmer. Nichts. Durch das Fenster konnte er Abby immer noch an der Felsenkante stehen sehen. Maggie war jetzt näher an ihr dran. Nur noch etwa fünfzehn Meter hinter ihr.
Plötzlich registrierte er eine Bewegung am einen Ende der Klippen, und Richard Wolfes Kopf tauchte über der Felskante auf, gefolgt von seinen Schultern. Er kam die gebrechliche Holztreppe vom Felsenstrand emporgeklettert. Er trug immer noch den dunklen Kapuzenmantel, doch da es wärmer geworden war, hatte er die Kapuze nicht auf. Wolfe ging auf Maggie zu. Falls er die Zweiundzwanziger noch bei sich hatte, dann hielt er sie jedenfalls nicht in der Hand. McCabe zog die Fünfundvierziger aus der Tasche. Er spürte, wie sein Handy vibrierte. Das Display zeigte M. SAVAGE an. Ihm war klar, dass Maggie jetzt nicht mit ihm reden wollte. Sie wollte ihm lediglich sagen: Bleib, wo du bist, und hör zu. Er hielt das Handy an sein Ohr und beobachtete durch das Fenster, was sich draußen abspielte.
»Sie müssen Dr. Wolfe sein«, sagte Maggie, als sie noch eineinhalb Meter voneinander entfernt waren.
»Ja. Wer sind Sie, und was machen Sie hier?«
»Ich bin Polizistin«, erwiderte sie. »Detective Margaret Savage, Portland Police Department.« Sie streckte ihm ihre Dienstmarke entgegen. Er warf einen Blick darauf. »Wir suchen nach Abby.«
Ob es daran lag, dass sie ihren Namen gehört hatte, oder ob sie nur gespürt hatte, dass da jemand hinter ihr war, jedenfalls drehte Abby sich um und blickte sie an. Zuerst Wolfe. Dann Maggie. McCabe konnte ihre Augen erkennen, aber im Dämmerlicht eines späten Januarnachmittags war schwer zu sagen, ob darin Wahnsinn oder schlicht nur Verzweiflung lag. Hinter ihr wurden die Wolken immer dichter. Der Wind nahm zu. Wogen aus weißem Stoff flatterten vor einem immer dunkler werdenden Himmel. Er konnte nach wie vor nicht sehen, was sie in der Hand hielt.
»Abby, mein Name ist Margaret Savage«, rief Maggie ihr zu. »Ich bin eine Freundin. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wären Sie bitte so nett, von der Kante zurückzutreten?«
Abby wirkte nervös, unkonzentriert. McCabe war sich nicht einmal sicher, ob sie Maggies mit ruhiger Stimme vorgetragene Bitte überhaupt gehört hatte. Vielleicht war das Heulen des Windes zu laut und sie zu weit weg. Maggie klopfte mit der Krücke auf den Schnee vor ihren Füßen, um sicherzugehen, dass ihr nächster Schritt, so sie ihn denn tat, auf festem Untergrund landen würde. »Ich komme jetzt zu Ihnen, dann können wir miteinander reden«, rief sie.
»Ich würde nicht näher herangehen«, sagte Wolfe. »Sie wird springen, davon müssen Sie ausgehen. Ich versuche seit fast einer Stunde, sie dazu zu bewegen, von der Kante wegzugehen. Ohne Erfolg. Wenn Sie ihr noch näher kommen, dann fürchte ich, wird sie sich hinunterstürzen.«
McCabe überlegte, ob er das Fenster ein Stück weit öffnen und das Fensterbrett als Auflage für die Pistole nutzen sollte. Kein einfacher Schuss aus dieser Entfernung. Konnte leicht danebengehen. Und außerdem würde der Schuss Abby möglicherweise veranlassen zu springen. Nein, das war keine gute Idee.
»Ich kann versuchen, sie davon abzubringen«, hörte er Maggie zu Wolfe sagen. Sie sprach so leise, dass Abby sie nicht hören konnte. Sie machte einen Schritt auf Abby zu und dann noch einen. Gleichzeitig bewegte sie sich seitwärts, ging vor Wolfe vorbei auf dessen andere Seite, sodass er, wenn er sie im Auge behalten wollte, gezwungen war, der Hütte den Rücken zuzukehren. McCabe den Rücken zuzukehren.
»Wo wollen Sie denn hin?«, sagte Wolfe. »Was haben Sie vor?« Jetzt schwang Nervosität in seiner Stimme mit.
»Ich muss dichter ran, sonst kann sie mich nicht hören«, sagte Maggie in ruhigem, sachlichem Ton.
Noch während sie diese Worte sprach, schlüpfte McCabe aus der Hütte.
»Ich will sie schließlich beruhigen, und das wird nicht funktionieren, wenn ich sie anbrüllen muss«, fuhr Maggie fort.
»Es wird sowieso nicht funktionieren«, erwiderte Wolfe. »Gehen Sie weg. Abby weiß nicht, wer Sie sind. Mich dagegen kennt sie. Ich bin ihr Arzt. Sie vertraut mir. Gehen Sie einfach weg, und ich bringe sie dazu zurückzukommen.«
McCabe schaltete sein Handy aus und steckte es in die Tasche. Er war jetzt so dicht hinter den beiden, dass er auch so verstehen konnte, was sie sagten.
»Haben Sie sie hypnotisiert?«, wollte Maggie wissen.
»Ja, das habe ich.«
»Wie hat es geklappt?«
Wolfe hörte McCabe nicht kommen. Er war jetzt keine drei Meter hinter ihm. So nah, dass er auf keinen Fall danebenschießen konnte. Maggie sah nicht zu McCabe hin, um Wolfes Aufmerksamkeit nicht auf ihn zu lenken.
»Es hat sehr gut geklappt. Auch jetzt befindet sie sich noch in einem Trancezustand. Sie wird alles tun, was ich sage.«
»Tatsächlich? Alles?«
»Ja.«
»Auch wenn Sie sie bitten, von dieser Klippe wegzugehen?«, hakte Maggie nach.
»Ja«, antwortete Wolfe.
»Und warum tun Sie das dann nicht einfach?«, fragte McCabe.
Wolfe drehte sich um. Beim Anblick der auf seine Brust gerichteten Fünfundvierziger riss er die Augen auf.
»Vielleicht, weil Sie wollen, dass sie springt?«
»Was, um alles in der Welt, reden Sie da?«
»In Elaine Goffs Wohnung waren Kameras versteckt. Die haben alles aufgezeichnet, auch den Abend, als Sie bei ihr waren und sie Ihnen das mit den Fotos gesagt hat. Sie wissen schon, diese schmutzigen Fotos. Wir haben das gesamte Gespräch auf Video. Wir wissen, dass Sie sie ermordet haben. Sie sind hiermit verhaftet.«
Falls Wolfe überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Ein schmales, hässliches Lächeln zog über seine Lippen. »Die Sache hat nur einen winzig kleinen Haken«, sagte er. »Sie haben recht mit dem, was Sie eben gesagt haben. Ich will, dass sie springt. Und ich muss dazu lediglich ein einziges kleines Wort aussprechen … nennen wir es das Zauberwort … und schwupp, schon geht sie über die Klippe.«
McCabe wusste nicht, ob Wolfe bluffte. Vielleicht gab es ein Zauberwort, vielleicht auch nicht. Er überlegte, was seine Optionen waren. Er konnte einfach abdrücken. Das würde das Ganze beenden … aber womöglich auch Abby dazu bringen, sich in die Tiefe zu stürzen. Ein untragbares Risiko.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Abby sich umdrehte und wieder auf die Felsen und das Meer hinabblickte. Dann wandte sie den Blick erneut zu ihnen. Befand sie sich in einem hypnotischen Trancezustand? McCabe wusste es nicht. Auf ihrem Gesicht war nichts als Angst zu erkennen. Angst vor dem Schritt in den Tod. Angst vor dem Schritt zurück zu ihnen.
»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, Richard«, sagte McCabe. »Wenn Detective Savage und ich tun, was Sie verlangen, und weggehen, was passiert dann als Nächstes? Nehmen Sie Abby als Geisel mit?«
»So lautet mein Plan, ja. Mein Plan B, um genau zu sein. Meine Notfalloption. Am Fuß der Treppe, unten am Strand, liegt mein Beiboot. Mein Boot ankert ganz in der Nähe. Sie verschwinden. Abby und ich fahren weg. Wenn ich das Gefühl habe, in Sicherheit zu sein, setze ich sie irgendwo an der Küste ab. Falls Sie oder die Küstenwache oder irgendein Möchtegernheld im Hummerkutter mir folgen sollten …« Wolfe zuckte mit den Schultern.
»Dann sagen Sie das Zauberwort, und sie springt über Bord.«
Wolfe lächelte. »Nein, um ehrlich zu sein, wenn es so weit kommen sollte, dann erschieße ich sie einfach. Ich habe einen kleinen Revolver an Bord. Eine Smith & Wesson Airweight, Kaliber 38.«
McCabe kannte die Waffe. Sie war leicht. Gut zu verstecken. Auf kurze Entfernungen tödlich.
»Nur aus Neugier, Richard, wie war denn Ihr Plan A?«
»Oh, Plan A war viel einfacher. Da gab es keine Videos. Und Kelly wäre wegen des Mordes ins Gefängnis gekommen.«
»Wegen der Morde. Plural.«
»Stimmt, wegen der Morde. Abby hätte nicht Geisel spielen müssen, wäre von der Klippe gesprungen und hätte so ihren dritten und letzten Selbstmordversuch auf tragische Weise erfolgreich zu Ende gebracht. Ich wäre zurück in meine Praxis in Portland gesegelt. Und natürlich hätten wir gemeinsam morgen früh diesen Verlust betrauert.«
»Warum muss sie denn unbedingt sterben?«, wollte Maggie wissen. »Sie kann Sie doch gar nicht beschreiben.«
»Aber dafür gibt es keine Garantie. Ihre Erinnerungen könnten jederzeit wiederkommen.«
Ihn Plan B durchziehen zu lassen kam nicht in Frage. Wenn Wolfe Abby mit auf sein Boot nahm, dann würde er sie umbringen, sobald er sie nicht mehr brauchte, so viel war klar. Erneut wog McCabe seine Optionen gegeneinander ab. Den Dreckskerl zu erschießen war immer noch die Nummer eins. Eine zweite fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
»Eine letzte Frage noch, Richard.«
»Bevor Sie gehen?«
»Ja. Bevor wir gehen.« Er richtete die Fünfundvierziger auf Wolfes Hals. Auf genau die Stelle, wo sein Zauberwort entstehen würde. Falls es tatsächlich ein Zauberwort gab. »Es ist eine Art physikalische Frage. Sie wissen schon, wie in der Schule. Zug A verlässt Bahnhof B mit sechzig Stundenkilometern und so weiter. Verstehen Sie?«
Wolfe starrte erst McCabe an, dann seine Pistole und sagte kein Wort.
»Wollen Sie wissen, wie meine Frage lautet, Richard? Es ist eine ziemlich wichtige Frage.«
Wolfe gab immer noch keinen Ton von sich.
»Meine Frage lautet: Wenn die Kugel, die sich in der Kammer meiner Pistole befindet, den Lauf in genau dem Moment verlässt, in dem Sie anfangen, Ihr Zauberwort zu rufen, sind Sie dann tot, bevor das Wort Ihre Kehle verlassen hat, oder erst hinterher?«
»Sie bluffen.«
»Das glaube ich weniger.«
»Das wäre ja Mord.«
Jetzt lächelte McCabe. »Nein. Das, was Sie machen, Herr Dr. Wolfe, das nennt man Mord. Das, was ich mache, ist die vertretbare Anwendung von Gewalt gegen einen Killer, der eine Geisel bedroht.«
»McCabe«, sagte Maggie.
»Was?«, erwiderte er, die Augen immer noch fest auf Wolfe gerichtet.
»Sie steht nicht mehr an der Klippe. Sie kommt zu uns.«
McCabe warf einen schnellen Blick zur Seite. Abby kam durch den Schnee direkt auf sie zu. Sie war barfuß. Ihre Arme hingen immer noch seitlich an ihrem Körper herab.
»Tja«, sagte McCabe. »Es sieht so aus, als hätte Abby unsere Geiselkrise gelöst. Das macht alles sehr viel einfacher. Legen Sie sich auf den Boden, Gesicht nach unten, Hände auf den Rücken.«
Wolfe rührte sich nicht.
»Sofort, Richard. Sonst schieße ich vielleicht doch noch, nur so zum Spaß. Sie kennen ja die Schlagzeilen: ›Verbrecher widersetzt sich Festnahme und stirbt bei Schusswechsel mit der Polizei.‹«
Als Abby Quinn noch ungefähr drei Meter von Wolfe entfernt war, blieb sie stehen. »Du bist der TOD«, sagte sie. »Du musst sterben.«
Sie richtete einen kleinen, glitzernden Revolver auf Wolfe. Seine Airweight .38.
»Abby! Nein!« Maggie hechtete los und traf im Moment des Schusses auf Quinns Beine. Abby verlor das Gleichgewicht, und die Waffe flog ihr aus der Hand. Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Wolfe und Maggie stürzten sich auf den Revolver. Wolfe war schneller.
Er griff nach der Airweight und war im nächsten Moment schon wieder auf den Beinen, direkt neben Abby. Er schlang ihr den Arm um den Hals, zog sie dicht an sich heran und presste ihr den kurzen Lauf des Revolvers an den Hals.
Sie wehrte sich zwar nach Kräften im Versuch, ihm zu entkommen, aber er war zu stark, sein Griff zu fest. Er fing an, sie rückwärts zu zerren, Schritt für Schritt, wobei er abwechselnd nach links zu McCabe und nach rechts zu Maggie blickte.
Die beiden folgten ihm. McCabe schlug einen Linksbogen in Richtung Holztreppe, Maggie wich weiter nach rechts aus. Sie wollten den Winkel größer machen, damit wenigstens einer von ihnen die Möglichkeit bekäme, auf Wolfe zu schießen, ohne gleichzeitig Abby zu gefährden. Wolfes Blick schweifte von links nach rechts. Dann hinüber zur Treppe. McCabe stand jetzt direkt davor und blockierte seinen Fluchtweg.
»Aus dem Weg«, rief Wolfe, »oder sie ist tot.«
»Aber Sie auch, Richard. Überall nur Tod.«
Urplötzlich und ohne Vorwarnung riss Abby sich los, warf sich zu Boden und kreischte: »Hört auf! Hört auf! Ich hör euch nicht mehr zu!!«
Wolfe war mit einem Mal schutzlos. Er schoss genau im selben Moment wie McCabe. McCabe war der bessere Schütze. Die Fünfundvierziger die bessere Waffe. McCabes Kugel schlug in Wolfes Brustkorb ein und schleuderte ihn nach hinten. Einen Sekundenbruchteil später traf ihn Maggies Kugel in den Rücken, zehn Zentimeter tiefer. Rückwärts taumelte er über den Klippenrand. Kein Schrei kam über seine Lippen, während er hinabstürzte. Vermutlich war er bereits tot.
»Sagt ihnen, sie sollen endlich ruhig sein«, kreischte Abby. »Sagt ihnen, dass ich ihnen nicht mehr zuhöre! Ich hör nicht mehr zu!«
Sie krümmte sich wie ein Fötus zusammen und fing an zu weinen. Maggie hockte sich neben sie in den Schnee und strich ihr sanft über den Rücken. McCabe warf einen vorsichtigen Blick über den Klippenrand nach unten. Es dämmerte bereits. Er sah, wie Wolfes Leiche von einer Welle erfasst und ins eiskalte Wasser gespült wurde. Wenn die Kugeln ihn nicht umgebracht hatten, dann aber definitiv der Sturz. Falls nicht, würde die eisige Januarsee ihm mit Sicherheit den Rest geben. So oder so, eines war sicher: Es war vorbei.
»Er war der TOD. Er musste sterben«, stieß Abby schluchzend hervor. »Er musste sterben.«
McCabe verständigte das Feuerwehrboot und einen Notarztwagen, der sie am anderen Ufer erwarten sollte. Sie brachten Abby nach Winter Haven. McCabe hoffte, dass sie nicht allzu lange dort bleiben musste. Aber eine Gewissheit gab es nicht.