22
»Sie sind doch ihr Therapeut«, sagte McCabe. »Sie wissen, wie sie tickt. Falls jemand eine Ahnung hat, wo Abby sich vor einem Killer verstecken würde, dann doch wahrscheinlich Sie, hab ich recht?«
Wolfe schüttelte ratlos den Kopf. »Meine Vermutungen kennen Sie ja bereits.«
»Kelly?«
»Ja.«
»Er sagt, er weiß nicht, wo sie ist.«
»Haben Sie das Haus durchsucht?«
»Wollen Sie damit sagen, dass Kelly lügt?«
»Ich will damit nur sagen, dass Kelly unberechenbar ist. Sobald man zu wissen glaubt, wer oder was John Kelly ist, kommt der Punkt, an dem man seine Meinung noch einmal ganz genau überdenken muss.«
»Aber haben Sie Abby nicht selbst bei Kelly untergebracht?«
»Ja.«
»Warum? Ich dachte, das Sanctuary House sei eigentlich eine Anlaufstelle für sexuell missbrauchte Ausreißer? In der Regel Teenager. Aber Abby ist weder missbraucht worden, noch ist sie ein Teenager.«
»Mit beidem haben Sie recht. Aber damals wollte ich sie aus Winter Haven wegholen. Es ging ihr gut. Sie nahm ihre Medikamente. Die Stimmen haben sich ruhig verhalten …«
»Die Stimmen?«
»Ja. Abby hört Stimmen. Akustische Halluzinationen. Nichts Ungewöhnliches bei einer Schizophrenie-Patientin. Aber damals hatte sie sie unter Kontrolle. Da keine der Reha-Einrichtungen, mit denen ich sonst zusammenarbeite, einen Platz frei hatte, habe ich Kelly angerufen und ihn überredet, Abby als Hilfskraft zu beschäftigen, als eine Art unbezahlte Praktikantin oder große Schwester. Ich konnte ihn überzeugen, dass ihre Krankheit kein Hindernis darstellt. Und ich dachte, dass es Abby guttun würde, ein bisschen Verantwortung zu übernehmen. Dass es ihr Selbstbewusstsein stärken würde. Ihre Selbstachtung.«
»Hat das geklappt?«
»Ja. Etliche Monate lang sogar ausgesprochen gut. Abby war stolz auf das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wurde. Vor allem von Kelly. Sie hat hart gearbeitet und ihre Sache wirklich sehr gut gemacht.«
»Und was ist dann passiert?«
»Dann hat sie sich in Kelly verliebt.«
»Ich dachte, Kelly sei schwul.«
»Das ist er auch. Aber sie hat sich trotzdem in ihn verliebt.«
»Und dann?«
»Es hat ihr regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe ihr während unserer Sitzungen immer wieder gesagt, dass sie sich Kelly aus dem Kopf schlagen soll, aber sie meinte, dass sie ihre Gefühle nicht ändern kann. Also habe ich ihr vorgeschlagen, Sanctuary House wieder zu verlassen.«
»Was ist daraufhin geschehen?«
»Sie hat sich an Jack gewandt. Hat ihm ihre Gefühle gestanden. Hat ihm eindeutige sexuelle Angebote gemacht.«
»Das hat sie Ihnen erzählt?«
»Später, ja, aber zuerst habe ich es von Kelly erfahren. Er war besorgt um sie. Anscheinend hat er ihr gesagt, dass er sie für eine tolle junge Frau halte, ihre Gefühle aber leider unangemessen seien. Dass das Ganze eine unmögliche Situation sei und dass es für alle das Beste wäre, wenn sie Sanctuary House verließe.«
»Das klingt nach einer angemessenen Reaktion.«
»Der Meinung bin ich auch.«
»Und wie hat sie reagiert?«
»Sie hat sich verstoßen gefühlt. Erniedrigt. Er war der erste Mann, den sie seit dem Beginn ihrer Krankheit begehrt hatte, und dieser Mann hatte sie abgewiesen.«
»Hat er ihr gesagt, dass er schwul ist?«
»Ja. Ich glaube, in gewisser Weise wusste sie es auch vorher schon. So hat sie unterbewusst eine Situation herbeigeführt, die unweigerlich zur Zurückweisung führen musste.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht, um sich ihre eigene Minderwertigkeit zu demonstrieren.«
McCabe musste an das Foto von der kräftig und gesund aussehenden jungen Frau auf den Felsen am Meer denken. Nur wenige Jahre älter, als Casey jetzt war. GRRRL POWER! hatte auf ihrem Sweatshirt gestanden. Eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihm breit. Wie ungerecht das Leben sein konnte, welche Knüppel es manchen Menschen zwischen die Beine warf. Aber ihm war klar, dass er nicht viel daran ändern konnte.
Er zog das Foto aus der Tasche, das Lainie Goff umringt von anderen Menschen bei einem offiziellen Anlass zeigte, und reichte es Wolfe. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, bei welcher Gelegenheit das gemacht worden ist?«
»Ja. Das war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten des Sanctuary House. Ungefähr eine Woche vor Weihnachten. Ich war auch da. Insgesamt waren es vielleicht hundert Gäste.«
»Ich kenne Ogden und Kelly und natürlich auch Goff. Wissen Sie, wer die beiden anderen sind?«
»Die Blonde ist eine Rechtsanwältin von Palmer Milliken. Janet irgendwas. Die habe ich erst an dem Abend kennengelernt.«
»Janet Pritchard?«
»Kann sein.«
»Und der Große mit der Glatze?«
»Irgendein Geldsack aus Boston«, sagte Wolfe. »Goff hat ihn an Land gezogen und ihm einen ordentlichen Batzen Geld aus dem Kreuz geleiert, und Kelly hat die Spende dann auf der Veranstaltung entgegengenommen.«
»Wie viel?«
»Zehn Riesen.«
»Wissen Sie zufällig, wie der Geldsack heißt?«, wollte McCabe wissen.
»Ähm … ja.« Wolfe hielt inne, um nachzudenken. »Einen Augenblick bitte. Leider habe ich nicht Ihr absolutes Gedächtnis.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne. »Tom? Ted? Nein, Todd. Genau. Todd Martin? Nein, das ist ein Tennisspieler.«
»Todd Markham?«
»Markham, ja, genau.« Wolfe nickte. »Todd Markham.«
Es klingelte. Wolfe schaute auf seine Armbanduhr. »Das Essen ist da«, sagte er. »Bleiben Sie sitzen. Ich laufe schnell runter und hole es.«
Mein Gott, dachte McCabe, das Ganze wird ja richtig inzestuös. Noch einmal betrachtete er sich das Foto. Jede der darauf abgebildeten Personen hatte irgendeine Beziehung zu Goff, und alle hatten sie unter Umständen ein Motiv gehabt, sie umzubringen. Kelly wegen des Geldes. Ogden als ihr Liebhaber. Pritchard als Konkurrentin um eine Teilhaberschaft bei Palmer Milliken und vielleicht auch um Ogdens Gefühle. Und Markham? Bis jetzt wusste er nur, dass Lainie in Markhams Haus gestorben war, in seinem Bett. Vielleicht war sie ja auch seine Geliebte gewesen.
Markham war am Dienstagabend in Chicago, hatte Maggie gesagt. Zum Abendessen mit ein paar seiner Mandanten. Hat im Hyatt übernachtet. Und in Boston war er erst wieder am … Ja, wann? Er hatte sie unterbrochen, bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte. Das musste er überprüfen.
Wolfe kam mit einer braunen Papiertüte voller Essen wieder. Er stellte sie auf den Couchtisch. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich es überhaupt ansprechen sollte«, sagte er, während er diverse Behälter aus der Tüte hervorholte, »aber eine Möglichkeit haben wir noch gar nicht ins Auge gefasst.«
»Welche denn?«
»Dass Abby den Mord an Goff unter Umständen nicht nur gesehen, sondern ihn vielleicht sogar selbst begangen hat.« Wolfe zog eine Schreibtischschublade auf und holte Pappteller, Servietten und Essstäbchen heraus. »Soll ich einfach alles halb und halb aufteilen?«
»Gerne.«
Während Wolfe das Essen in zwei gleich große Portionen teilte, stellte McCabe sich ans Fenster und schaute aufs Wasser hinunter. Das Containerschiff hatte noch keine allzu großen Fortschritte gemacht, seit er hier oben in Wolfes Praxis war. Solche Frachtschiffe kamen vermutlich nur langsam voran. Er dachte über Wolfes Worte nach. War es tatsächlich denkbar, dass Abby die Mörderin war? Das hatte er nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Niemand von ihnen. Nicht Maggie. Nicht Bowman. Kein einziger seiner Mitarbeiter. Das war wahrscheinlich ziemlich dumm gewesen. Der Gedanke war so naheliegend, dass man ihn nicht einfach außer Acht lassen konnte. Sie war auf jeden Fall zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort gewesen, das war klar – sie kannte Einzelheiten, von denen sie andernfalls niemals hätte wissen können –, und sie war weggerannt. Hinaus in die Nacht und verschwunden. Sie alle waren davon ausgegangen, dass sie sich vor dem Killer verstecken wollte. Aber war es nicht genauso gut denkbar, dass sie sich vor ihnen versteckte? Vor der Polizei? Oder vielleicht vor dem, was sie getan hatte?
Wolfe hielt die Dewar’s-Flasche in die Höhe. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts davon wollen?«
McCabe drehte sich um. »Ja, ganz sicher.«
»Noch etwas Wasser vielleicht?«
»Gerne.«
Wolfe schenkte sich selbst nach und stellte eine zweite Flasche Poland Spring neben McCabes Teller.
Aber wenn Abby tatsächlich die Mörderin war, überlegte McCabe, warum war sie dann überhaupt zur Polizei gegangen? Warum hatte sie Bowman mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen? Welches Motiv konnte sie gehabt haben? Doch noch während er sich diese Fragen stellte, war ihm klar, dass sie keinerlei Relevanz hatten. Abby war verrückt. Litt an Schizophrenie. An Halluzinationen und Sinnestäuschungen. Bei jemandem wie Abby kam man mit normalen Konzepten wie Vernunft und Motiv nicht weiter. Falls sie Lainie Goff umgebracht hatte, dann war das vermutlich mitten während eines psychotischen Schubs geschehen, wahrscheinlich ohne dass sie sich ihrer Tat überhaupt bewusst gewesen wäre.
McCabe setzte sich wieder hin und fing an zu essen. Er nahm eine Frühlingsrolle zwischen die Finger, stippte sie in die Soße und biss ab. »Sie haben gesagt, dass Sie Abby besser kennen als jeder andere. Halten Sie sie für fähig, einen Mord zu begehen?«
»Ob sie dazu fähig ist? Aber natürlich ist sie dazu fähig«, erwiderte Wolfe und kaute auf einem Bissen scharf gewürzter Ente herum. »Abby leidet unter Schizophrenie. Sie lebt in einer zweiten Realität. Falls sie ihre Medikamente eine Zeitlang abgesetzt hat oder deren Wirkung aus irgendeinem Grund schwächer wird, dann ist sie praktisch zu allem fähig.«
»Sie wollen damit also sagen, dass sie die Geschichte mit dem Monster und dem Flammengesicht erfunden hat?«
»Nein. Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Wolfe. »Es kann gut sein, dass sie genau das gesehen hat, ein Monster mit einem Flammengesicht, ganz egal, ob sie Goff eigenhändig umgebracht oder den Mord nur beobachtet hat.«
»Helfen Sie mir da bitte ein bisschen auf die Sprünge, Herr Doktor. Ich bin heute nicht der Schnellste.«
»Dann will ich Ihnen einmal etwas genauer schildern, womit wir es hier zu tun haben. Schizophrenie ist eine schwere psychische Erkrankung. Hauptmerkmal ist eine tiefgreifende Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität. Wie die meisten Erkrankten leidet auch Abby unter Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen und Sinnestäuschungen. Sie sieht und hört Dinge, die gar nicht da sind. Trotzdem sieht und hört sie sie tatsächlich. Sie sind für Abby genauso real, wie diese Garnele in Kokosnusssoße für Sie real ist.«
»Falls Abby also Elaine Goff getötet hat …«
»Dann kann es sein, dass sie tatsächlich gesehen hat, wie ein Monster diese Tat beging. Vielleicht hat sie irgendwo tief in ihrem Unterbewussten das Gefühl, dass nur ein Monster so etwas tun könnte. Was sie, sollte es wirklich so abgelaufen sein, nicht wahrnimmt, ist, dass sie selbst das Monster ist.«
McCabe ließ sich gegen die Stuhllehne sinken und starrte zur Decke hinauf. Sicher, Wolfe konnte durchaus recht haben mit seiner Theorie. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass es nicht so geschehen war. Es gab zu viele Einzelheiten, die einfach nicht dazu passten. Einzelheiten, die Wolfe nicht kannte. Dass die Leiche auf dem Fish Pier zurückgelassen worden war. Das mit dem Zettel im Mund. Die präzise und sehr umsichtige Tötungsmethode. Nein, Abby hatte es nicht getan, da war McCabe sich sicher. »Und wenn sie es nicht gewesen ist?«, wollte er wissen. »Wenn sie die Tat tatsächlich beobachtet hat?«
Wolfe zuckte mit den Schultern. »Dann betrachtet sie den Täter vermutlich als Monster, weil das, was sie gesehen hat, zu furchterregend oder zu schmerzhaft war, um es mit Hilfe ihres Verstandes zu akzeptieren. Das ist allerdings, um ehrlich zu sein, eine reine Spekulation.«
McCabe wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab, stand auf und warf seinen leeren Teller in den Mülleimer. »Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die realen Erinnerungen zurückzuholen?«
»Möglicherweise. Wenn gesunde Menschen schmerzhafte Erinnerungen unterdrücken, dann hilft in manchen Fällen eine Hypnotherapie.«
»Hypnose?«
»Ja. Sie wird im Normalfall bei Schizophrenen nicht angewandt, aber es gibt nichts, was ausdrücklich dagegen spräche. Ich habe es noch nie ausprobiert, habe aber von einigen Experimenten gelesen. Es würde mich tatsächlich sehr interessieren, wie so eine Behandlung bei einem Menschen wie Abby anschlägt.«
»Kennen Sie vielleicht jemanden, der sich mit – wie haben Sie gesagt? – Hypnotherapie auskennt?«
»Ja. Mich.«
»Und wären Sie bereit, Abby zu hypnotisieren?«
»Aber ja, natürlich. Bloß müssen wir sie zuerst finden.«
McCabe nickte nachdenklich. »Danke, Herr Doktor. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald wir sie haben.« Er schlüpfte in seinen Mantel. »Und danke für das Essen.«