19
Als McCabe und Maggie im dritten Stock des Polizeipräsidiums von Portland den Aufzug verließen, erwartete Cleary sie vor der Fahrstuhltür. »Habt ihr mal eine Minute? Es gibt ein paar aktuelle Entwicklungen, und dann ist da noch was, das ihr euch anschauen solltet.«
Er brachte sie in das kleine Sitzungszimmer und machte die Tür zu.
»Was hast du rausbekommen?«
»’ne Menge«, erwiderte Cleary. »Zunächst mal: Quinn besitzt kein Auto und hat auch keines gemietet. Zumindest nicht in Portland. Und mit dem Taxi ist sie auch nicht gefahren. Ihre Mutter hat einen 97er Subaru Outback, aber den hat sie nicht benutzt. Er steht immer noch unter einem dicken Schneehaufen auf einem Parkplatz in der India Street. Sie könnte sich von Bekannten ein Auto geliehen haben, aber das ist reine Spekulation.«
»Was ist mit dem Flugplatz und den Bahnhöfen?«
»Der Flughafen ist bis auf Weiteres gesperrt, und Quinn ist weder dort noch am Bahnhof oder am Busbahnhof gesehen worden.«
McCabe spitzte die Lippen. »Ist bei der Befragung der Fährenbesatzungen irgendwas rausgekommen?«
»Das ist die gute Nachricht. Den BMW hat niemand gesehen, aber Abby Quinn schon.«
»Und weiter?«
»Einer der Deckhelfer hat gesagt, dass sie gestern Abend mit der letzten Fähre aufs Festland gefahren ist.« Cleary setzte sich vor den Fernseher und rückte den beiden ein paar Stühle zurecht. Auf dem Standbild des Geräts war ein nervös wirkender Mann Mitte zwanzig zu sehen. »Abfahrt von Harts Island um 23.55 Uhr. Ankunft in Portland um 0.15 Uhr.«
23.55 Uhr. Die Fähre, die McCabe aus der Kombüse der Francis R. Mangini heraus beobachtet hatte, als die beiden Schiffe sich in der Mitte der Bucht begegnet waren.
»Ich habe die ganzen Dienstpläne durchgeackert und jeden einzelnen Deckhelfer befragt.« Er nickte in Richtung Bildschirm. »Und der hier hat mir erzählt, dass er Quinn gesehen hat.«
»Wer ist das?«, wollte Maggie wissen.
»Er heißt Bobby Howser«, erwiderte Cleary. »Er und Quinn kennen sich. Sie waren Klassenkameraden auf der Portland High. Zuerst hat er geleugnet, dass er sie gesehen hat, aber irgendwas an seinem Verhalten war komisch … na ja, es war jedenfalls ziemlich offensichtlich, dass er lügt. Also habe ich ihn mitgenommen, ihn in ein Verhörzimmer gesteckt und ihn eine Weile bearbeitet.« Cleary lächelte. »Ihr wisst schon. Guter Bulle, böser Bulle.«
Maggie lächelte. »Ach ja? Und welcher warst du?«
»Beide.« Cleary erwiderte ihr Lächeln. In rhythmischen Abständen schlug er die rechte Faust in die linke Handfläche.
»Du hast ihm doch nicht etwa wehgetan, oder, Brian?«, fragte McCabe. Sein Tonfall war scherzhaft, aber die Frage war ernst gemeint. Cleary hatte Potenzial, war aber leicht reizbar und der geborene Raufbold. McCabe wusste, dass er bei ihm die Zügel manchmal straff anziehen musste.
»Ach was, so was würd ich doch niemals machen.«
»Da bin ich aber froh. Wäre doch schade, wenn ich eine so vielversprechende Karriere vorzeitig beenden müsste. Was hat Howser dir erzählt?«
»Der Bursche hatte ziemlich die Hosen voll, als er kapiert hat, dass das Ganze kein Spiel ist. Er hat noch ungefähr fünf Minuten durchgehalten, dann ist er mit der Geschichte rausgeplatzt.« Cleary drückte auf PLAY, und das Standbild erwachte zum Leben. Howser saß am Tisch des kleinen Verhörzimmers am Ende des Flurs. Sein Blick flatterte in alle möglichen Richtungen, nur nicht da hin, wo Cleary sitzen musste. Eine Hand kam ins Bild und schob ein Foto über den Tisch. Clearys Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Also gut, Bobby, ich stelle Ihnen jetzt noch einmal die gleiche Frage wie unten am Anleger. Haben Sie diese Frau schon einmal auf der Fähre gesehen?«
Howser warf einen hastigen Blick auf das Foto und sah dann schnell wieder weg. »Nein. Na ja, doch, aber nicht in letzter Zeit.«
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
Howser schaute sich nervös um. »Kann mich nicht mehr erinnern.«
»Aber Sie kennen sie?«
»Ja.«
»Wie heißt sie?«
Howser gab nicht sofort eine Antwort. Urplötzlich ließ Cleary seine Hand auf den Tisch krachen. Howser zuckte zusammen, als der Schlag wie ein Gewehrschuss durch den Raum hallte. »Bobby. Ich habe Sie etwas gefragt«, sagte Cleary in gemäßigtem, beinahe sanftem, aber dennoch bedrohlichem Tonfall, »und ich erwarte eine Antwort.«
»Quinn. Sie heißt Abby Quinn.«
»Abby Quinn. Das ist schon besser. Wann haben Sie Abby Quinn das letzte Mal gesehen?«
Howser machte die Augen zu, holte tief Luft. Dann schlug er die Augen wieder auf und blickte Cleary zum ersten Mal überhaupt direkt an. »Gestern Abend«, sagte er. »Da ist sie dreißig Sekunden vor der Abfahrt auf die Fünf-vor-zwölf-Fähre gesprungen. Wir hatten fast keine Passagiere. Um diese Jahreszeit fährt eigentlich kaum jemand mit dem späten Boot.«
»Wie lange kennen Sie Abby Quinn schon?«
»Mein ganzes Leben lang. Wir kommen beide von der Insel. Sind da aufgewachsen. Sie wohnt immer noch da. Ich hab jetzt eine Wohnung in der Stadt.«
»Haben Sie gestern Abend mit ihr geredet?«
»Wie gesagt, sie ist in der letzten Minute noch aufgesprungen. Dann kam sie sofort zu mir gerannt.« Howser unterbrach sich. »Sie wissen, dass Abby verrückt ist, oder?«
»Nein«, erwiderte Cleary, »das wusste ich nicht. Was meinen Sie denn mit verrückt?«
Howser zuckte mit den Schultern. »Manchmal ist sie echt seltsam drauf. Macht seltsame Sachen, redet seltsames Zeug. Und immer wieder mal stecken sie sie für eine Weile in dieses Irrenhaus in Gorham.«
»Winter Haven?«
»Genau, Winter Haven.«
»Hat sie denn am Freitag auch seltsame Sachen gemacht?«
Howser nickte. »Irgendwie schon. Als sie auf die Fähre zugerannt ist, da hatte sie so eine beknackte Skimaske auf. Aber ich wusste trotzdem, dass es Abby war.«
»Wie denn das? Ich denke, sie hat eine Maske getragen?«
»Weiß auch nich. Die Figur. Die Stimme. Wie sie sich bewegt und geredet hat. Wie gesagt, ich kenn sie ja schon mein ganzes Leben lang.«
Das ergab alles Sinn. Es war nicht besonders schwierig, jemanden, den man gut genug kannte, trotz Maske zu erkennen. Womit die naheliegende Frage weiterhin im Raum stand. Kannte der Killer Abby? Und wenn ja, wie gut? McCabe brauchte diesen Gedanken nicht auszusprechen. Er wusste, dass Maggie dasselbe dachte. Auf dem Bildschirm war Howser immer noch am Reden.
»Jedenfalls zieht sie die Maske ab und sagt, dass jemand hinter ihr her ist. Sie sieht ganz aufgeregt aus, also frage ich sie, wer. Sie sagt, der TOD. Genau das hat sie gesagt. Der TOD. Ich meine, das ist doch ziemlich seltsam, oder etwa nicht? Dann schiebt sie ihre Nase praktisch einen Zentimeter vor meine und sagt, dass ich ihr versprechen muss, niemandem zu erzählen, dass ich sie gesehen habe. Ich soll es schwören. Auf einen ganzen Stapel Bibeln. Hand aufs Herz und großes Indianerehrenwort. Als wären wir in der dritten Klasse oder so. ›Schwör, dass du’s niemandem erzählst‹, hat sie gesagt. ›Los, mach schon, schwör’s.‹ Sie hat darauf bestanden, dass ich es ausspreche, Wort für Wort: ›Ich schwöre, dass ich’s niemandem erzähle.‹«
»Und das haben Sie getan? Es Wort für Wort geschworen?«
»Ja.«
»Was, genau, haben Sie geschworen?«
»Hab ich doch gerade gesagt.«
»Sagen Sie’s noch mal.«
»Dass ich niemandem verrate, dass ich sie gesehen hab’. Nicht mal den Bullen, hat sie gesagt. Sonst würde der TOD sie holen kommen. Als wär der TOD irgend so ein Typ, den sie kennt.«
McCabe fragte sich, ob er tatsächlich ein Typ war, den sie kannte. Doch Cleary stellte eine andere Frage: »Was hatten Sie für ein Gefühl dabei?«
Bobby Howser senkte den Blick. Sagte mit leiser Stimme: »Ich kann Ihnen sagen, wenn Abby so ausflippt, dann kriege ich eine Heidenangst. Sie hat schon ein paarmal versucht sich umzubringen, verstehen Sie? Früher war sie nicht so. Damals in der Mittelstufe, da waren wir ziemlich gut befreundet. Und auf der Highschool auch. Da war sie ganz normal. Wie alle anderen.«
»Und jetzt? Wie ist sie jetzt?«
Howser warf Cleary einen frustrierten Blick zu, als hätte er es langsam satt, immer wieder das Gleiche zu erzählen. »Hab ich doch schon gesagt. Verrückt. Man weiß überhaupt nicht, wo das ganze Zeug, das sie von sich gibt, eigentlich herkommt.«
»Okay, Sie haben also geschworen, dass Sie nichts verraten. Haben Sie mich deshalb angelogen, als ich Sie gefragt habe, ob Sie sie gesehen haben?«
Bobby senkte beschämt den Kopf. »Ja.«
Clearys Stimme wurde sanfter. »Ist schon in Ordnung. Sie haben alles richtig gemacht. Sie braucht Hilfe, und wir versuchen ihr zu helfen.«
Bobby blickte auf, und ein Hoffnungsschimmer huschte über sein Gesicht.
»Und was ist dann passiert?«, wollte Cleary wissen.
Howser zuckte mit den Schultern. »Sie hat sich im Klo eingeschlossen und ist während der ganzen Überfahrt da dringeblieben. Als wir in Portland angelegt haben, musste ich an die Tür klopfen, damit sie Bescheid weiß. Sie kam raus, hat sich diese bescheuerte Maske aufgesetzt und ist in der Dunkelheit verschwunden.«
»Was hatte sie sonst noch an?«
»Laufkleidung. Eine schwarze Nike-Jacke. Nike-Schuhe. Air Pegasus. Die sind mir aufgefallen, weil ich die gleichen hab’. Außerdem hatte sie noch einen kleinen Rucksack dabei. Und eine Gürteltasche.«
Cleary drückte auf STOP. Howser erstarrte erneut zum Standbild. »Das ist mehr oder weniger alles«, sagte er. »Ich habe dem Jungen gesagt, dass alles, was er mir erzählt hat, streng vertraulich bleiben muss. Dass er sich richtig tief in die Scheiße reitet, wenn er irgendjemandem davon erzählt. Er hat versprochen, dass er den Mund hält. Ich habe ihn gezwungen zu schwören.«
»Hand aufs Herz und Indianerehrenwort?«, fragte McCabe. Cleary grinste.
»Und er hatte keine Ahnung, wo sie hinwollte?«, hakte Maggie nach.
»Nein. Sie ist, offenbar ohne ein Wort zu sagen, in die Nacht hinausgerannt. Und puff, weg war sie. Einfach so.«
In gewisser Weise musste man es als Fortschritt betrachten, dachte McCabe. Sie wussten jetzt sicher, dass Abby auf dem Festland war. Sie wussten, dass sie noch lebte, oder zumindest, dass sie gestern um Mitternacht noch gelebt hatte. Sie wussten, welche Kleidung sie trug. Die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass sie sich jetzt in einem sehr viel größeren Gebiet aufhielt, in dem sie verloren gehen konnte. Oder umgebracht werden. Oder erfrieren. Abby zu finden war jetzt die vordringlichste Aufgabe. Für die Polizei genauso wie für den Killer. McCabe besaß den Vorteil, über größere Ressourcen zu verfügen. Ein Vorteil, der allerdings nichts wert war, wenn der Killer sie gut kannte. Wenn er wusste, mit wem sie befreundet war. An wen sie sich vermutlich wenden würde. Es würde ein sehr schwieriger Balanceakt werden. Da streckte Eddie Fraser den Kopf zur Tür herein. »Wir haben da was auf einem Video vom Monument Square entdeckt, das solltet ihr euch mal anschauen.«
Cleary schaltete den Fernseher aus und sagte, er werde erst noch Abbys Beschreibung an die Streifenwagenbesatzungen weitergeben. McCabe und Maggie folgten Eddie in Starbucks’ Büroabteil. Es war kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank, aber irgendwie quetschten sie sich alle hinein. An den Wänden reihte sich ein hochmodernes elektronisches Gerät ans andere. Der junge Somali empfing sie mit einem breiten Grinsen. »Sergeant McCabe«, rief er. »Ich glaube, wir haben hier was Gutes entdeckt.« Starbucks war erst seit sieben Jahren in Amerika, aber sein Englisch war so gut wie akzentfrei. Nur gelegentlich verriet er sich durch eine verschnörkelte Satzkonstruktion oder eine besonders förmliche Wortwahl. »Ich habe Detective Fraser geholfen, die Überwachungsvideos aus dem Foyer vom Monument Square Nummer zehn durchzusehen. Die vom Donnerstag, dem Zweiundzwanzigsten, und Freitag, dem Dreiundzwanzigsten.«
»An beiden Abenden haben die Reinigungstrupps das Gebäude betreten und nach Abschluss ihrer Arbeit wieder verlassen«, sagte Fraser.
»Das hier ist das Foyer kurz vor Ankunft der Putzleute am Donnerstag«, sagte Starbucks. Zwei Monitore standen nebeneinander auf einem Regal knapp oberhalb von Starbucks’ Kopf. Er dirigierte ihre Blicke zu dem linken. »Wie Sie sehen, besitzt die Kamera ein Weitwinkelobjektiv und ist in einer Höhe von drei Metern zwanzig über dem Boden befestigt.« Am unteren Bildrand waren das Datum und die Uhrzeit zu erkennen: 22/12/05 – 18:05:40. Die Drehtür am Ein- und Ausgang sowie die beiden normalen Türen links und rechts davon waren klar und deutlich zu erkennen. Genau wie die Stahltür, die laut Randall Jackson hinunter in die Privatgarage der Anwälte führte. Starbucks drückte auf PLAY, und McCabe sah einen ganzen Schwarm Menschen zur linken Tür hereinkommen. Aufgrund des Winkels bekam er hauptsächlich Köpfe von oben und kaum Gesichter zu sehen. Sie drangen nur wenige Meter weit in die Lobby vor, dann wandten sie sich geschlossen ab, wie ein Fischschwarm, und verließen das Foyer durch die Garagentür wieder. »Wo gehen die hin?«, wollte McCabe wissen.
»Da unten befindet sich ein Lagerraum, wo die Putzsachen lagern. Außerdem gibt es da eine Toilette und eine kleine Umkleidekabine, wo sie während der Arbeit ihre Jacken und Taschen lassen können.«
»Das ist aber auch der Eingang zur Anwaltsgarage, stimmt’s?«
»Ja, genau. Ich war unten und hab mich mal ein bisschen umgesehen«, meinte Fraser. »Man geht eine Treppe runter und kommt in einen kurzen Korridor. Links sind dann der Lagerraum und die Umkleide. Geradeaus geht es zur Toilette und nach rechts in die Garage. Am Ende des Korridors gibt es noch einen Lastenaufzug, mit dem die Putzkolonnen und die Hausmeister jedes beliebige Stockwerk erreichen können. Ein Notausgang ist auch da. Er führt direkt auf die Straße und kann von außen nicht geöffnet werden. Wird die Tür von innen aufgemacht, löst das einen Alarm aus.«
»Dann könnte unser Killer also theoretisch durch die Stahltür im Foyer in den Keller und von dort an jede beliebige Stelle im Gebäude gelangt sein?«
»Genau«, erwiderte Fraser. »Die Frage ist aber, wie er wieder rausgekommen ist. Ich habe den Notausgang kontrolliert. Die Alarmanlage war eingeschaltet, und sie funktioniert auch. Die einzig möglichen Ausgänge sind demnach oben durch das Foyer oder durch die Garage. Aber um das Garagentor zu öffnen, braucht man eine Schlüsselkarte.« Ogden hatte natürlich eine solche Karte. Und Lainie auch. Genau wie alle anderen Rechtsanwälte von Palmer Milliken, 192 insgesamt. Und jeder, der im Lastenaufzug bis in die Garage hinunterfuhr, blieb für die Videoüberwachung unsichtbar. Er fragte Maggie, ob Jacobi in Goffs Wagen eine Schlüsselkarte gefunden hatte. Hatte er nicht. »Schaut euch mal den Rest des Videos an«, sagte Fraser. »Starbucks hat da was entdeckt, was mir beim ersten Mal gar nicht aufgefallen ist.«
»Das da sind die Putzleute bei ihrer Ankunft am Freitagabend, also vierundzwanzig Stunden später«, sagte Starbucks. McCabe und Maggie sahen jetzt, wie auf dem rechten Monitor praktisch eine exakte Wiederholung der Ereignisse vom Donnerstagabend ablief. Die Menschentraube traf nicht um 18.05 Uhr, sondern um 18.08 Uhr ein. Aber alles andere war genau gleich. Sie kamen zur gleichen Tür herein. Wandten sich an der gleichen Stelle nach rechts und verließen das Foyer durch die gleiche Stahltür.
»Habt ihr den Unterschied bemerkt?«, wollte Fraser wissen.
»Nein.« Wenn es einen Unterschied gab, war er für McCabe nicht zu erkennen gewesen. Wenigstens nicht beim ersten Mal. »Spiel den Donnerstag noch mal ab«, sagte er. Starbucks gehorchte. »Okay, gleich mal anhalten, und zwar … jetzt.« Starbucks hielt das Video an der Stelle an, wo die Putzkolonne sich vor der Stahltür staute. »Okay, und jetzt den Freitag, und halt bitte an genau der gleichen Stelle an.«
Dieses Mal fiel es ihm auf. Der zusätzliche Mann. Zumindest sah die Gestalt aufgrund ihrer Größe und ihrer Bewegungen aus wie ein Mann. Aber mit dem langen, dunklen Mantel und der Kapuze ließ sich es nicht eindeutig sagen. Am Donnerstag kamen sechs Putzleute durch die Tür. Dem Anschein nach drei Männer und drei Frauen. Am Freitag waren es sieben. Solange das Grüppchen dicht beisammenstand, war die siebte Gestalt gut versteckt und für die Kamera praktisch unsichtbar. Auch auf dem Weg durch die Tür behielt Nummer sieben den Kopf unten, wandte sich von der Kamera ab und hob schützend die Hand vors Gesicht, wie ein Prominenter, der sich vor den Objektiven der Paparazzi abschirmen möchte. Keine Frage. Er wusste genau, dass es eine Kamera gab. »Hab ich dich, du Drecksack«, knurrte McCabe leise. Dann wandte er sich an Fraser: »Hast du die Reinigungsfirma schon kontaktiert?«
»Ja. Joe Maguire von der Capitol Maintenance Corporation hat mir gesagt, dass an beiden Abenden sechs Leute zum Dienst eingeteilt waren. Dieselben sechs. Maguires Sohn, Joe junior, hat sie alle mit einem Firmentransporter vor dem Gebäude abgesetzt. Darum kommen sie immer gemeinsam an. Und am Ende der Schicht hat er sie wieder abgeholt. Er hat immer nur sechs Leute im Wagen gehabt, hin und zurück. Mehr passen zusammen mit dem Fahrer gar nicht in den Transporter.«
»Dann wartet der Täter also vor der Tür, bis die Putzkolonne eintrifft, und schlüpft einfach mit ihnen ins Gebäude?«
»Danach sieht es aus«, erwiderte Fraser. »Maguire hat uns die Namen und die Kontaktdaten seiner sechs Angestellten überlassen. Sturgis ist schon unterwegs und versucht rauszukriegen, ob sich jemand an diesen Typen erinnern kann, der mit ihnen zusammen reingekommen ist.«
»Was ist mit dem Wachmann? Randall Jackson? Er könnte sein Gesicht auch gesehen haben.«
»Mit dem habe ich schon gesprochen. Ihm ist die zusätzliche Person nicht aufgefallen. Er hat nur die Putzleute registriert.«
McCabe seufzte. Er befürchtete, dass sie schon wieder in einer Sackgasse gelandet waren. »Kann ich mal sehen, wie die Putzleute am Freitag wieder gegangen sind?«
Starbucks spulte bis zu den frühen Morgenstunden vor. Die Stahltür schwang auf, die sechs Reinigungskräfte strömten ins Foyer und verließen das Gebäude. Keine Nummer sieben. Lainie Goffs mutmaßlicher Mörder hatte zwar ein-, aber nicht wieder ausgecheckt. Die Zeitangabe am Bildrand lautete 24/12/05 – 01:04:32.
»Und danach hat niemand mehr das Gebäude verlassen?«
»Nein.«
»Dann bringt er sie also in seine Gewalt, und sie fahren mit ihrem Wagen weg.«
»Sieht ganz so aus.«
»Lass uns mal die beste Aufnahme von dem Kerl raussuchen.«
Starbucks spulte zurück bis zu der Stelle, wo die Putzkolonne das Haus betrat. Dann ließ er das Video Bild für Bild vorwärtslaufen, bis er die bestmögliche Aufnahme von Putzmann Nummer sieben gefunden hatte. Sie war alles andere als gut. Er hielt den Kopf gesenkt. Schirmte mit der Hand sein Gesicht ab. Die Haare steckten unter einer Kapuze. Ein kleines Stück seines weißen Kinns, mehr war nicht zu erkennen. Starbucks zoomte näher heran, bis der Kopf den ganzen Bildschirm ausfüllte. Jetzt war das Bild so verschwommen, dass man praktisch gar nichts mehr erkennen konnte. Nur dass es sich bei der Person um einen Weißen handelte und dass er größer war als die anderen Putzleute. Alles andere war unter dem schweren Kapuzenmantel verborgen. Völlig normal bei diesem Wetter. McCabe starrte das Standbild an. Einmal angenommen, es handelte sich hier tatsächlich um den Killer – und das war immer noch lediglich eine Annahme –, dann war dies ein weiteres Indiz dafür, dass sie nicht hinter Henry Ogden her waren. Ogden hätte es nicht nötig gehabt, sich in sein Bürogebäude zu schleichen. Er war ja schon tagsüber und auch am Abend oben in den Büroräumen von Palmer Milliken gewesen. Natürlich war es denkbar, dass das Ganze eine absichtlich gelegte falsche Fährte war, um die Ermittler abzulenken. Vielleicht gehörte alles andere auch dazu. Das Bibelzitat. Die Überfahrt nach Harts. Die Leiche auf dem Anleger. Womöglich war das alles nur inszeniert, um den Verdacht in andere Richtungen zu lenken. Aber McCabe glaubte nicht daran. Wenn Ogden am Freitagabend um 18.08 Uhr noch bei der Sitzung der Teilhaber gewesen war und sich nicht in sein eigenes Gebäude geschlichen hatte, tja, dann hatte sich die Sache erledigt. Immer vorausgesetzt natürlich, dass Putzmann Nummer sieben tatsächlich der Killer war.