36

Um genau 10.32 Uhr kamen vier Fahrzeuge des Portland Police Department an der Straßenecke vor dem Haus in der Brackett Street 342 zum Halten. Aus zwei schwarz-weißen Streifenwagen kletterten uniformierte Polizeibeamte und verteilten sich an den Seiten sowie auf der Rückseite des Gebäudes, damit Andy Barker sich nicht etwa heimlich aus dem Staub machen konnte. Kaum waren sie in Position, betraten McCabe und Maggie zusammen mit den Kriminaltechnikern Bill Jacobi, Jeff Feeney und Carla Morrisey das Haus. Jacobi und Feeney schleppten zwei silberne Metallkoffer mit elektronischen Geräten in den ersten Stock. Maggie humpelte hinter ihnen her. Dann blieben sie auf dem Treppenabsatz stehen und warteten. Niemand gab einen Laut von sich. Im Erdgeschoss klopfte McCabe an die Wohnungstür von Apartment 1F. »Barker?«, rief er.

Es kam keine Reaktion, aber McCabe konnte hören, wie jemand hinter der Tür herumschlich.

Er klopfte erneut. »Andrew Barker? Hier spricht die Polizei. Bitte machen Sie sofort die Tür auf.«

Noch mehr Geschlurfe hinter der Tür.

»Mr. Barker. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung. Wenn Sie die Tür jetzt nicht aufmachen, dann sehe ich mich gezwungen, sie mit anderen Mitteln zu öffnen.«

Etliche Sekunden verstrichen. Die Tür ging einen Spalt weit auf. Quer über die Öffnung spannte sich eine goldfarbene Sicherheitskette. Barker linste hervor. »Sie schon wieder. Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe? Was wollen Sie denn jetzt schon wieder?«

McCabe hielt ihm ein Blatt Papier vor die Nase. »Das hier ist ein Durchsuchungsbefehl, unterzeichnet von Harold Krickstein, Richter am Bezirksgericht. Damit sind wir befugt, Ihre Wohnung zu durchsuchen. Bitte machen Sie die Tür auf.«

»Und wenn ich Nein sage?«

»Glauben Sie mir, Mr. Barker, das sollten Sie besser nicht tun.«

Nach einem weiteren Moment des Zögerns schob Barker die Kette zurück und machte die Tür auf. Er war unrasiert und trug einen dunkelblauen Frotteebademantel. Darunter war er vermutlich nackt. Dürre weiße Beinchen mit kurzen schwarzen Socken ragten unter dem Bademantel hervor. McCabe hörte, wie Maggie und die drei Kriminaltechniker die Wohnung im ersten Stock aufschlossen und eintraten.

Barker runzelte die Stirn. »Wer ist das denn da oben?«

McCabe überhörte die Frage und schob sich an Barker vorbei in die Wohnung. Ein warmer Luftschwall hüllte ihn ein. Es herrschten deutlich über fünfundzwanzig Grad, und die ganze Wohnung stank nach Schweiß, Müll und schmutziger Wäsche.

Barker musterte McCabe misstrauisch. »Wer ist da oben?«

»Treten Sie zurück, Mr. Barker«, entgegnete McCabe. »Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür.«

Barker gab nach. McCabe schaute sich um. Auf fast jeder verfügbaren Fläche lagen Sachen herum. Kleidung, Videos und Zeitschriften. Die eine Wand wurde von einem Zweiundfünfzig-Zoll-Flachbildfernseher dominiert. Davor befand sich ein einsamer La-Z-Boy-Liegesessel mit fleckigem, braunem Kordbezug. Auf der Sitzfläche lag eine Zeitschrift namens Boobz. Eine nackte Frau mit den größten Brüsten, die McCabe je gesehen hatte, zierte das Cover. Hinter dem Liegesessel standen noch ein paar andere Sessel sowie eine altmodische Couch mit einem braun karierten Bezug.

»Wer ist das da oben?«, hakte Barker noch einmal nach.

McCabe deutete auf die braun karierte Couch. »Setzen Sie sich hin, Andy. Wir müssen miteinander reden.«

Barker gehorchte. McCabe baute sich vor ihm auf und zeigte ihm ein Blatt Papier. »Das hier ist eine Erlaubnis zur Durchsuchung Ihrer Wohnung.«

»Ich weiß. Das haben Sie schon gesagt. Und was wollen die jetzt da oben?«

»Detective Savage sucht zusammen mit einem Team von Kriminaltechnikern in der Wohnung 2F nach versteckten Kameras und Mikrofonen, Andy. Die Sie installiert haben, um Elaine Goff zu bespitzeln.«

Barker wollte aufstehen. Sein Gesicht war zornrot angelaufen. »Das können die doch nicht … Was, zum Teufel, soll denn das?«

McCabe schob ihn sanft wieder zurück auf das Sofa. »Ich denke, Sie sollten lieber sitzenbleiben, Sie kleiner Heimwerker, und mir alles über Ihre Videosammlung erzählen.«

Barkers Wut schlug in Angst um. Er fing an, wie wild zu zwinkern, wahrscheinlich ein nervöser Tick. Seine Hände zitterten. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.«

»Aber, Andy, na klar wissen Sie das. Die heimlichen Videoaufnahmen von Lainie. Sie haben sie gern beobachtet, stimmt’s, Andy? Hat doch besser ausgesehen als diese Weiber im Boobz, oder etwa nicht? Wissen Sie, ich kann mir das gerade richtig gut vorstellen, wie Sie da in ihrem La-Z-Boy sitzen und sich daran aufgeilen, dass Sie Lainie beobachten können, ohne dass sie es weiß. Was hat Ihnen denn am meisten Spaß gemacht? Wenn sie sich ausgezogen hat? Wenn sie gebadet hat? Oder vielleicht doch, wenn sie mit jemandem im Bett war? Sie haben sich das alles angeschaut, stimmt’s? Auf Ihrem Super-Duper-Zweiundfünfzig-Zoll-Plasmafernseher da. Oder ist es ein LCD-Gerät? Das bringe ich immer durcheinander.«

Barker zwinkerte einfach nur.

»Sie sind ja ein richtiger kleiner Spanner, was, Andy?«

Barker schloss die Augen und fing an, sein Mantra herunterzubeten. »Ich habe das Recht zu schweigen …«

»Andy, Andy.« McCabe hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Bitte fangen Sie doch nicht wieder damit an. Das Lied kennen wir wirklich schon zur Genüge.«

»Ich habe das Recht zu schweigen«, setzte Barker erneut an. »Alles, was ich sage, kann und wird vor Gericht gegen mich verwendet werden. Ich habe das Recht auf einen Anwalt, der während der Befragungen anwesend …«

»Ja, das stimmt, Andy, aber jetzt warten Sie doch mal einen Moment. Vielleicht wollen Sie ja gar nicht mehr schweigen, wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Barker schaute ihn nur wortlos an.

McCabes Handy klingelte. »Ja? Ja. Gut. Danke.«

Er steckte das Handy weg und wandte sich wieder an Barker. »Das waren die Leute von oben. Sie haben in den alten Deckenlampen Ihre versteckten Kameras entdeckt. Eine im Schlafzimmer. Eine im Badezimmer. Eine im Wohnzimmer.« McCabe warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Das Ganze hat gerade mal zehn Minuten gedauert. Sie machen jetzt nur noch mal einen Kontrolldurchgang, um sicherzustellen, dass sie nichts übersehen haben.«

Barker holte einmal tief Luft und starrte auf den Fernseher. »Was wollen Sie von mir?«

»Na ja, Sie wollten bestimmt nicht, dass die ganzen guten Szenen, die Sie sich so reingezogen haben, verloren gehen, also schätze ich mal, Sie haben alles auf Video aufgezeichnet. Außerdem schätze ich, dass diese Videos irgendwo hier in der Wohnung sind.«

McCabe wartete auf eine Antwort. Als er keine bekam, fuhr er fort. »Mit diesem Durchsuchungsbefehl haben wir das Recht, Ihr Apartment komplett auseinanderzunehmen, so lange, bis wir Ihr kleines Versteck mit den Videos gefunden haben. Anschließend würden wir wieder in die Middle Street fahren und uns Ihre ganzen schmutzigen Aufzeichnungen anschauen, bis wir gefunden haben, wonach wir suchen. Aber andererseits würden wir uns damit wohl bloß einen ziemlichen Haufen überflüssige Arbeit machen, meinen Sie nicht auch, Andy? Denn stattdessen könnten Sie uns ja auch einfach die Videos raussuchen, nach denen wir suchen.«

»Wonach suchen Sie denn?«

»Wir wollen das Video von dem Kerl, der am Freitagabend, bevor ich aufgetaucht bin, Lainies Wohnung durchsucht hat. Und dazu alle anderen Aufnahmen, wo sie im Gespräch mit einem Mann, möglicherweise sogar demselben Mann, zu sehen ist, entweder persönlich oder am Telefon.«

»Und was habe ich davon?«

»Sie übergeben uns die Videos und bekommen eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und Verletzung der Privatsphäre. Eine mindere Straftat, Höchststrafe ein Jahr, die Sie vermutlich in einem Bezirksgefängnis und nicht im Bundesgefängnis absitzen könnten. Und wenn sonst nichts gegen Sie vorliegt und Sie nicht vorbestraft sind, bekommen Sie vielleicht sogar Bewährung.«

»Und wenn ich sie nicht übergebe?«

»Dann wird aus der Sache das, was ich gern als »den Bösewichtern unter die Arme greifen« bezeichne. Der Bundesstaat Maine nennt es Strafvereitelung. Eine schwere Straftat. Bis zu zehn Jahren im Bundesgefängnis. Auch ohne Vorstrafen mindestens vier. Und das wären harte Jahre, Andy. An einem Ort, wo ein niedlicher kleiner Kerl wie Sie unter Umständen nicht allzu gut zurechtkommt. Wenn Sie uns also helfen, bleibt Ihnen das Gefängnis erspart. Wenn nicht, reden wir über vier bis zehn Jahre. Ich finde, das klingt nach einem ziemlich guten Geschäft, aber es ist Ihre Entscheidung.«

»Kann ich darüber nachdenken?«

»Sicher. Sie haben eine Minute.«

»Kann ich das schriftlich haben?«

»Das gibt es bereits schriftlich. Schlagen Sie einfach im Gesetzbuch nach: Verletzung der Privatsphäre oder Strafvereitelung.«

»Kann ich die anderen Videos behalten?«

»Sie meinen, die von Lainie?«

»Ja.«

McCabe bemühte sich nach Kräften, keine Miene zu verziehen. Was war denn das für ein Vollidiot? »Nein, ich fürchte nicht.«

Barker seufzte, stand auf und ging zu einem DVD-Player, der auf einem Tisch neben dem Fernseher stand. Darauf lag eine DVD. Er hob sie auf, schaltete den Player ein, drückte die Auswurftaste und entnahm eine zweite Scheibe. Dann übergab er beide McCabe. »Ich glaube, das ist das, wonach Sie suchen.«

»Wo ist der Rest?«

»Im Schrank. Da gibt es eine abnehmbare Rückwand. Geht ganz leicht. Man muss nur den Riegel finden. Da steht eine Schachtel. In der bewahre ich alles auf.«

Angstschrei: Thriller
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