17

McCabe fuhr nicht sofort zurück in die 109, sondern hielt vor dem Coffee by Design in der Congress Street an. Er ließ den Motor laufen und bestellte sich einen großen Becher von der dunklen Röstung des Tages, »Schwarzer Donner«, die sich zumindest danach anhörte, als sollte sie ihn eine ganze Weile auf Trab halten. Nachträglich kam er auf die Idee, sich auch noch einen Preiselbeer-Walnuss-Scone zu bestellen. Dann saß er eine ganze Weile in seinem Wagen, schlürfte und kaute und betrachtete sich das Bild von Elaine Goff im schwarzen Abendkleid. Ogden zu ihrer Linken. Jack Kelly zu ihrer Rechten. Der Typ, der aufgrund von Lainies Tod fast zweihundert Riesen bekommen sollte. McCabe wendete den Crown Vic, bog nach rechts in die Avon Street, dann sofort wieder nach links und noch einmal nach rechts, bis er zur Einfahrt eines großen, heruntergekommenen viktorianischen Stadthauses gelangte. Zwei kleinere Gebäude weiter hinten auf dem Grundstück schienen ebenfalls dazuzugehören. Er stellte sich zwischen einen roten Jeep Cherokee – einen von den alten, kastenförmigen – und einen verbeulten Schulbus, dessen ursprüngliche gelb-orangefarbene Lackierung hellblau übermalt worden war. In schwarz waren von Hand die Worte SANCTUARY HOUSE auf die blaue Grundierung gemalt worden. Darunter stand in etwas kleinerer Schrift: WO DIE HOFFNUNG ZU NEUEM LEBEN ERWACHT. Unter der blauen Farbe waren noch die Umrisse einer früheren Beschriftung zu erkennen. Sie hatte WEST PARIS SCHOOL DISTRICT gelautet.

Ein Junge und ein Mädchen, beide nur wenig älter als Casey, lehnten am Verandageländer, saugten voller Hingabe an ihren Zigarettenstummeln und gaben sich alle Mühe, ihn zu ignorieren. Der Junge wandte den Blick ab, als McCabe näher kam. Das Mädchen starrte ihn durch eine dicke Make-up-Schicht hindurch verächtlich an. Von schwarzem Lippenstift und noch schwärzerem Lidstrich schien sie mindestens ebenso abhängig zu sein wie von Nikotin. Unter dem bemalten Gesicht trug sie ein kurzes, flauschiges weißes Kunstpelzjäckchen sowie einen knappen Minirock über einer dunkelgrauen Leggings, die wiederum in flauschigen Stiefeln steckte, welche irgendwie zu dem flauschigen Jäckchen passten. Abgesehen von der Leggings, die wohl als Zugeständnis an das Wetter gewertet werden musste, schrie ihre ganze Aufmachung »Nutte«. Er wusste nicht, was genau er hier im Sanctuary House erwartet hatte, aber so etwas eher nicht.

McCabe setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Weiß jemand von euch vielleicht, wo ich John Kelly finden kann?«

Er bekam keine Antwort und wiederholte seine Frage.

Schließlich nickte das Mädchen langsam. »Ja. Wissen wir.«

»Na prima. Das ist doch ein Anfang. Und könnt ihr mir vielleicht auch sagen, wo?«

Sie nahm einen letzten tiefen Zug und warf den Stummel dann in eine große Konservendose, die offensichtlich genau zu diesem Zweck hier draußen stand. »Ich geh ihn holen«, sagte sie dann und betrat das Haus. Der Junge rauchte weiter und starrte auf die Straße. Sein mit Aknenarben übersätes Gesicht war unter den vielen Piercings fast nicht mehr zu erkennen.

»Schöner Tag heute, was?«, sagte McCabe.

Keine Antwort.

»Aber trotzdem ganz schön kalt. Eine Jacke könnte dir nicht schaden.«

Immer noch keine Antwort.

»Hast du auch einen Namen?«

»Nein.« Der Junge schnippte den Zigarettenstummel in die Konservendose und ging zur Haustür. McCabe folgte ihm achselzuckend. Kaum war er eingetreten, sah er das Mädchen zurückkommen.

»Er sagt, Sie sollen in seinem Büro auf ihn warten. Da drüben.« Sie deutete auf eine geschlossene Tür, an der ein handgeschriebener Zettel klebte. Darauf stand: ANKLOPFEN!

»Er sagt, er sei gleich da.« Sie huschte die Treppe hinauf. McCabe trat ohne anzuklopfen ein und machte die Tür hinter sich zu. In Kellys Büro gab es nicht viel zu sehen, und das wenige, was da war, wirkte ziemlich abgegriffen. Schon drei- oder viermal ausgemustert und weitergereicht. Ein alter Eichenschreibtisch. Ein paar Klappstühle aus Metall für Besucher. Ein großer Blech-Aktenschrank in der Ecke. Praktisch jede ebene Fläche war mit Papieren übersät – Akten, Anleitungen, Stapeln mit Zeitungsausschnitten, die zum größten Teil vom Sanctuary House oder Kelly persönlich zu handeln schienen. Allesamt voll des Lobes. Auf dem obersten war ein Bild von Kelly zu sehen, die Hände auf den Schultern zweier Teenager, die deutlich gepflegter aussahen als die beiden draußen auf der Veranda. EIN HELD DER STRASSE, verkündete die Schlagzeile.

Die beiden Zimmerwände rechts und links waren hinter überquellenden Bücherregalen verborgen, gebaut aus Backsteinen und rohen Holzbrettern, wie in einer Studentenbude. Hunderte Bücher. Die meisten Titel schienen zu Kellys beruflicher Betätigung zu passen. Zerbrochenes Leben: Die Tragödie der Kindesmisshandlung; Zur Psychotherapie verstoßener Kinder; Spenden sammeln und Gemeinnützigkeit: Lokale Partnerschaften gründen. Er griff nach einem Buch mit dem Titel Die heilende Kraft des Spiels: Arbeiten mit misshandelten Kindern von einer Autorin namens Eliana Gil, blätterte ein wenig darin herum und stellte es wieder zurück. Er ging in die Knie und besah sich die unteren Regalbretter. Überwiegend Bücher zum Thema Religion und Theologie. Zwei Titel in der rechten Ecke hinter Kellys Schreibtisch weckten sein Interesse. Der erste lautete Die Theologie der prophetischen Tradition. Er griff nach dem zweiten: Einführung in die alttestamentlichen Propheten und ihre Botschaft. Er blätterte ein bisschen darin herum. Viele Stellen waren mit gelbem Leuchtstift markiert. Dann schlug er das Inhaltsverzeichnis auf und wurde von Erregung gepackt, gefolgt von einer Woge des Zweifels. Er starrte auf die Worte, die er da las. Kapitel 17. Seite 463. Die Prophezeiungen des Amos. Ihre historische Bedeutung im Zeitalter der Moderne.

Da wurde er von einer tiefen Stimme unterbrochen. »Sie interessieren sich für meine Bibliothek?«

McCabe blickte auf. Zwei dunkelblaue Augen blickten durch eine dicke schwarze Brille zu ihm herab. Er klappte das Buch zu und erhob sich.

»John Kelly?«

Kelly nickte.

»Detective Sergeant Michael McCabe. Portland Police Department.«

Sie gaben einander die Hand.

»Womit kann ich dienen?«

»Alle Sünder in meinem Volk sollen durchs Schwert sterben«, sagte McCabe und beobachtete Kelly genau. Keine Reaktion, abgesehen von sanfter Neugier.

»Wie bitte?«

»Alle Sünder in meinem Volk sollen durchs Schwert sterben. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?«

»Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

McCabe hielt ihm das Buch hin. »Das ist ein Zitat aus dem Buch Amos. Kapitel neun. Vers zehn. Ich habe mich gefragt, ob Sie das vielleicht schon einmal gehört haben.«

»Ich kann mich nicht konkret daran erinnern, aber wahrscheinlich bin ich schon einmal über diese Stelle gestolpert.«

»Ist das Ihr Buch?«

»Selbstverständlich ist das mein Buch, genau wie die anderen auch. Allerdings ist das hier schon ein bisschen älter. Ich habe während des Studiums eine Arbeit über das römisch-katholische Verständnis der alttestamentlichen Propheten geschrieben.«

»Haben Sie dabei auch das Buch Amos mit berücksichtigt?«

»Ja. Das war allerdings nicht der Schwerpunkt.«

»Aber an diesen speziellen Vers können Sie sich nicht erinnern?«

»Nicht genau, aber bei Amos geht es ja ständig darum, dass die Sünder ausgemerzt werden sollen, insofern passt diese Stelle recht gut ins Gesamtbild.«

»Interessant.«

»Wenn Sie das sagen.«

»Interessieren Sie sich immer noch für die Bibelforschung?«

»Vermutlich schon. Damit habe ich schließlich meinen Doktortitel erworben. Und es war das Fach, das ich am College unterrichtet habe, bevor ich die Entscheidung traf, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln und diese Institution hier zu gründen. Ich lese immer noch ab und zu etwas zu dem Thema, und manchmal schreibe ich sogar etwas. Wenn ich Zeit habe. Was nicht allzu oft vorkommt.«

»Wer weiß von Ihrer Arbeit über die prophetischen Traditionen?«

Kelly stieß einen tiefen Seufzer aus. »Also, so langsam wird es langweilig. Ich habe keine Ahnung. Mein Dozent von damals erinnert sich vielleicht noch daran. Und mein damaliger Mitbewohner vielleicht auch. Aber warum, um alles in der Welt, stellen Sie mir Fragen über Amos-Zitate?«

»Findet man diese Arbeit über Google?«

»Meine Seminararbeit?« Kelly warf McCabe einen irritierten Blick zu. »Du meine Güte, nein. Sie ist nie veröffentlicht worden. So gut war sie nicht.«

»Haben Sie sie immer noch?«

Kelly überlegte. »Sie liegt wahrscheinlich in irgendeinem Karton bei den anderen Sachen, die ich vom Studium aufbewahrt habe.«

»Wo steht dieser Karton?«

»Ich habe ein Sommerhäuschen. Obwohl Häuschen übertrieben ist. Es ist eigentlich nur ein Schuppen. Da habe ich viele Sachen eingelagert.«

»Unbeheizt?«

»Es gibt dort einen Holzofen. Aber im Winter verbringe ich nie Zeit dort. Es ist nicht isoliert. Das letzte Mal, dass ich da war, ist etliche Monate her.«

»Und wo steht es?«

»Auf einer der Inseln.«

»Auf welcher?«

»Harts.«

McCabe unterdrückte seine aufkeimende Erregung, so gut es nur ging. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns Ihre Hütte einmal anschauen? Immer vorausgesetzt natürlich, Sie haben nichts zu verbergen. Wenn es Ihnen lieber ist, können wir auch jederzeit einen Durchsuchungsbeschluss besorgen.«

Kelly schien darüber eher verwundert als verärgert zu sein. »Jederzeit. Es ist nicht einmal abgeschlossen. Gehen Sie einfach rein.« Kelly beschrieb ihm den Weg zu der Hütte. »Aber warum sagen Sie mir nicht endlich, was das alles mit Lainies Tod zu tun hat? Darum sind Sie doch hier, oder? Wegen Lainies Tod? Wollen Sie damit etwa sagen, dass da jemand das Buch Amos gelesen, den Inhalt wörtlich genommen und Lainie ausgemerzt hat, weil sie eine Sünderin war?«

»Ausmerzen – seltsames Wort, finden Sie nicht auch? Wo kommt es eigentlich her?«

»Ich habe keine Ahnung. Könnten Sie mir nun bitte eine Antwort auf meine Frage geben?«

»Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Ich wollte nur etwas nachprüfen. Können wir vielleicht noch einmal von vorne anfangen?« Er streckte Kelly die Hand entgegen. »Wie gesagt, ich heiße McCabe. Detective Sergeant Michael McCabe.«

»Ich weiß, wer Sie sind. Als die Kids mir Bescheid gesagt haben, dass ein Polizist da sei, da dachte ich mir schon, dass Sie es sind.«

McCabe deutete lächelnd auf seine Zivilkleidung. »Wie sind sie denn darauf gekommen?«

»Diese Jugendlichen riechen die Polizei auf einen Kilometer gegen den Wind.«

Genau wie ihre Altersgenossen in New York, dachte McCabe. Die wussten auch immer sofort Bescheid. Ob mit oder ohne Uniform. Ob schwarz oder weiß. »Wie schaffen die das bloß? Die Polizei zu erschnüffeln, meine ich.«

»Erfahrung. Die meisten sind ja Ausreißer, Verstoßene und andere Restposten vom Schrottabladeplatz unserer Gesellschaft. Sie sind den größten Teil ihres Lebens von irgendwelchen Typen in blauen Uniformen schikaniert, terrorisiert und verfolgt worden.«

»Ich trage schon lange keine blaue Uniform mehr.«

»Es liegt nicht an der Uniform, McCabe. Glauben Sie mir. Die wissen Bescheid. Aber wie es auch sei, seit ich von der Sache mit Lainie erfahren habe, rechne ich mit Ihrem Besuch.«

Kelly deutete auf einen der Klappstühle. »Legen Sie die Akten einfach auf den Stapel da drüben.« Er schlüpfte hinter seinen Schreibtisch, setzte sich hin und betrachtete McCabe aufmerksam. Trotz der Brille konnte man nicht umhin, seine Augen zu bemerken. Sie waren noch blauer, blickten noch intensiver als auf dem Foto. Sie strahlten Energie aus. Nach allem, was man hört, soll er ein wahnsinnig charismatischer Mann sein, hatte Maggie gesagt. Einer, den man nicht so schnell wieder vergisst. Seine schiefe Nase machte den Eindruck, als sei sie mehr als nur ein Mal gebrochen. McCabe tippte auf eine Vergangenheit als Schläger. So ähnlich wie Cleary vielleicht.

»Haben Sie mal geboxt?«

»Amateurboxen. Als Teenager, damals in Pittsburgh.«

»Waren Sie gut?«

»Nicht besonders. An der Nase sehen Sie ja, dass ich mehr Schläge abbekommen als ausgeteilt habe.«

»Warum haben Sie es dann trotzdem gemacht?«

»Ich möchte mich verteidigen können. Als ich jung war, bin ich immer wieder mal schikaniert worden. Besonders von einem Typen. Ich wollte, dass er mich in Ruhe lässt.«

»Sie haben ihn geschlagen?«

»Nur einmal. Das hat gereicht. Er hat sofort damit aufgehört.«

»Sie zu schikanieren?«

»Ja. Mich zu schikanieren.«

»Soll ich Sie Father Jack nennen?«

»Nein. Einfach nur John. Oder Jack, wenn Ihnen das lieber ist. Ich bin ja kein Priester mehr, schon lange nicht mehr.«

»Aber Sie sind immer noch gläubig?«

»Ja, aber anders als früher. Gott bestimmt den Kurs für mein Leben. Der Papst allerdings nicht mehr.«

»Tragen eigentlich die meisten der Jugendlichen hier solche Sachen wie das Mädchen auf der Veranda? Die, die Sie geholt hat?«

»Was haben Sie denn erwartet? Die Brady-Familie?«

»Wie alt ist sie? Fünfzehn?«

»Tara ist sechzehn.«

»Dann eben sechzehn. Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie zulassen, dass sie da draußen auf der Veranda herumhängt und raucht, aufgebrezelt wie eine Nutte am Times Square?« Vielleicht nicht die beste Einleitung für ein Gespräch mit Kelly, aber scheiß drauf. Das Mädchen war gerade mal zwei Jahre älter als Casey. McCabe musste sich irgendwie Luft machen.

»Hören Sie, McCabe, wenn unser Gespräch in diese Richtung gehen soll, dann können Sie gleich wieder einpacken und sich in die Middle Street verziehen. Meine Kinder sind keine Engel, das sollten Sie wissen, wo Sie doch auch einmal auf der Straße gearbeitet haben. Viele von ihnen sind nachtragende, schmutzige, reulose Sünder. Alle haben sie schwere Verletzungen davongetragen. Das kann ich nicht an einem Tag, in einer Woche oder in einem Monat ändern. In der Regel tragen sie die Sachen, die sie bei ihrer Ankunft hier am Leib hatten, und dazu das, was ihnen von den Kleiderspenden gefällt, die wir von den Kirchengemeinden der Stadt bekommen. Und das ist ehrlich gesagt nicht viel.«

McCabe war klar, dass er den falschen Ansatz gewählt hatte. Ihm war auch klar, dass das dämlich gewesen war. Wenn er noch irgendetwas von Kelly erfahren wollte, dann musste er sich zusammennehmen. Seine Wut zurückdrängen. Kelly war allerdings gerade in Fahrt gekommen, und McCabe nahm an, dass er besser daran täte, ihn ausreden lassen.

»Tara sieht also aus wie eine Nutte«, fuhr Kelly fort. »Tja, raten Sie mal? Sie haben recht. So hat sie das letzte Jahr überlebt, und ich wette, wenn Sie sie danach fragen würden, dann würde sie Ihnen sagen, dass es immer noch besser ist, gegen Bezahlung Fremde zu ficken als den eigenen Vater, und zwar umsonst. Denn genau dazu hat er sie den Großteil ihres Lebens gezwungen. Zumindest dann, wenn er sie nicht gerade verprügelt und ihr erzählt hat, was für ein wertloses Stück Scheiße sie ist. Jetzt prostituiert sie sich immerhin nicht mehr, und das ist gut so. Sie hat einen neuen Anfang gemacht. Bloß die Kleidung hat sie noch nicht gewechselt.«

»Es tut mir leid.«

»Ihnen tut es leid?«

»Ja, es tut mir leid. Ich habe meinen Gefühlen einfach freien Lauf gelassen, und das war völlig unangebracht. Dafür entschuldige ich mich.«

»Okay.« Ein tiefer Atemzug. Eine Pause. »Entschuldigung angenommen.« Noch ein tiefer Atemzug. Noch eine Pause. »McCabe, Sie müssen verstehen, dass unsere erste Aufgabe hier darin besteht, Tara und andere so wie sie von der Straße zu holen und sie davon zu überzeugen, dass ihr Leben etwas wert ist, dass sie es wert sind, dass sich jemand um sie kümmert. Modefragen und Nikotinentzug, so wichtig diese Dinge für Sie sein mögen, spielen da aus meiner Sicht eine untergeordnete Rolle.«

»Sie scheinen das alles mit großer Leidenschaft anzugehen.«

»Das ist Ihnen also aufgefallen.«

»Ist denn an dem Gerücht, dass Sie als Kind selbst missbraucht worden sind, etwas dran?«

»Erstens ist es kein Gerücht, und zweitens, ja, da ist etwas dran. Das will ich gar nicht verschweigen. Ich war vierzehn Jahre alt, als der Priester meiner Heimatgemeinde mich vergewaltigt hat. Beim ersten Mal habe ich es meinem Alten erzählt, und der hat nichts weiter unternommen, als mir die Seele aus dem Leib zu prügeln, weil ich die Heilige Mutter Kirche beleidigt habe. Also bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich wohl selbst verteidigen muss. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich von jemandem schikaniert worden bin. Nun ja, beim zweiten Mal habe ich dem Priester eine heftige Tracht Prügel verpasst. Er war größer und älter als ich, aber hinterher hatte er zwei blaue Augen und eine blutige Nase.«

McCabe unterdrückte ein Lächeln. »Und Sie – welche Konsequenzen hatte das für Sie?«

»Keine. Er konnte ja schlecht sagen, wieso es dazu gekommen war. Also hat er überall, auch bei der Polizei, herumerzählt, dass er auf der Straße überfallen worden sei. Von ein paar kräftigen Schwarzen.«

»Natürlich. Passiert ja ständig.«

»Wie auch immer – wissen Sie, was mich seit damals ärgert? Dass es überhaupt nichts genützt hat, dass ich dem guten Hirten so zugesetzt habe. Er hat einfach weitergemacht, nur eben mit anderen Kindern.«

»Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, selbst Priester zu werden?«

»Sie meinen, abgesehen davon, dass ich mich berufen gefühlt habe?«

»Ja. Abgesehen davon.«

»Wie viele andere hatte auch ich die lächerliche Vorstellung, die Institution von innen heraus verändern zu können. Hat nicht lange gedauert, bis ich gemerkt habe, dass das eine Illusion war. Zu jener Zeit hatte die Institution kein Interesse an Veränderungen. Sie hatte nur ein Interesse daran, Skandale zu verhindern, und das ist ihr ja über Jahrzehnte hinweg auch sehr gut gelungen. Erst als der Boston Globe dafür gesorgt hat, dass das ganze Land davon erfährt, hat die Kirche wirklich angefangen, etwas zu verändern. Aber da war Sanctuary House schon längst gegründet und ich kein Priester mehr.«

McCabe konnte sich noch gut an die Artikelserie im Globe erinnern. Im Januar 2002 hatte ein Reporterteam der Zeitung die Geschichte der pädophilen Gottesmänner ans Tageslicht gezerrt, hatte die Sünden Hunderter Priester und die Leiden Tausender Kinder in allen Einzelheiten dokumentiert. Das ganze Land stand unter Schock. McCabe nicht. Schon Jahrzehnte zuvor hatte er von einem solchen Fall von Missbrauch durch einen katholischen Priester erfahren, weil er einen Jungen gekannt hatte, der ebenfalls Opfer gewesen war. Er hatte schon lange nicht mehr an Edward Mullaney gedacht. Vierzehn Jahre alt. Schüchtern und ernsthaft. Ministrant. Fromm und gläubig und vollkommen wehrlos gegen die Gott-ähnliche Gestalt mit dem weißen Kragen, die ihn gern auf »Ausflüge« mitnahm. McCabe hatte sich oft gefragt, was wohl aus Edward geworden war. Letztes Jahr hatte er es erfahren. Da war Mullaney wegen Vergewaltigung eines achtjährigen Mädchens verurteilt worden.

»Wie viele Jugendliche wohnen denn hier?«

»Das kommt darauf an. Zwischen dreißig – das ist unser gesetzlich festgelegtes Maximum – und sechzig. Das ist das, was wir maximal hier reinquetschen können. Diejenigen, die im Sommer auf der Straße schlafen, schlafen im Januar hier bei uns. Im Augenblick haben wir drei bis vier in jedem Zimmer.«

»Die kommen und gehen?«

»Wir sind kein Gefängnis. Jugendliche sind hier immer willkommen. Alle. Und wenn sie uns wieder verlassen, dann rennen wir ihnen in der Regel nicht hinterher. Obwohl ich das ein paarmal gemacht habe, wenn ich dachte, dass sie für sich oder für andere zur Gefahr werden könnten. In einigen Fällen habe ich sogar Ihre Kollegen zu Hilfe gerufen.«

»Wie lange ist denn die durchschnittliche Aufenthaltsdauer?«

»Manche verschwinden schon nach einer Nacht wieder. Andere bleiben Wochen oder Monate hier. Dann haben wir die Möglichkeit, mit ihnen zu arbeiten. Wir schicken niemanden weg, und wir schmeißen niemanden raus, es sei denn, jemand hält sich nicht an unsere Regeln.«

»Die da wären?«, fragte McCabe.

»Es gibt nur drei, und wie gesagt, ein Rauchverbot gehört nicht dazu. Regel Nummer eins lautet: Keine Gewalt. Nicht gegen sich selbst oder jemand anders. Regel Nummer zwei: Kein Alkohol, keine Drogen. Weder hier noch sonst irgendwo. Regel Nummer drei: Gegenseitiger Respekt. Wer einmal eine Regel bricht, bekommt normalerweise eine zweite Chance. Beim zweiten Mal ist er draußen. Wer sich dran hält, bekommt von uns im Gegenzug eine Schlafstelle, etwas zu essen und die Pflicht aufs Auge gedrückt, sich irgendwie an den anfallenden Arbeiten zu beteiligen. Beim Kochen. Beim Saubermachen. Schneeschippen. Außerdem müssen sie sich mit einem unserer Berater zusammensetzen und einen Plan entwickeln, wie sie ihrem Leben eine Wende geben wollen. Wir versuchen, ihnen irgendwo in der Stadt eine Arbeit zu verschaffen. Eine dauerhafte Unterkunft. Wir schicken sie zur Schule, damit sie auf dem zweiten Bildungsweg vielleicht noch einen Abschluss hinbekommen. Dank unserer freiwilligen Helfer können wir auch all denen, die es nötig haben, eine Therapie anbieten. Für die anderen gibt es Beratungsgespräche.«

»Haben Sie einen festen Mitarbeiterstamm?«

»Es gibt mich und drei Berater. Einer ist ein junger Mönch, der schon seit etlichen Jahre dabei ist. Die beiden anderen studieren Sozialarbeit an der University of Southern Maine. Zum Ende des Semesters hören sie hier auf und werden durch neue Studenten ersetzt. Außerdem haben wir noch eine ganze Reihe freiwilliger Helfer.«

»War Lainie Goff eine davon?«

»Ja, Lainie war eine davon. Außerdem gehörte sie zum Kuratorium.«

»Als aktives Mitglied?«

»Sehr aktiv. Diese Einrichtung hat ihr viel bedeutet.«

»Was war ihre Aufgabe?«

»Sie hat Spenden gesammelt. Das konnte sie wirklich hervorragend. Außerdem war sie unsere Anwältin. Kostenlos selbstverständlich.«

»Hat sie Sie vertreten oder die Jugendlichen?«

»Beides. Diejenigen, die die Entscheidungen treffen, werfen uns ständig irgendwelche Knüppel zwischen die Beine – die Stadtverwaltung, die Jugendämter. Sie hat sie uns vom Leib gehalten. Manchmal wollen Eltern die Kinder, die sie misshandelt haben, wieder zurückholen. Auch die hat sie uns vom Leib gehalten. Lainie war eine knallharte, kluge und kompromisslose Rechtsanwältin. Das hier war ihre Bestimmung, das hätte sie eigentlich machen sollen, anstatt sich in diesem Drecksloch von Kanzlei versklaven zu lassen.«

»Palmer Milliken?«

»Ja. Sie war zu gut für die. Als Rechtsanwältin. Und als Mensch, auch wenn ihr das vermutlich gar nicht bewusst war. Die Vierzehn-Stunden-Tage, die sie dort zugebracht hat, hätte sie hier bei uns viel sinnvoller nutzen können.«

»Was glauben Sie, warum hat sie das gemacht? Bei Palmer Milliken gearbeitet, meine ich. Ging es ihr nur ums Geld?«

»Geld war ihr wichtig. Zu wichtig, wenn Sie mich fragen. Sehen Sie, um Lainie zu verstehen, müssen Sie wissen, dass sie sehr unsicher war. Sie musste immer wieder unter Beweis stellen, dass sie die Beste war. Die Klügste, die Härteste, die Erotischste, die Schönste. Was auch immer. Das war ihr Antrieb. Und trotzdem, ganz egal, wie gut sie ihre Sache gemacht hat – und sie hat sie immer ausgezeichnet gemacht –, irgendwie war es nie gut genug. Unsicherheit richtet in einem Menschen Schlimmes an. Es klingt zwar traurig, aber ich glaube, ich habe sie nur dann wirklich glücklich erlebt, wenn sie hier mit unseren Jugendlichen gearbeitet hat.«

»Ehrlich?«

»Schon seltsam, nicht wahr? Die knallharte Rechtsanwältin als Ersatzmutter. Wie ein Magnet ist sie immer von den Mädchen angezogen worden, die wie Tara aus Situationen des sexuellen Missbrauchs kamen. Sie haben ihr vertraut. Sie schien irgendwie intuitiv zu verstehen, was sie durchgemacht hatten.«

Es gab mal einen Stiefvater, aber ich glaube nicht, dass sie wollen würde, dass man ihn verständigt. Jetzt ergaben Janie Archers Worte plötzlich einen Sinn. »Glauben Sie, dass Lainie in ihrer Kindheit selbst einer Missbrauchssituation ausgesetzt war?«

»Ich weiß es nicht, aber ich habe es immer vermutet. Wer lange genug mit solchen Jugendlichen zu tun hat, der merkt, dass sie etwas ganz Bestimmtes ausstrahlen. Das kann man spüren. Bei Lainie habe ich es gespürt. Ich habe sie sogar ein, zwei Mal danach gefragt, aber sie wollte nicht darüber reden. Sie ist ein sehr zurückgezogener Mensch. War ein zurückgezogener Mensch.«

McCabe machte sich im Geiste eine Notiz, Erkundigungen über Wallace Albright einzuholen. Ob er wohl noch am Leben war, immer noch in Maine wohnte und vielleicht immer noch junge Mädchen missbrauchte?

»Und Lainie hat sich nur um Mädchen gekümmert?«, wollte er wissen.

»Ja.«

»Interessant.«

»Wenn sie selbst als Kind missbraucht wurde, dann passt das meiner Ansicht nach. Männer waren ihr Feindbild. Sie waren Menschen, die man benutzen und manipulieren, denen man aber niemals vertrauen konnte.«

»Aber Ihnen hat sie vertraut, oder?«

»Ich denke schon.«

»Wie würden Sie Ihre Beziehung zueinander beschreiben?«

»Wir standen uns nahe. So nahe, wie sie wahrscheinlich kaum jemanden an sich herangelassen hat.«

»Abgesehen von den Jugendlichen?«

»Ja. Abgesehen von den Jugendlichen.«

»Hatten Sie ein intimes Verhältnis?«

»Ein sexuelles, meinen Sie?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Nein. Wir hatten kein intimes Verhältnis. Weder auf sexuelle noch auf sonst irgendeine Weise, abgesehen davon, dass wir uns beide für die Belange der Jugendlichen eingesetzt haben. Sie war ein zurückgezogener Mensch und hat nicht viel aus ihrem Privatleben erzählt.«

»Aber sie war auch eine wunderschöne, erotische Frau, und Sie sind kein Priester mehr. Sind Sie da nicht in Versuchung gekommen? Körperlich, meine ich?«

Kelly starrte ihn an. »Ich bin anderweitig gebunden.«

»An wen?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Waren Sie schon einmal in ihrer Wohnung?«

»Nein.«

»Wo waren Sie am vergangenen Dienstag zwischen 21.00 Uhr und Mitternacht?«

Angesichts dieser plötzlichen Wendung des Gesprächs musste Kelly lächeln. »Das klingt ja ganz so, als würden Sie mich verdächtigen.«

»Im Augenblick verdächtigen wir jeden.«

»Am vergangenen Dienstag war ich da, wo ich dienstags immer bin. Ich habe bis ungefähr zwei Uhr morgens hier gesessen und Finanzierungsanträge ausgefüllt.«

»Und anschließend?«

»Bin ich schlafen gegangen.«

»Wo?«

»Oben gibt es einen Bereitschaftsraum. Es ist immer ein Mitglied der Belegschaft im Haus, Tag und Nacht. Wir rotieren. Ich bin dienstags und donnerstags an der Reihe.«

»Hat Sie jemand hier gesehen?«

»Niemand, dem ein Geschworenengericht glauben würde.«

»Wer?«

»Gegen Mitternacht haben ein paar Straßenkinder an die Tür geklopft. Sie wollten ein Bett haben. Wir hatten zwar keins mehr frei, aber es war zu kalt, um sie wieder wegzuschicken. Also habe ich ihnen etwas zu essen gegeben und sie in der Küche schlafen lassen.«

»Haben die auch Namen?«

»Na klar. Einer nennt sich Bennie. Geht auf den Strich. Gibt Blowjobs, weil er Geld für Drogen braucht. Er ist ungefähr siebzehn. Letztes Jahr hat er eine Weile hier gewohnt, aber wir mussten ihn rausschmeißen.«

»Hat Bennie auch einen Nachnamen?«

»Er behauptet, er heißt Bennie Belmont, aber das muss natürlich nicht stimmen. Er ist ein Lügner und ein Unruhestifter. Er hat die Regeln mehr als zweimal gebrochen. Vielleicht finden Sie ihn, wenn Sie die entsprechenden Kneipen abklappern. Der andere hat sich als Gerald R. McGill vorgestellt, aber der Name ist ganz offensichtlich ausgedacht.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, weil er dann der Inhaber des Bestattungsinstituts auf der anderen Straßenseite wäre. Und das halte ich für unwahrscheinlich. Jedenfalls sind Bennie und Mr. McGill am nächsten Morgen wieder abgezogen, und seither habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Wie sieht es denn mit Freitag, dem 23. Dezember, aus? Zwei Tage vor Weihnachten. Wo waren Sie denn da um, sagen wir mal, 21.00 Uhr?«

Kelly überlegte. »Zu Hause. In meiner Wohnung. In der Howard Street.«

Die Howard Street lag nur wenige Querstraßen von McCabes Wohnung in der Eastern Prom entfernt. »War jemand bei Ihnen?«

»Ja.«

»Wer?«

»Mein Lebenspartner. Wir wohnen zusammen.«

»Sie sind schwul?«

»Ich bin schwul.«

»Wie heißt Ihr Partner?

»Edward Childs. Aber er wird meistens Teddy genannt.«

»Und Mr. Childs wird bestätigen, dass Sie an diesem Abend zusammen waren?«

»Da bin ich mir sicher.«

»Und Sie waren nur zu zweit, alleine zu Hause, zwei Tage vor Weihnachten? Keine Party, keine Weihnachtsfeier, die Sie besucht hätten?«

»Wir sind gern unter uns. Wir haben zu Abend gegessen. Ein paar letzte Weihnachtskarten geschrieben. Haben gelesen. Und sind ins Bett gegangen.«

»Wie lange sind Sie und Teddy schon zusammen?«

»Acht Jahre.«

»Können Sie sich vorstellen, dass jemand einen Grund gehabt haben könnte, Lainie umzubringen?«

»Nein.«

»Haben Sie hier auch Jugendliche, die psychisch labil sind?«

»Falls Sie damit emotionale Probleme, Ängste, Depressionen und Ähnliches meinen, dann trifft das praktisch auf alle zu. Falls Sie eher an manische Depressionen oder Schizophrenie gedacht hatten, dann gab es hier zwar durchaus den einen oder anderen Fall, aber nicht viele. In der Regel verfügen wir schlicht nicht über die nötigen Mittel, um mit solchen Dingen fertigzuwerden.«

»Können Sie mir eine Liste der Mädchen machen, mit denen Lainie am meisten Kontakt gehabt hat? Die müssen wir befragen.«

»Glauben Sie etwa, dass jemand von unseren Jugendlichen das getan haben könnte?«

»Es ist theoretisch möglich, aber ich bezweifle es.« Es war mehr als unwahrscheinlich, dass ein Straßenkind düstere Bibelsprüche am Tatort hinterließ, und ein solches Kind am Steuer eines nagelneuen BMW wäre genauso aufgefallen wie ein Walzer tanzender Elefant. »Wir möchten nur mit ihnen reden. Falls jemand zufällig etwas bemerkt hat.«

Kelly nickte. »Über welchen Zeitraum reden wir hier?«

»Die gesamte Zeit, seit Goff angefangen hat, sich bei Ihnen zu engagieren.«

»Das sind aber über drei Jahre. Wahrscheinlich ein Dutzend Mädchen, vielleicht auch mehr. Es könnte schwierig werden, die eine oder andere ausfindig zu machen.«

»Wir haben unsere Möglichkeiten. Außerdem würden wir auch gerne mit den übrigen Mitarbeitern sprechen.«

»Einverstanden. Ich schicke Ihnen eine E-Mail, sobald ich beide Personenlisten zusammengestellt habe. Wie lautet Ihre E-Mail-Adresse?«

McCabe reichte Kelly seine Visitenkarte und fragte dann: »Haben Sie den Namen Abby Quinn schon einmal gehört?«

»Natürlich. Abby hat im letzten Jahr sechs Monate lang hier gewohnt. Sie ist zwar schon älter als unsere eigentliche Zielgruppe, aber ihr Psychiater gehört ebenfalls unserem Kuratorium an, und er war der Meinung, dass die Erfahrung ihr guttun würde. Wir haben sie als eine Art unbezahlte Praktikantin betrachtet. Sie hat überall ein bisschen mit angepackt.«

»Wie heißt ihr Psychiater?«

»Wolfe. Dr. Richard Wolfe.«

Wieder einmal war McCabe verblüfft darüber, wie klein Portland doch war. Immer wieder begegnete man denselben Leuten. »Wie kann sich Abby einen so exklusiven Arzt wie Wolfe leisten?«

»Über die staatliche Krankenversicherung. Abby ist arbeitsunfähig geschrieben. Zumindest war sie das, als sie hier bei uns gewohnt hat.«

»Hat Dr. Wolfe recht behalten? Ich meine, mit seiner Einschätzung, dass das Sanctuary House ihr guttun würde?«

»Ich glaube schon. Abby leidet unter Schizophrenie, aber sie hat regelmäßig ihre Medikamente genommen, hat ihre Aufgaben erledigt und sich sehr bemüht, sich einzufügen. Das hat gut geklappt.«

»Warum ist sie dann wieder gegangen?«

Kelly zögerte kurz, bevor er eine Antwort gab. »Sie war bereit. Für sie war es Zeit, nach Hause zu gehen.«

»Einen anderen Grund gab es nicht?«

»Nein.«

»Hat sie Lainie gekannt?«

»Das weiß ich nicht. Schon möglich, dass sie einander ein, zwei Mal begegnet sind. Aber Lainie hat nie mit ihr gearbeitet. Dafür war ausschließlich Dr. Wolfe zuständig.«

»Wissen Sie, wo sie sich jetzt aufhält?«

»Auf Harts Island, nehme ich an. Dort wohnt sie.«

»Sie ist zurzeit nicht hier, oder doch?«

Kelly sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Warum sollte sie?«

»Nur so ein Gedanke. Hat Abby sich während ihres Aufenthaltes hier mit jemandem besonders angefreundet? Mit irgendeinem Mädchen, zu dem vielleicht noch Kontakt besteht?«

»Nicht, dass ich wüsste. Wieso?«

»Wir müssen mit ihr reden.«

»Im Zusammenhang mit dem Mord?«

»Ja. Fällt Ihnen irgendjemand ein, mit dem sie engeren Kontakt gehabt hat?«

»Fragen Sie doch mal Wolfe. Den würde ich jedenfalls als Erstes fragen. Oder fahren Sie nach Harts Island und fragen Sie sie selbst. Wird das Ganze hier eigentlich noch länger dauern?«

McCabe überhörte diese Frage. »Wie steht das Sanctuary House denn finanziell da?«

»Nicht besonders gut, aber das gilt für alle vergleichbaren Einrichtungen. Wir sind weitgehend von kleinen Förderbeiträgen verschiedener Stiftungen und Spenden wohlgesonnener Bürger abhängig. Staatliche oder städtische Gelder lehnen wir ab. Dadurch bewahren wir uns unsere Handlungsfreiheit.«

»Sie sagten, dass Lainie eine gute Spendensammlerin gewesen sei.«

»Ja, das stimmt. Erst vor einem Monat hat sie entscheidend dazu beigetragen, dass wir eine Spende über zehntausend Dollar bekommen haben.«

»Bekommen Sie öfter Beträge in dieser Größenordnung?«

»Gelegentlich schon, aber es ist nie genug. Schauen Sie sich doch mal um. Sehen wir aus, als wären wir reich? Wir kriegen so viele Beschwerden wegen irgendwelcher Verstöße gegen die Bauvorschriften, dass sie uns schon zu den Ohren rauskommen, aber bis jetzt hat die Stadt sie Gott sei Dank alle ignoriert. Die wollen genauso wenig wie ich, dass meine Kids wieder auf der Straße landen. Und Ihnen wäre das garantiert auch nicht recht. Aber ohne Lainie, die uns den Rücken freihält, wird es schwer werden.«

»Könnte es passieren, dass Sie schließen müssen?«

Kelly zuckte mit den Schultern. »Die Gefahr besteht immer. Es ist ein fortwährender Kampf. Vielleicht möchten Sie ja etwas spenden?«

McCabe lächelte. »Unter Umständen, ja. Was würden Sie von einhundertachtzigtausend Dollar halten?«

Kelly warf McCabe einen fragenden Blick zu. »Mir ist natürlich klar, dass das ein Scherz sein soll – aber so viel Geld, das würde unsere Situation von Grund auf verändern.«

»Nein, das war kein Scherz. Lainie hatte eine Lebensversicherung, und Sanctuary House ist als Begünstigter eingetragen.«

»Ist das Ihr Ernst?« Kelly saß da wie vom Donner gerührt. »Einhundertachtzigtausend Dollar?«

»Das haben Sie nicht gewusst?«

»Nein. Sie hat nie ein Wort davon gesagt.«

»Ich nehme an, sie hatte nicht vor zu sterben«, erwiderte McCabe. »Wo genau waren Sie in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch zwischen elf Uhr abends und drei Uhr morgens?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Sagen Sie’s mir noch einmal.«

»Ich war hier.«

»Sind Sie sicher?«

»Wollen Sie mir etwa unterstellen, ich hätte Lainie um des Geldes willen umgebracht?«

»Ich will Ihnen gar nichts unterstellen. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen – haben Sie?«

»Nein.«

»Ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

»Dann haben Sie ja wahrscheinlich auch nichts dagegen, heute Nachmittag ins Polizeipräsidium zu kommen, damit wir Ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe nehmen können.«

»Weil Sie im Augenblick jeden verdächtigen?«

»Ja. Jeden.«

Kelly erklärte sich bereit, in die Middle Street zu kommen, und McCabe verabschiedete sich.

Angstschrei: Thriller
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