28

Obwohl sie die Decke über den Kopf gezogen und die Augen fest zugekniffen hatte, wusste Abby, dass der TOD nahe war. Sie konnte seine Gegenwart spüren. Riechen. Wie das Ozon in der sommerlichen Luft kurz vor einem Blitzschlag. Der kalte Knoten der Angst, mit dem sie seit Dienstag gelebt hatte, hatte sich gestern Abend aufgelöst, als Leanna ihre Arme ausgebreitet und Abby willkommen geheißen hatte. Aber jetzt war er wieder da, größer und fester als je zuvor. Abby streckte die Hand aus, suchte Trost an Leannas fülligem Körper, fand keinen, zog die Hand wieder zurück. Ihre Freundin wälzte sich in unruhigem Schlaf hin und her, ohne die Gefahr zu ahnen, die ganz in ihrer Nähe lauerte.

Abby wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, ja nicht einmal, wie lange sie eigentlich schon hier war. Sie wusste noch, dass der riesige Kerl mit dem Pick-up sie hier abgesetzt hatte. Das war wohl gestern Abend gewesen. Oder richtiger, früh am heutigen Morgen. Heute Morgen und nicht gestern oder vorgestern. Aber um ehrlich zu sein, wusste sie nicht genau, welcher Morgen jetzt gerade war.

Sie konnte sich noch an das verlegene Grinsen des Hünen erinnern und an die Mikrowellenbehälter mit Nudelgerichten in seinem Arm. Genau wie an die Pistole unter seiner Jacke. Trotzdem hätte sie ihn jetzt sehr gerne hiergehabt. Sie dachte an die Visitenkarte, die er ihr gegeben hatte. JOSEPH L. VODNICK stand darauf. PORTLAND POLICE DEPARTMENT. Daneben eine Telefonnummer. Sie hätte ihn anrufen können, aber er war ja gar nicht da. Er hockte jetzt in irgendeinem bescheuerten Zelt am Fuß des Mount Katahdin. Beim Campen oder Eisklettern oder was, zum Teufel, er an seinen beiden freien Tagen eben vorhatte. Als sie gestern Nacht vor Leannas Haus angekommen waren, da hatte sie nur noch den Wunsch gehabt, dass er so schnell wie möglich verschwinden sollte. Hatte sich sogar dagegen gesträubt, dass er mit ihr ausgestiegen war. Aber er bestand darauf, sie zur Tür zu bringen. Weil er sichergehen wollte, dass ihre Freundin auch wirklich zu Hause war und sie hereinließ. Sie mussten etliche Minuten lang klingeln und klopfen, bevor Leanna sie hörte und aufmachte. Und die ganze Zeit über standen sie auf der Eingangstreppe und schauten überallhin, nur nicht dem anderen ins Gesicht. Abby hatte Angst gehabt, dass der Typ versuchen könnte, ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Wie bescheuert war das eigentlich? Er machte auch keine Anstalten. Erinnerte sie nur an die Visitenkarte und sagte ihr noch mal, dass sie anrufen solle, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Dann stieg er in seinen Pick-up und fuhr los.

Leanna fragte, wer das gewesen sei.

Sie warf einen Blick auf die Karte. »Joseph L. Vodnick.«

»Wer?«

»Den habe ich im Mini Mart kennengelernt. Er hat mich hergefahren.«

Leanna zog Abby ins Innere und machte die Tür zu, damit der immer noch wild wirbelnde Schnee draußenblieb.

Danach wusste Abby nur noch, dass sie sich ausgezogen und unter die Dusche gestellt und das heiße Wasser so lange auf ihren Körper hatte prasseln lassen, bis ihre Haut rosa und sämtliche Kälte aus ihren Knochen gewichen war. Dann hatte sie ihre Zyprexa-Bestände überprüft. Es war nichts mehr da. Sie hatte eigentlich angenommen, dass sie noch ein paar übrig haben müsste, aber dem war nicht so. Sie hatte wohl mehr geschluckt, als sie gedacht hatte. Oder vielleicht waren ein paar aus der Flasche gefallen, vorhin, als sie sie im Sturm aufgemacht hatte. Vielleicht war es auch egal. Sie schienen ja ohnehin keine allzu große Wirkung zu haben. Leanna gab ihr ein paar Tabletten aus ihrem eigenen Vorrat. Blaue. Keine Zyprexa. Irgendwas anderes. Leanna sagte, sie würden ihr helfen zu schlafen, und Mannomann, da hatte sie wirklich recht gehabt – aber jetzt war sie schon wieder hellwach, und der TOD kam immer näher.

Der Geruch war intensiver geworden, und Abby fragte sich, ob er schon im Zimmer war. Sie schlug die Decke so weit zurück, dass sie mit einem Auge aus ihrem warmen Kokon herausspähen konnte. Der Wintermond schickte genügend Schummerlicht durch die leichten Vorhänge herein, dass die Umrisse der einzelnen Gegenstände erkennbar waren. Aber nicht genügend, um die Schatten zu durchdringen, in denen der TOD – das wusste sie – lauerte. Sie suchte die Wand und die Ecken auf ihrer Seite des Zimmers ab. Sie sah nichts. Ihr war klar, dass sie die Decke ganz abstreifen und sich aufsetzen musste, wenn sie über Leanna hinweg auf die andere Seite des Zimmers sehen wollte. Sie musste es tun, sagte sie sich. Die einzige Alternative bestand darin, hier zu liegen und darauf zu warten, dass er ihr sein Messer in den Nacken stach. Sie wusste noch, wie die Frau bei den Markhams zusammengesackt war. Eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden.

Abby schob das Bild beiseite. Sie war noch nicht bereit für den TOD. Nicht heute. Vielleicht auch niemals. Mühsam richtete sie sich auf. Leanna atmete langsam und gleichmäßig weiter. Sie schaute hinüber. Auch nichts zu sehen. Nur ein Stuhl mit einem großen Kleiderberg. Ein Tisch, der eigentlich nur eine Kiste mit einem Tuch und einer Lampe darauf war. Er war nicht hier. Aber trotzdem, der Geruch hing immer noch in der Luft.

Das durchdringende Klingeln des Telefons riss McCabe aus einem unruhigen Schlaf. Warum hörte das verdammte Ding nicht endlich auf? Er warf einen Blick auf das Display. J. VODNICK. Er drückte auf Annehmen. »McCabe hier.«

Zu spät. Vodnick hatte aufgelegt. McCabe überlegte, ob er zurückrufen sollte oder nicht. Da gab es eigentlich nicht viel zu überlegen. Wenn Joe Vodnick es auf seinem Handy probierte, dann musste es etwas mit dem Fall zu tun haben. Er rief zurück.

»Sergeant, hier Officer Vodnick. Joe Vodnick. Wir haben uns gestern Abend auf dem Anleger kennengelernt.«

»Ich weiß, Joe. Was gibt’s?«

»Es geht um dieses Mädchen. Die junge Frau, nach der Sie fahnden.«

McCabe setzte sich auf. Er war schlagartig hellwach. »Ja? Was ist mit ihr?«

»Na ja, ich hab die Fahndungsmeldung erst jetzt gesehen, weil ich am Freitag um Mitternacht Dienstschluss hatte.«

»Aha. Und weiter?«

»Und jetzt bin ich hier oben am Mount Katahdin. Hab ein paar Tage frei und will ein bisschen Eisklettern und campen.«

»Zur Sache, Joe.«

»Ich glaub, ich hab sie gesehen. Ich glaub, ich weiß, wo sie ist.«

»Am Katahdin? Dort haben Sie sie gesehen? Sind Sie sicher?«

»Nein. Nicht am Katahdin. Noch mal von vorne. Gerade eben hab ich mit einer Bekannten gesprochen. Sie ist auch bei der Polizei. Ist meine Freundin, um genau zu sein. Sie hat die Fahndungsmeldung gesehen und hat mir davon erzählt. Und nach allem, was sie so gesagt hat, bin ich ziemlich sicher, dass das die Frau ist, die ich gesehen habe …«

»Langsam, Joe, langsam«, unterbrach ihn McCabe. »Sagen Sie mir einfach, wo Sie die Frau gesehen haben und warum Sie glauben, dass es sich um unsere Zeugin handelt.«

»Ich habe sie heute Morgen so gegen fünf Uhr in der Summer Street 131 abgesetzt.«

»In Portland?«

»Ja. In Portland. Sie war ziemlich durcheinander, und die Beschreibung aus der Fahndungsmeldung passt. Alter, Haarfarbe, Kleidung, alles.«

»Wissen Sie, wie sie heißt?«

»Nur den Vornamen.«

»Und der wäre?«

»Abby. Sie hat gesagt, sie heißt Abby.«

Angstschrei: Thriller
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