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Harts Island, Maine

Samstag, 7. Januar, 0.10 Uhr

Das Feuerwehrboot verlangsamte seine Fahrt spürbar, und der Mann am Ruder begann mit dem Anlegemanöver. Als das Boot schließlich in der richtigen Position lag, sprang einer der Feuerwehrmänner auf den hölzernen Anleger und machte Bug- und Heckleine an je einem Stahlhaken fest. McCabe sah einen schwarz-weißen Ford Explorer am Ufer stehen. Das Motto des Portland Police Department, das in goldenen Buchstaben auf dem hinteren Kotflügel prangte, lautete hier nicht WIR SCHÜTZEN EINE WUNDERBARE STADT, sondern war in WIR SCHÜTZEN EINE WUNDERBARE INSEL geändert worden. Zwei Beamte hielten sich darin warm. Einer trug Zivilkleidung. McCabe nahm an, dass Bowman sich vor der Rückfahrt auf die Insel nicht damit aufgehalten hatte, in seine Uniform zu schlüpfen.

Maggie und McCabe gingen vom Anleger direkt zu dem Wagen, und Bowman stieg aus. Er war groß gewachsen, knapp eins neunzig vielleicht, und hatte die Haltung und den Körperbau eines durchtrainierten Sportlers. Nicht einmal die Andeutung eines Bauchansatzes, obwohl er nach McCabes Schätzung stramm auf die Fünfzig zuging. Er besaß harte Züge und ein fleckig-rotes Gesicht, vielleicht wegen der Kälte, vielleicht wegen des Alkohols, oder vielleicht war die Haut eben einfach nur fleckig. Dazu trug er einen kurzen, sauber gestutzten Schnurrbart, eine ausgeblichene Bluejeans und einen gefütterten Anorak mit einem Kunstpelzkragen. Die Dienstmarke hatte er am Anorak festgemacht. Da McCabe keinen Hüftgurt erkennen konnte, nahm er an, dass er die Dienstwaffe in einem Schulterhalfter unter der Jacke trug. Spielte wahrscheinlich gern Detective.

Maggie stellte sie einander vor. »Scotty Bowman. Sergeant Mike McCabe.« Die beiden Männer gaben sich die Hand. Der Beamte im Wagen ließ das Fenster herunter und winkte heraus. »Mel Daniels«, rief er. Daniels sah viel zu jung aus, um schon Polizist zu sein. Sein Gesicht war weich, fast feminin, seine Züge offen und tatendurstig. McCabe rechnete zurück. Da heute Freitag war, konnte Daniels am Dienstagabend keinen Dienst gehabt haben. Die Polizisten auf der Insel arbeiteten im selben Schichtrhythmus wie die Feuerwehr. Vierundzwanzig Stunden Dienst, vierundzwanzig Stunden frei, dann wieder vierundzwanzig Stunden Dienst und dann fünf Tage frei. McCabe und Maggie setzten sich auf die Rückbank des Explorer. Der Innenraum war warm, was darauf hindeutete, dass der Motor schon eine ganze Weile lief. Vielleicht hatten sie nach Quinn gesucht. Daniels wendete und fuhr den Hügel hinauf. »Und, haben Sie unsere Zeugin schon gefunden?«, wollte McCabe wissen.

Nach einer kurzen, gespannten Stille seufzte Bowman. »Nein. Noch nicht. Wir haben keine Ahnung, wo sie stecken könnte.«

»Sie haben keine Ahnung, wo sie stecken könnte?«, wiederholte McCabe. Er merkte erst jetzt, wie sehr ihn die Sache ankotzte. »Na großartig, Bowman. Verdammte Scheiße, einfach großartig.«

Der Inselpolizist drehte sich in seinem Sitz nach hinten um und hob abwehrend die Hände. »Hey, wir sind jetzt seit halb zehn unterwegs. Seit ich zurück auf der Insel bin, suchen wir nach ihr. Aber wie ich Maggie schon am Telefon erzählt habe …«

Jetzt hatte Bowman McCabe schon zum zweiten Mal innerhalb von zehn Sekunden auf dem falschen Fuß erwischt. »Nur, damit wir uns richtig verstehen: Maggie‹ haben Sie gar nichts erzählt. Sie haben mit Detective Savage gesprochen. Ist das klar?«

Der Polizist mit dem roten Gesicht beäugte McCabe vorsichtig. Er wurde nur ungern zurechtgewiesen, schon gar nicht in Gegenwart eines jüngeren Beamten, aber ihnen war beiden klar, dass er kaum etwas dagegen tun konnte. »Also gut«, sagte er schließlich in unfreundlichem Ton. »Ich habe Detective Savage erzählt, dass wir bei Quinn zu Hause waren. Sie war nicht da. Ihre Mutter, sie heißt Grace Quinn, sagt, dass sie ihre Tochter seit Dienstag nicht mehr gesehen hat. Aber Grace ist praktisch ununterbrochen sturzbesoffen, also hat sie seit Dienstag vermutlich insgesamt kaum was wahrgenommen. Wir haben auch mit Lori Sparks gesprochen, der Besitzerin des Restaurants, in dem Abby als Kellnerin arbeitet, dem Crow’s Nest.«

Das kannte McCabe. Kyra und Casey und er hatten dort im letzten Sommer auf der Terrasse Hummer gegessen und dabei eine ziemliche Sauerei veranstaltet. Fantastischer Blick über die Bucht und auf den Sonnenuntergang hinter der Skyline von Portland. »Auch da hat Quinn sich seit Dienstag nicht blicken lassen. Lori war ziemlich sauer, weil sie sie dringend gebraucht hätte. Freitagabends ist da immer Hochbetrieb.«

»Haben Sie es auf ihrem Handy probiert?«

»Ja, sicher. Ein halbes Dutzend Mal. Aber da springt immer sofort die Mailbox an. Als wär’s ausgeschaltet. Oder als hätte es keinen Saft mehr.«

McCabe zog sein eigenes Handy aus der Tasche und tippte auf ein paar Tasten. »Hier McCabe«, sagte er. »Moment mal.« Und dann, an Bowman gewandt. »Wie lautet Quinns Nummer?« Bowman sagte sie ihm, und McCabe gab sie an die Frau in der Polizeizentrale weiter. Er bat sie, das Handy zu lokalisieren, und nein, er kannte den Provider nicht.

Daniels parkte den Explorer auf einem freien Platz vor dem kleinen Backsteingebäude, in dem die Polizeiwache, die Feuerwehr, eine Außenstelle der Leihbücherei, ein Gemeinschaftsraum sowie die einzige öffentliche Toilette der Insel untergebracht waren.

»Habt ihr sonst noch irgendwo gesucht?«, erkundigte sich Maggie. »Vielleicht ist sie ja bei Bekannten untergeschlüpft.«

Der junge Beamte drehte sich zu ihnen um. »Es gibt nicht viele Leute, die mit Abby etwas zu tun haben. Nicht so, wie sie jetzt ist. Zu unberechenbar. Ich habe ein paar ihrer Klassenkameraden, unserer Klassenkameraden aus der Highschool gefragt. Die, die auf der Insel geblieben sind. Aber denen geht es so wie mir. Wir wissen noch gut, wie Abby früher mal war. Ein vollkommen anderer Mensch.«

»Sie waren mit Quinn in einer Klasse?«, sagte Maggie.

»Ja. Portland High. Abschlussjahrgang ’99.«

»Und Ihre Klassenkameraden haben sie auch nicht gesehen?«

»Nein. Seit Dienstag nicht. Genauso wenig wie der Barkeeper im Nest. Ein junger Typ, einundzwanzig, zweiundzwanzig, ein gewisser Travis Garmin.«

»Sind schon Suchtrupps unterwegs?«

»Wird gerade organisiert«, erwiderte Bowman. »Der andere Kollege, der heute Nacht Dienst hat, Sonny Cates, stellt gerade eine Mannschaft zusammen. Überwiegend Leute, die bei der Stadt angestellt sind, dazu noch ein paar freiwillige Feuerwehrmänner. Er schätzt, dass er acht bis zehn Mann brauchen wird.« Die Insel war nur gut fünf Quadratkilometer groß. Mit zehn Einheimischen müsste sie relativ schnell und effizient abzusuchen sein, dachte McCabe, da brauchte man nicht noch zusätzliche Kräfte von außerhalb.

»Wir finden sie«, sagte Bowman selbstbewusst.

McCabe saß in der Dunkelheit und starrte auf Bowmans Hinterkopf. Als ob Bowman die Wut von der Rückbank her im Nacken spüren könnte, drehte er sich um und sagte: »Hören Sie, McCabe, wir haben nichts falsch gemacht. Ich habe nichts falsch gemacht.«

»Und da sind Sie sich wirklich sicher?«

»Ja, absolut.«

McCabe nickte und stieg aus. Die anderen taten es ihm nach. Er legte Daniels einen Arm um die Schulter. »Warum gehen Sie nicht schon mal rein«, sagte er leise. »Detective Savage und ich haben noch kurz etwas Vertrauliches mit Officer Bowman zu besprechen.«

Daniels ließ den Blick von einem zum anderen gleiten. Wahrscheinlich kam er sich vor wie ein kleines Kind, das auf sein Zimmer geschickt wird, damit die Erwachsenen sich unterhalten können. Aber er widersprach nicht, sondern ging einfach zur Wache, schloss die Tür auf, knipste das Licht an und ging hinein. McCabe wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war, dann wandte er sich an Bowman. »Sie hatten eine Zeugin, die einen Mord beobachtet hat, praktisch auf ihrem Schoß sitzen.«

Die Augen des anderen wurden zu Schlitzen. »Nein, hatte ich nicht«, zischte er. »Das war eine psychotische Irre, die wie wahnsinnig durch meine Wache getobt ist und sich die Seele aus dem Leib gekreischt hat.«

McCabe behielt seine eigene aufsteigende Wut fest im Griff. »Es mag ja sein, dass Abby Quinn eine psychotische Irre ist«, sagte er. »Das kann ich nicht beurteilen. Was ich jedoch sehr wohl beurteilen kann, ist, dass sie, obwohl sie aufgeregt und wahrscheinlich völlig verängstigt war, immer noch genug Verstand besaß, um erstens die Mordwaffe, zweitens den Tathergang und drittens das Opfer sehr genau zu beschreiben. Einzelheiten, die außer ihr niemand kennen kann. Und was machen Sie? Nichts. Sie gehen einfach davon aus, dass sie ihre Medikamente abgesetzt hat, und lassen sie wieder laufen. Sie sind ein erfahrener Polizist, Bowman, wie lange sind Sie jetzt dabei … zwanzig Jahre? Und haben nicht einmal dafür gesorgt, dass sie die medizinische Betreuung bekommt, die sie Ihrer eigenen Ansicht nach eigentlich benötigt hätte, wie Sie Detective Savage am Telefon mitgeteilt haben. Wenn Sie sich wenigstens darum gekümmert hätten, dann wäre Abby Quinn jetzt in Sicherheit. Stattdessen haben Sie sie nach Hause gebracht. An den Ort, wo der Täter als Allererstes nach ihr suchen würde. Wir können nur hoffen, dass wir sie vor ihm finden, wenn es nicht schon zu spät ist. Scheiße noch mal, Bowman. Ich wette, Sie haben ihre Aussage nicht einmal protokolliert, stimmt’s?«

Bowman gab keine Antwort, und McCabe fuhr fort. »Das hab ich mir gedacht. Das heißt also, dass wir jetzt, drei Tage später, nicht nur keine Ahnung haben, wo unsere Zeugin sich aufhält, wir haben noch nicht einmal eine exakte Aufzeichnung ihrer Aussage. Um genau zu sein, dank Ihnen haben wir nicht einmal Bupkis. Für den Fall, dass Sie in letzter Zeit nicht in New York waren: Das ist Jiddisch für Ziegenscheiße.«

Bowman stand McCabe auf der kalten, leeren Dorfstraße gegenüber, die Augen zu Schlitzen verengt, die Hände zu Fäusten geballt. Das ferne Schimmern einer Straßenlaterne warf ein unregelmäßiges Muster aus Licht und Schatten auf seine Züge. Zwei Alphamännchen im Duell der Blicke, zwischen ihnen nur der eisige Wind, der von der Bucht hereinwehte.

Bowman knickte als Erster ein. »Wir finden sie«, sagte er noch einmal. »Wenn sie noch auf der Insel ist, dann finden wir sie auch.«

McCabe dachte an die Fähre, die ihnen auf der Hinfahrt begegnet war. »Hoffen wir, dass sie noch hier ist«, erwiderte er, »und hoffen wir, dass Sie recht behalten. Denn wenn nicht, dann kann sie einfach überall sein. Zum Beispiel im Kofferraum eines schicken Autos. Erstochen, nackt und zu einem Eisklumpen gefroren.« McCabe spürte Maggies Hand auf seiner Schulter. Sie drückte sanft zu, beruhigte ihn, schob ihn in Richtung Wache.

»Wir sollten jetzt reingehen«, sagte sie, »sonst gefrieren wir hier noch alle zu Eisklumpen.«

Angstschrei: Thriller
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