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»Wieso tauchen eure Leichen eigentlich immer ausgerechnet freitagabends auf? Habt ihr noch nie was von Dienstag gehört?« Maggie und McCabe hoben die Köpfe, als sie Terri Mirabitos Stimme hörten. Die stellvertretende Leiterin der bundesstaatlichen Gerichtsmedizin stand vor dem Wagen und hielt einen kleinen schwarzen Koffer in der Hand. Sie sah aus wie eine Bilderbuchärztin auf Hausbesuch. Trotz des schweren Schaffellmantels und der dazu passenden Mütze, die sie tief über ihre dunklen Locken gezogen hatte, sah McCabe sofort, dass Terri sich schick gemacht hatte. Er hatte sie, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zuvor mit Lippenstift oder Mascara gesehen, von hohen Absätzen ganz zu schweigen. Sie sah gut aus. Die beiden Kriminalpolizisten machten Platz, um ihr einen Blick in den Kofferraum zu ermöglichen.

»Hmmm. Steinhart gefroren«, sagte sie. »Das habe ich ja schon gehört. Das wird noch interessant werden.«

»Gibt es irgendeinen raffinierten Trick, um den Todeszeitpunkt festzustellen?«

»Nein. Wenn eine Leiche gleich nach dem Tod tiefgefroren wird, dann bleibt sie frisch. Als wäre der Tod erst vor fünf Minuten eingetreten. Wie bei einem Tiefkühlhühnchen.«

»Und wenn die Verwesung schon eingesetzt hat?«

»Dann hätte die Kälte den Prozess unterbrochen. Dann könnten wir zwar die Zeit zwischen dem Eintreten des Todes und dem Gefrieren abschätzen, aber den genauen Todeszeitpunkt? Keine Chance.«

»Dann könnte sie also unter Umständen schon seit Wochen tot sein?«

»Sicher. Vorausgesetzt, die Leiche ist in dieser Position im Kofferraum eingefroren, wovon ich im Augenblick ausgehe.«

»Da haben wir ja wirklich Pech.«

»Na ja, ja und nein«, meinte Terri und streifte ein Paar Latexhandschuhe über. »Die Kälte hält auch alle möglichen Spuren und Indizien in und an der Leiche frisch. Gift, falls das der Grund für ihren Tod sein sollte. Drogen. Alkohol. Ihre letzte Mahlzeit. Sperma, falls der Mörder welches hinterlassen hat.« Sie leuchtete mit einer kleinen, extrem hellen Taschenlampe in den Kofferraum und begann mit der Untersuchung der Leiche.

»Sie ist doch tot, oder?«, sagte Maggie. »Das wird jetzt nicht so was nach dem Motto: Gefrorene Leiche wiederauferstanden – hüpft vom Obduktionstisch zurück ins Leben‹?«

Terri hob belustigt den Blick. »Du meinst, wie eine Story aus irgendeinem Boulevardmagazin?«

»Ja, genau.«

»Tut mir leid, Mag. Die Dame hier hüpft ganz sicher nirgendwo mehr hin. Die ist tot.«

»Hast du schon eine Ahnung, woran sie gestorben sein könnte?«, erkundigte sich McCabe.

»Ja.« Terri hatte sich weit in den Kofferraum hineingebeugt. Mit einer Hand hob sie die Haare der unidentifizierten Toten an, während sie ihr mit der anderen auf den Nacken leuchtete. »Sieht ganz so aus, als hätte der Killer genau gewusst, was er tut. Hier. Schau dir das mal an.«

McCabe quetschte sich neben Terri. Sie deutete mit ihrem behandschuhten Finger auf eine Wunde in der kleinen Einbuchtung im Nacken der unbekannten Toten. Genau an der Stelle, wo Kopf und Hals ineinander übergehen. Eine kleine Wunde, gerade mal einen Zentimeter lang. »Daran ist sie gestorben?«, fragte er.

»Ja. Es sieht so aus, als hätte der Mörder eine schmale Klinge, vielleicht auch einen Eispickel in ihre Schädelbasis getrieben, direkt über dem Atlas, dem ersten Halswirbel. Die Spitze ist vermutlich durch das Foramen magnum in den Hirnstamm vorgedrungen.«

»Das Foramen was?«

»Das Foramen magnum. Das ist eine kleine Öffnung an der Schädelbasis, ein Durchlass für das Rückenmark, das dann in den Hirnstamm übergeht. Wenn der Täter die richtige Stelle trifft, dann trennt er das Rückenmark vom Gehirn ab. Herzfunktion und Atmung brechen sofort zusammen. Das Opfer fällt tot zu Boden.«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

»Sieht nicht so aus, als hätte sie stark geblutet.

»Er hat keine Hauptschlagader verletzt.«

»Der Tod ist sofort eingetreten?«, erkundigte sich Maggie.

»Ja. Es funktioniert wie ein Bolzenschuss ins Genick, bei dem das Rückenmark zerstört wird. Das ist eine der wenigen Verletzungen, die buchstäblich den unmittelbaren Tod zur Folge haben. Das Opfer sackt in sich zusammen wie eine Marionette.«

»Und wenn man die falsche Stelle trifft?«

»In diesem Fall ist das Ergebnis eine stark blutende und unter Umständen nicht tödliche Wunde.«

»Dann besitzt der Täter also anatomische Kenntnisse.«

»Ja. Wenn es nicht einfach nur Glück gewesen ist, dann weiß er zumindest über die Auswirkung einer solchen Verletzung Bescheid. Allerdings, wenn das Opfer bewegungsunfähig gemacht wurde, und darauf deutet doch einiges hin, dann ist es ziemlich einfach, das Messer genau an der richtigen Stelle einzustechen.«

»Und du bist sicher, dass das die Todesursache war?«

»So sicher wie eben möglich ohne Obduktion, und die kann ich erst durchführen, wenn sie aufgetaut ist. Das dauert noch mindestes drei bis vier Tage. Wahrscheinlich eher eine Woche.«

»Eine Woche? Meine Güte. Geht das nicht schneller?«, schaltete sich Maggie ein. »Wie wär’s, wenn wir sie in eine Wanne legen und unter fließendem Wasser auftauen? Das hat meine Mutter mit den Tiefkühlhühnchen immer so gemacht.«

»Bedauerlicherweise ist sie aber kein Hühnchen. Wenn wir sie zu schnell auftauen, beschädigen wir das Gewebe. Sie fängt dann außen schon an zu verwesen, während die inneren Organe noch gefroren sind. Etliche Untersuchungen sind dann gar nicht mehr möglich. Außerdem spült das Wasser unter Umständen Indizien weg, die sich am oder im Körper befinden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten.«

»Eine Woche?«

»Bis sie vollständig aufgetaut ist, ja. Wir legen sie im Labor ins Kühlfach, und bei konstanten 3,3 Grad Celsius dauert es ungefähr eine Woche. Dadurch wird der Verwesungsprozess so weit wie möglich minimiert, und wir erfahren mehr über die genaue Todesursache und den Täter. Das ein oder andere können wir aber mit Sicherheit schon deutlich feststellen.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Nun ja, die Körperoberfläche kann ich praktisch sofort untersuchen, und ihre Fingernägel kann ich auch abschneiden. Es könnte ja sein, dass sie ihren Angreifer gekratzt hat. Falls irgendwo Haare oder Speichel oder Hautzellen kleben, die nicht von ihr stammen, dann finden wir sie. Und in ungefähr einem Tag müssten ihre Gliedmaßen zumindest so beweglich sein, dass ich einen Abstrich machen und nach Spermaspuren suchen kann.« Selbst bei der Aufzählung dieser eher gruseligen Einzelheiten klang Terris Stimme fröhlich. Sie war einer der Menschen, die ihre Arbeit liebten. Den Geheimnissen der Toten auf der Spur, so hätte man es wahrscheinlich in einer dieser Wissenschaftsshows im Fernsehen formuliert. McCabe fand es ziemlich merkwürdig, dass man auf dem Gebiet der Kriminalpathologie Spaß und Befriedigung empfinden konnte, aber vermutlich war das genau der Grund, weshalb Terri so gut war.

Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu, ging in die Knie, richtete den Strahl ihrer Lampe auf das Gesicht der Unbekannten und rief dann laut: »McCabe?«

»Ja?«

»Sie hat da was im Mund.«

»Was denn?« McCabe schob sich erneut neben Terri und schaute auf die Stelle, die sie anleuchtete. Lippen und Zähne der Unbekannten waren leicht geöffnet. Hinter den Zähnen konnte er schwach etwas Weißes erkennen. Das war ihm vorhin entgangen.

»Sieht aus wie Papier«, meinte Terri.

»Ein Knebel?«, überlegte Maggie.

»Ich glaube nicht«, erwiderte McCabe. »Dann wäre es doch eher zusammengeballt. Es sieht aber gefaltet aus. Vielleicht ein Zettel? Womöglich hat der Mörder uns eine Art Botschaft hinterlassen. Kannst du es rausziehen?«

»Ich weiß nicht. Ihr Kiefer ist festgefroren. Da sind höchstens ein paar Millimeter Platz. Ich werd mal versuchen, es mit einer Pinzette irgendwie rauszufummeln.«

»Aber müsste das Papier nicht auch gefroren sein?«, wollte Maggie wissen.

»Dazu müsste der Mund sehr feucht gewesen sein, als der Zettel reingesteckt wurde, aber vielleicht war er das auch. Durch Speichel oder, falls die Verwesung bereits eingesetzt hatte, durch Leichenflüssigkeit.«

Terri wühlte in ihrer Tasche herum und holte ein Instrument hervor, das wie eine sehr feine Pinzette mit winzigen, stumpfen Zinken an den Enden aussah. Sie schob die Enden zwischen die leicht geöffneten Lippen der Unbekannten, bekam das Papier zu fassen und zog vorsichtig daran. Es rührte sich nicht von der Stelle. »Festgefroren. Mal sehen, ob ich es irgendwie freibekomme.«

Drei, vier Minuten lang zog und drückte sie vorsichtig daran herum, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Endlich ließ das Papierstückchen sich bewegen. »Ich glaube, jetzt ist es frei. Mal sehen, ob ich es rausziehen kann, ohne dass es reißt.«

Während sie den gefrorenen Kiefer der unbekannten Toten mit der linken Hand festhielt, manövrierte sie den Zettel mit äußerster Vorsicht zwischen den Zähnen hindurch. Schließlich hatte sie es geschafft.

»Kannst du ihn auseinanderfalten?«, wollte McCabe wissen. »Lass uns mal sehen, was draufsteht. Falls überhaupt etwas draufsteht.«

»Wir müssen ihn zuerst ein bisschen erwärmen«, sagte Terri.

Zwischen den Enden ihrer Pinzette klemmte ein mehrmals gefalteter Zettel, wie von einem Notizblock. Das Papier war ganz farblos, vermutlich durch die Flüssigkeit im Mund.

»Hier, Doc, legen Sie’s da rein.« Bill Jacobi streckte ihr eine kleine Edelstahlschale entgegen. »Wir wärmen es im Transporter auf. Dann können wir’s uns vielleicht gleich ein bisschen genauer anschauen.«

Terri ließ das zusammengefaltete Blatt Papier in die Schale fallen. Dann gingen sie gemeinsam zum Transporter der Spurensicherung. Es dauerte nur eine Minute, dann hatte Bill Jacobi das Papier so weit erwärmt, dass es sich auseinanderfalten ließ. Er strich es auf einem Tablett glatt und fotografierte es von vorne und von hinten mit einer Digitalkamera.

McCabe betrachtete den Zettel. Es stand so gut wie nichts drauf, abgesehen von einem Wort und zwei Zahlen in der Mitte.

Amos 9,10

»Aus der Bibel?«, sagte Maggie fragend.

»Ja«, antwortete McCabe. »Leider. Ich fürchte fast, das bedeutet nichts Gutes.«

Maggie musterte ihn aufmerksam. »Wieso? Was steht denn da? Wer ist Amos?«

»Das ist einer der kleinen Propheten des Alten Testaments. Das Buch Amos. Kapitel neun, Vers zehn.« McCabe machte die Augen zu und versetzte sich zurück in den Religionsunterricht in der sechsten Klasse in St. Barnabas. Als er, Michael, elf Jahre alt, der seltsame Vogel, allein und peinlich berührt vor der ganzen Klasse stand. Und neben ihm stand Schwester Mary Joseph, milde auf ihn herablächelnd, und pries die Gabe des fotografischen Gedächtnisses, die Gott ihrem jungen Schüler mitgegeben hatte. Um diese Gabe zu demonstrieren, ließ sie ihn Passage für Passage aus irgendwelchen obskuren Büchern der Bibel aufsagen. Ihre persönliche Version von Trivial Pursuit. Ob es ihr gelingen würde, ihn sprachlos zu machen? Nein. Nicht einmal mit dem Buch Amos. Siebenundzwanzig Jahre später, hier auf dem kalten, dunklen Portland Fish Pier, konnte McCabe noch jedes einzelne Wort wiedergeben. »Es sieht so aus, als hätte da jemand unser Opfer bestraft, weil sie eine Sünderin war.«

»Was steht denn da?«, wollte Maggie erneut wissen.

»Alle Sünder in meinem Volk sollen durchs Schwert sterben, die da sagen: Es wird das Unglück nicht so nahe sein noch uns begegnen. Das ist das große Thema des Propheten Amos. Dass Gott die Israeliten für ihre Sünden bestrafen will.«

»Was denn für Sünden.«

»Das Übliche. Gier, Korruption, Unterdrückung der Armen.«

»Da ist von allen Sündern die Rede – es könnten also noch weitere folgen?«

»Na ja, vielleicht war sie ja die einzige Sünderin, die er bestrafen wollte, aber ich würde mich eher nicht darauf verlassen.«

Jacobi starrte McCabe an. »Das Buch Amos? Kapitel neun? Vers zehn? Dass du ein ziemlich gutes Gedächtnis hast, war mir ja klar, aber wie, zum Teufel, kannst du denn so was wissen?«

»Vertrau ihm, Bill. Er weiß es«, meinte Maggie.

»Kennst du die ganze Bibel auswendig?«

»Nein. Nur die Stellen, die wir in der Schule gelernt haben.« Er gab Terri den Zettel zurück.

Sie warf einen Blick darauf und meinte achselzuckend: »Ich frage mich, für welche Sünden er sie bestraft hat.«

»Die Sünden des Fleisches, nehme ich an. Das ist ein weit verbreitetes Syndrom bei solchen Irren, angefangen bei Jack the Ripper bis hin zu diesem Robert Picton, den sie erst kürzlich in Vancouver geschnappt haben.«

»Aber diese Typen hatten es auf Prostituierte abgesehen«, entgegnete Maggie. »Elaine Goff war aber Rechtsanwältin. Und ja, McCabe«, sie blickte ihm direkt in die Augen, »da gibt es einen Unterschied.«

Er zuckte lächelnd die Schultern.

»Bill, ich möchte, dass die Leiche so schnell wie möglich nach Augusta gebracht wird«, sagte Terri zu Jacobi. »Was meinen Sie, wie lange werden Sie brauchen, bis Sie sie aus dem Kofferraum rausgeschält haben?«

»Wenn wir hier fertig sind, schleppen wir den BMW in die 109. Wahrscheinlich müssen wir den Wagen im Endeffekt um sie herum aufschneiden. Das wird ein paar Stunden dauern.«

»Aber Sie können sie heute Abend noch nach Augusta schaffen?«

»Ja, ich denke schon.«

»Okay, dann rufe ich mal José Guerrera an, damit er zur Stelle ist, um sie in Empfang zu nehmen.« Guerrera war Terris Laborassistent.

Joe Vodnick wirkte aus der Nähe noch gewaltiger als aus der Ferne.

»Sie heißen Joe, stimmt’s?«

»Ja, Sir, Sergeant.«

McCabe musterte ihn von oben bis unten. Oder eher von unten nach oben. »Haben Sie mal Football gespielt?«

Vodnick grinste. »Ja, genau. Ist schon ein paar Jahre her. Bei den University of Maine Black Bears und als Defensive End in der Landesauswahl. Zweimal. 2001 und 2002.«

»Ich glaube, ich hab Sie mal spielen sehen. Sie hatten ein paar ziemlich gute Züge drauf.« Das war geflunkert. McCabe hatte in seinem ganzen Leben nur ein Spiel der University of Maine gesehen, und das war etliche Jahre nach Vodnicks Abschluss gewesen. Aber der Hüne schien sich über das Kompliment zu freuen, und nichts anderes hatte McCabe schließlich bezweckt.

»Ja. Für meine Größe war ich ganz schön schnell.«

McCabe lächelte Vodnick an, legte ihm den Arm um die massive Schulter und lenkte ihn von den restlichen Polizisten weg auf die andere Seite des Anlegers. »Joe, wir müssen uns miteinander unterhalten«, sagte er mit leiser, freundlicher Stimme. »Erzählen Sie mir mal, wie das heute Abend genau abgelaufen ist.«

»Genau so, wie ich’s Detective Savage erzählt habe. Ich war gerade im Old Port auf Streife. War nicht viel los. Zumindest nicht auf der Straße. Viel zu kalt dafür. Jedenfalls, plötzlich kriege ich einen Funkspruch. Die Zentrale sagt, ich soll mir mal einen Wagen ansehen, der am Ende des Fish Pier im Halteverbot steht.« Auch der Rest von Vodnicks Schilderung entsprach ziemlich genau dem, was Maggie bereits berichtet hatte.

Als er fertig war, nickte McCabe nachdenklich mit dem Kopf. »Wieso haben Sie den Kofferraum aufgemacht?«

»Wieso?«

»Ja, genau. Wieso. Sie wissen schon. Hinreichender Verdacht?«

Vodnick meinte achselzuckend: »Das Auto war nicht abgeschlossen. Die Schlüssel steckten. Ist mir einfach seltsam vorgekommen, dass jemand ein Vierzig-Riesen-Auto einfach so rumstehen lässt. Zuerst hab ich gedacht, dass jemand den Wagen für eine Spritztour geklaut und dann einfach hier abgestellt hat, aber dann hab ich nachgesehen, und das war’s nicht.«

»Aber Sie haben doch bestimmt den kleinen Plastikbeutel mit dem weißen Pulver unter dem Fahrersitz bemerkt, hab ich recht?«

Vodnick zögerte. »Weißes Pulver?« Er schüttelte den Kopf.

McCabes Blick bohrte sich in die Augen seines groß gewachsenen Gegenübers.

»Sie erinnern sich doch sicher, Joe. Der kleine Plastikbeutel mit dem weißen Pulver, der jetzt bei den anderen Indizien im Transporter liegt. Das war doch der Anlass, weshalb Sie den Kofferraum überhaupt aufgemacht haben, hab ich recht?«

Vodnick zögerte erneut. Doch dann, als die Erkenntnis ihm langsam dämmerte, nickte er bedächtig und sagte: »Dieser kleine Plastikbeutel. Unter dem Fahrersitz? Der meiner Einschätzung nach unter Umständen eine illegale Substanz enthielt?«

McCabe nickte ebenfalls. »Ganz genau der. Was haben Sie denn gemacht, nachdem Sie ihn entdeckt hatten?«

»Naja, ich hab gedacht, ich mach lieber mal den Kofferraum auf, falls da noch mehr illegale Substanzen drin sind.«

»Und? Haben Sie etwas gefunden?«

»Nein. Nur die weibliche Leiche.«

»Und bisher haben Sie mit niemandem darüber gesprochen?«

»Nur mit Detective Savage.«

»Mit Ihren Kumpels da drüben nicht?«

»Nein. Mit niemandem sonst.«

In Vodnicks Antwort lag eine solch kindliche Ernsthaftigkeit, dass McCabe der Versuchung widerstehen musste, den Arm auszustrecken und dem hünenhaften Polizeibeamten über den Kopf zu streicheln. Stattdessen entschied er sich für einen männlichen Schlag auf die Schulter. »Prima. Gut so. Wo ist Hester jetzt?«

»Sitzt in seinem Büro und wärmt sich den Hintern.« Vodnick deutete auf ein paar hell erleuchtete Fenster im ersten Stock des Gebäudes, das am dichtesten an der Kante des Anlegers stand. »Ich hab gesagt, er soll dableiben, bis Sie mit ihm geredet haben.«

»Was weiß er schon?«

»Von der Leiche hab ich ihm nichts gesagt, aber er müsste schon taub, blind und dämlich sein, wenn er nicht irgendwas mitbekommen hätte.«

»Also gut, dann sage ich ihm jetzt, dass wir uns in der 109 mit ihm unterhalten wollen. Anschließend bringen Sie ihn in die Stadt, nehmen seine Fingerabdrücke und setzen ihn in eines der Verhörzimmer im dritten Stock. Alles klar?«

»Alles klar.«

McCabe klopfte ihm noch einmal auf die Schulter, drehte sich um und ging auf das betreffende Gebäude zu. Maggie schloss sich ihm an. »Alles geregelt?«, erkundigte sie sich.

»Alles geregelt.«

»Gut.«

Ein kleines Schild bezeichnete die dreigeschossige Aluminiumkiste als THE MARINE TRADE CENTER, 2 PORTLAND FISH PIER. Sie nahmen die Treppe in den ersten Stock und entdeckten eine Tür mit der Aufschrift HESTER ASSOCIATES, MARINE AND GENERAL INSURANCE auf der Milchglasscheibe. Dahinter verbarg sich ein Ein-Zimmer-Büro. Keine dreißig Quadratmeter groß. Doug Hester saß an seinem Schreibtisch, nippte an einer Tasse Kaffee und beobachtete, was sich draußen abspielte. Er machte keinen besonders fröhlichen Eindruck. Wahrscheinlich hätte er seinen Freitagabend sehr viel lieber irgendwo anders verbracht. Das war schon in Ordnung so. McCabe nämlich auch. Hester war ein dicklicher, kleiner Kerl, vielleicht eins achtundsechzig groß. McCabe schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Die rötlich braunen Haare hatte er in dem vergeblichen Versuch, seine Teilglatze zu verbergen, quer über den Schädel gekämmt.

»Mr. Hester?«, sagte Maggie. Hester sah her. »Ich bin Detective Margaret Savage. Das hier ist Detective Sergeant Michael McCabe. Wir führen die Ermittlungen durch und möchten Sie bitten, uns zur Polizeizentrale zu begleiten, damit wir Ihre Aussagen zu diesem Zwischenfall noch einmal gemeinsam durchgehen können.«

»Ist das denn wirklich nötig? Ich hab doch schon dem anderen Polizisten, diesem großen, alles gesagt, was ich weiß. Und das ist ja nicht mal besonders viel. Heute hat meine Schwägerin Geburtstag. Wir haben ein Dutzend Leute zu uns eingeladen. Wahrscheinlich sind die mittlerweile schon alle da.«

»Das tut mir leid«, sagte McCabe, »aber Ihre Schwägerin wird bestimmt Verständnis haben. Im Kofferraum des Wagens wurde eine tote Frau gefunden.«

»Eine Leiche?«

»Ja.«

Hester wurde blass. »Mein Gott. Die Vorstellung, dass da seit zwei Tagen eine Leiche gelegen hat. Wie ist sie denn in den Kofferraum gekommen?«

»Genau das versuchen wir herauszufinden.«

»Mein Gott, warum, zur Hölle, stellt denn jemand ein Auto mit einer Leiche auf dem Anleger ab?«

»Das wissen wir nicht. Aber wie Detective Savage bereits gesagt hat, möchten wir Sie bitten, uns in die Middle Street zu begleiten und uns alles zu sagen, was Sie wissen.«

Hester schüttelte den Kopf. Er konnte es offenbar einfach nicht fassen. »Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen könnte.«

»Wenn wir das Ganze noch einmal durchgehen, dann fallen Ihnen vielleicht Sachen ein, die Sie im Gespräch mit Officer Vodnick noch nicht für wichtig gehalten haben. Oder die Ihnen gar nicht bewusst waren.« Maggie schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. »Und da Sie das Auto angefasst haben, müssen wir sowieso Ihre Fingerabdrücke nehmen. Es sei denn, Sie hätten Handschuhe getragen.«

»Nein, hab ich nicht. Ich bin ja bloß nach unten gelaufen, um mir den Wagen mal anzuschauen. Ich hatte nicht mal einen Mantel an.«

»Also gut. Officer Vodnick bringt Sie in die Stadt. Es dürfte nicht allzu lange dauern.«

»Kann ich nicht meinen eigenen Wagen nehmen?«

»Uns wäre es lieber, wenn Sie mit ihm fahren.«

»Na gut«, meinte Hester nervös. »Aber dann müssen Sie meiner Frau erklären, wieso ich nicht zur Geburtstagsparty ihrer Schwester kommen kann. Die wird ganz schön sauer sein.«

Angstschrei: Thriller
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