11
McCabe war bisher noch nie auf der Polizeiwache von Harts Island gewesen. Sie war nichts Besonderes. Im vorderen Teil ein kleiner Büroraum mit einem Schreibtisch, ein paar Stühlen, einem Polizeifunkgerät, einer Drucker-Scanner-Fax-Kombination sowie zwei Computern: einem in die Jahre gekommenen Desktop und einem der silbernen Laptops, die zur Standardausrüstung der Streifenwagen des Portland Police Department gehörten. Daniels nuckelte an einer Cola und lehnte mit dem Hintern an der Schreibtischkante. Hinter ihm war eine offene Tür zu erkennen. McCabe ging hinüber und warf einen Blick in einen kleinen, spärlich möblierten Aufenthaltsraum, der von einer zerschlissenen braunen Couch mit abgewetzten Armlehnen, einem Paar kotzgrüner Vinylsessel sowie einem kreisrunden, mit alten Zeitschriften und einigen Taschenbüchern übersäten Couchtischchen dominiert wurde. An der linken Wand führte eine Holztreppe nach oben. McCabe wusste, dass dort ein paar Feldbetten standen, damit die Inselpolizisten während ihrer langen Vierundzwanzig-Stunden-Schichten zwischendurch ein bisschen schlafen konnten. Unter der Treppe stand ein kleiner Kühlschrank und darauf eine Kaffeemaschine. Zu McCabes Rechter flimmerte ein unscharfes Red-Sox-Spiel über einen Fernseher in der Ecke. Musste eine Wiederholung sein. Im Januar war keine Baseball-Saison.
Als McCabe sich wieder umdrehte, sah er auf dem Schreibtisch einen kleinen Stapel Fotos liegen. »Quinn?« fragte er und griff danach.
»Ja, das ist sie«, erwiderte Daniels. »Die haben wir von ihrer Mutter bekommen.«
McCabe betrachtete sich die Bilder, insgesamt drei Stück. Auf dem ersten stand Abby vor der felsigen Küste und lächelte in die Kamera. Ein kräftiges, gesund wirkendes Mädchen mit üppiger Figur und einem Gesicht voller Sommersprossen. Wahrscheinlich war sie noch ein Teenager gewesen, als das Foto gemacht wurde. Hinter ihr spritzte die Gischt in die Luft, und der Wind fuhr ihr durch die lange rötlich braune Mähne, die das eine Auge komplett verdeckte. McCabe hätte Abby nicht gerade als hübsch bezeichnet, aber sie war trotzdem attraktiv auf eine offene, frische Weise, wie man sie so oft in Maine fand. Sie trug ein Sweatshirt, auf dem eine muskulöse Frau ihren kräftigen Bizeps spannte. Unter dem Bild waren die Worte GRRRRL POWER! zu lesen. McCabe lächelte. Eine Feministin auf Harts Island.
Das zweite Foto zeigte Abby im Heck eines Hummerkutters. Sie alberte für den Fotografen herum, der das Bild entweder vom Ende eines Anlegers oder vielleicht auch von einem zweiten Boot ganz in der Nähe gemacht haben musste. Sie trug ein kariertes Flanellhemd und einen dieser orangefarbenen, wasserdichten Overalls, die anscheinend obligatorisch dazugehörten, wenn man in Maine auf Hummerfang ging. Sie hielt einen großen, vielleicht zweieinhalb Kilo schweren Hummer am Schwanz gepackt und tat so, als hätte sie Angst vor dem Tier, das sich da am Ende ihres ausgestreckten Arms wand.
»Wie alt ist sie?«, wollte McCabe wissen.
»Ungefähr so alt wie ich«, meinte Daniels. »Vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Wie gesagt, wir waren im gleichen Abschlussjahrgang an der Portland High.«
»Waren Sie mit ihr befreundet?«, erkundigte sich Maggie.
»Kann man nicht sagen. Die von der Insel sind meistens unter sich geblieben, und meine Eltern haben ja in Portland gewohnt. Aber ich weiß, dass Abby an der Highschool ein völlig anderer Mensch war als jetzt.«
Auf dem dritten Bild sah sie tatsächlich aus wie ein völlig anderer Mensch. So anders, dass das Bild in einer Vorher-Nachher-Demonstration über die fürchterlichen Auswirkungen einer psychischen Krankheit auf den menschlichen Geist als »Nachher«-Motiv hätte dienen können. Sie sah fünfzehn, zwanzig Kilo schwerer und mindestens zehn Jahre älter aus. Die Haare hingen strähnig und trostlos hinunter. Ihr Blick war von einer leblosen Leere getrübt, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihre Haut wirkte käsig, fast grau.
Sie hatte eine Hand gehoben, um ihr Gesicht zu verdecken, als wollte sie sagen: Bitte, fotografier mich nicht. Nicht so.
»Ist das ein neueres Foto?«, wollte McCabe wissen und zeigte es Daniels, bevor er den Stapel an Maggie weiterreichte.
Daniels schüttelte den Kopf. »Nein. Ist wahrscheinlich nach ihrem letzten Aufenthalt in Winter Haven gemacht worden. Vor ungefähr einem Jahr. Das da im Hintergrund ist das Häuschen ihrer Mutter. Ich kann mir vorstellen, dass Gracie einfach nicht genügend Verstand oder Feingefühl besaß, um Abby so ein Foto zu ersparen.«
»Sieht sie im Augenblick auch so aus?«, wollte McCabe wissen.
»Na ja, zurzeit ist sie nicht so dick, hat vielleicht zehn, fünfzehn Kilo weniger – und außerdem wäscht sie sich die Haare. Sie sieht normaler aus. Pummelig, aber normal. Das letzte Mal habe ich sie vor ungefähr einer Woche gesehen. Da war sie auf dem Weg zur Arbeit ins Nest. Sie hat beinahe glücklich ausgesehen.«
McCabe steckte die Fotos in seine Brusttasche. »Es geht doch in Ordnung, dass ich mir die ausleihe, oder?«, sagte er. Niemand hatte etwas dagegen. Er warf einen Blick zu Bowman hinüber, der sich auf einen Drehstuhl gesetzt hatte und McCabe direkt in die Augen starrte. Er hatte ein Bein auf den Schreibtisch gelegt. Etliche Eisbrocken hatten sich von seiner Stiefelsohle gelöst und bildeten nun auf der Holzimitatplatte kleine Teiche. »Wissen Sie, was?«, sagte er. »Wenn Sie tatsächlich befürchten, dass der Killer Quinn auf den Fersen ist und sie umbringen will, dann regen Sie sich besser mal wieder ab. Ich halte das für unwahrscheinlich.«
»Ach, tatsächlich?« McCabe musterte ihn genau. »Gibt es auch einen Grund für diese Annahme? Oder meldet sich da nur Ihr ganz natürlicher Optimismus zu Wort?«
Bowman überhörte den sarkastischen Tonfall. »Es gibt mehrere Gründe. Angefangen bei Ihrer Vermutung, dass die Quinn tatsächlich diesen Mord beobachtet hat …«
»Eine ziemlich naheliegende Vermutung, Scotty«, schaltete sich Maggie ein. Sie hatte sich an die Tür gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, und hielt immer noch die Fotos von Abby Quinn in der Hand. »Ein Messerstich in den Nacken ist ein ziemlich entscheidendes Detail.«
»Das stimmt, Detective Savage.« Die letzten beiden Worte würzte Bowman nun ebenfalls mit einer kräftigen Prise Sarkasmus. »Aber wäre es nicht zumindest denkbar, dass Quinn die Leiche erst nach der Tat gesehen hat? Eine nackte Frau. Tot. Mit einer kleinen Wunde im Nacken. Meinen Sie nicht, dass dieser Anblick sie so durcheinandergebracht haben könnte, dass sie sich den ganzen Rest bloß ausgedacht hat? Ihn halluziniert hat? Ihn sich nur eingebildet hat? Oder wie immer das heißt, was Schizos machen, wenn sie Stress ausgesetzt sind.« Bowman wirkte sehr zufrieden mit seiner Theorie.
McCabe zuckte mit den Schultern. »Ziemlich verdrehte Logik, aber ausschließen kann man es wahrscheinlich nicht.«
»Ach ja? Inwiefern denn bitte verdreht?«
»Na ja, wenn es tatsächlich so passiert sein sollte, wo genau war denn dann der Killer, als Ihre Schizoide die Leiche entdeckt hat? Hat er sich vielleicht im Schrank versteckt? Oder ist draußen in der Kälte herumspaziert und hat gewartet, bis sie sich abgeregt hat, damit er wieder reingehen und seine Sachen einsammeln kann? Oder war er vielleicht drüben im Crow’s Nest und hat sich ein Bier genehmigt? Wie gesagt, nicht auszuschließen. Aber nicht besonders wahrscheinlich.«
Bowman stieß widerwillig einen zustimmenden Seufzer aus. »Okay. Aber selbst im Fall, dass Abby den Killer auf frischer Tat ertappt hat, selbst dann hat er ihr Gesicht wahrscheinlich gar nicht gesehen.«
»Wie meinst du das?«, hakte Maggie nach. »Sie hat sein Gesicht gesehen, also warum sollte er ihres nicht auch gesehen haben?«
»Weil«, erklärte Bowman, »sie eine Maske getragen hat.« Er setzte ein grimmig zufriedenes Lächeln auf, wie ein Fußballer, der in den letzten Sekunden der Niederlage noch einen bedeutungslosen Treffer erzielt hat.
Maggie schaute ihn fragend an. »Was für eine Maske?«
»Eine Skimaske. Du weißt schon, so eine Gesichtsmaske mit Löchern für Augen, Nase und Mund. Sie war blau. So eine Art Spider-Man-Design. Als sie auf die Wache gekommen ist, hat sie sie jedenfalls immer noch aufgehabt.«
Was, wenn Quinn tatsächlich eine Maske getragen hatte? McCabe überlegte, was das zu bedeuten hätte, während Maggie und Bowman ihr Frage-Antwort-Spiel fortsetzten.
»Und diese Maske hat sie getragen, weil …?«, sagte Maggie.
»Sie war an dem Abend joggen. Der Wind am Strand kann auf der bloßen Haut brutal schmerzhaft sein, und ich nehme an, dass die Maske Teil ihrer Ausrüstung war. Jedenfalls, als sie am Haus der Markhams vorbeigelaufen ist …«
»Das ist der Tatort?«
»Genau. Als sie dort vorbeigekommen ist, hat sie hinter einem der Fenster Kerzenlicht gesehen. Und da es eines von ihren Häusern ist …«
»Was soll das denn heißen, eines von ihren Häusern?«
»Abby verdient sich nebenbei ein paar Dollar, indem sie auf das ein oder andere Sommerhaus aufpasst. Sie hat zu jedem Haus einen Schlüssel. Und das der Markhams gehört dazu. Nach allem, was Lori Sparks aus dem Nest gesagt hat, nimmt sie ihre Aufgabe ernst. Ich schätze mal, darum ist sie überhaupt ins Haus gegangen und hat nachgesehen.«
McCabe fixierte Bowman aus schmalen Augenschlitzen. »Meinen Sie nicht, dass sie die Maske dabei abgenommen hat?«
»Das glaube ich nicht. Als sie hier reingekommen ist, hat sie sie auch aufgelassen. Ich hab zuerst gar nicht gewusst, wer sie ist, und musste sie zweimal bitten, das Ding abzunehmen. Irgendwann hat sie schließlich auf mich gehört, aber nur widerwillig, und selbst dann hat sie sie nicht aus den Händen gelassen. Ich glaube, die Maske war für sie so was wie ein, wie soll ich sagen, eine Art Talisman oder so.«
McCabe spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch. Falls Abby eine Maske getragen hatte, falls der Killer, wie Bowman annahm, ihr Gesicht nicht gesehen hatte, dann hatte das entscheidenden Einfluss auf ihr weiteres Vorgehen. »Sind Sie sicher, dass Sonny Cates den Leuten aus dem Suchtrupp nicht gesagt hat, warum nach Quinn gesucht wird?«, wollte er wissen. »Er hat niemandem verraten, dass sie eine Mordzeugin ist?«
»Nein«, erwiderte Bowman. »Konnte er gar nicht. Wie gesagt, er weiß es ja selbst nicht. Ich hab ihm bloß gesagt, dass Quinn vermisst wird und dass wir sie finden müssen. Mehr hat übrigens auch Daniels nicht gewusst, bevor wir zum Anleger gefahren sind, um Sie abzuholen.«
Okay, das war gut. »Was ist mit ihrer Mutter und den Leuten im Crow’s Nest?«
»Genau das Gleiche. Ich hab einfach nur gefragt, ob sie wissen, wo Abby sich aufhält. Sie haben Nein gesagt. Travis Garmin hat mir empfohlen, es auf ihrem Handy zu probieren. Die Nummer kannte er auswendig. Ich hab’s probiert, aber niemand ist rangegangen.«
McCabe stellte sich ans Fenster und schaute auf die dunkle Straße hinaus. Schneefall hatte eingesetzt. Kleine, feste Flocken, nicht die dicken, flauschigen, die er lieber mochte. Er ließ sich die Sache mit der Maske ein, zwei Minuten lang durch den Kopf gehen, spielte verschiedene Ideen durch. Eines war jedenfalls klar: Sie mussten Abby Quinn finden, so schnell wie möglich, entweder hier oder auf dem Festland. Und gleichzeitig durften sie sie auf keinen Fall dadurch in Gefahr bringen, dass sie dem Killer verrieten, wer ihn bei seiner Tat beobachtet hatte. Er überlegte, ob er Abby als vertrauliche Informantin einstufen sollte. Auf diese Weise könnten sie ihre Identität praktisch unbegrenzt geheim halten, oder zumindest bis zur Vorbereitungsphase des Prozesses, falls es je dazu kommen sollte.
Das einzige Problem war, dass seine Informantin vermisst wurde und dass es verdammt viel schwieriger werden würde, sie ausfindig zu machen, wenn sie niemandem sagen konnten, nach wem eigentlich gesucht wurde. Nein. Das hatte keinen Sinn. Sie mussten sich eine andere Strategie zurechtlegen. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann mussten sie den Leuten zumindest sagen, nach wem sie suchten. Nur den Grund dafür, den durften sie unter keinen Umständen preisgeben. Wenigstens in diesem Punkt hatte Bowman noch nicht alles verpfuscht.
McCabe zog sein Handy aus der Tasche und gab Starbucks’ Nummer ein. Starbucks war der Computerspezialist des Portland Police Department und hieß eigentlich Aden Yusuf Hassan. Er war im Jahr 2000 als Jugendlicher aus Somalia nach Portland gekommen, mit der ersten Flüchtlingswelle, als zahlreiche Sudanesen und Somalier vor den Völkermorden in ihren Heimatländern geflohen waren. Als er einige Jahre später anfing, im Polizeipräsidium zu arbeiten, hatten seine Kollegen ihn wegen seiner Kaffeesucht Starbucks getauft. Der Name blieb haften. Obwohl Starbucks in seiner Heimat nie einen Computer angerührt hatte, lernte er schnell. Er war ein Naturtalent. Einer der besten, die McCabe je gesehen hatte.
Beim dritten Klingeln meldete sich seine Mutter. »Ich fürchte, Aden ist nicht zu Hause, Sergeant«, sagte sie. Sie sprach Englisch mit starkem Akzent. »Er ist heute Abend mit einer Freundin unterwegs.«
McCabe bedankte sich, entschuldigte sich, falls er sie geweckt haben sollte, und versuchte es auf Starbucks’ Handy. »Hallo, Sergeant«, rief Starbucks ins Telefon, um die laute Musik im Hintergrund zu übertönen. »Was gibt’s?«
»Tut mir leid, dass ich dir deinen Abend vermiesen muss«, gab McCabe mit lauter Stimme zurück, »aber du musst dich sofort auf den Weg in die 109 machen.«
»Oh.« Er klang enttäuscht. »Okay.« Pause. »Kein Problem.« Seine Stimme wurde wieder fröhlicher. »Ich muss mich zuerst noch bei meiner Freundin entschuldigen und sie nach Hause bringen.«
»Ich entschuldige mich ebenfalls, sag ihr das.«
»Mach ich, ist aber kein Problem, Sergeant. Der Job geht vor. Was kann ich für Sie tun?«
»Du bekommst drei Fotos von einer Frau zugemailt. Wenn du im Büro bist, dann nimmst du dir das Bild vor, auf dem sie alt und aufgequollen aussieht. Mach sie ungefähr fünfzehn Kilo leichter. Anschließend machst du sie auf den anderen beiden Fotos um, sagen wir, fünf Jahre älter. Hast du alles verstanden?«
»Ja, Sergeant«, rief Starbucks zurück. »Ich kann Sie sehr gut hören.«
»Gut. Wenn du fertig bist, dann schickst du die Fotos an Clearys Mailadresse.«
»Ist er in der 109?«
»Demnächst.«
Maggie setzte an, eine Frage zu stellen. McCabe hob die Hand, um ihr zu signalisieren, dass sie noch kurz warten sollte. Er rief Cleary an.
»Hallo, Chef. Na, hast du den Mord schon aufgeklärt?« Es war kurz vor ein Uhr nachts, und Cleary war aufgekratzt wie immer und machte den Eindruck, als könnte er Bäume ausreißen. Das war gut. McCabe brauchte für diesen Fall jemanden, der aggressiv bei der Sache war.
»Noch nicht«, erwiderte McCabe. »Hat die Befragung irgendetwas Brauchbares ergeben?«
»Ebenfalls noch nicht. Wir sind immer noch dabei.«
»Sag Tommy, dass ich dich abziehe.«
»Ach ja?« Cleary klang verblüfft. »Wieso denn? Was soll ich machen?«
McCabe weihte ihn in alles ein, was sie bisher erfahren hatten, einschließlich der Tatsache, dass Quinn den Killer nicht identifizieren konnte und dass der Killer umgekehrt möglicherweise auch Quinn nicht erkannt hatte.
»Weiß der Täter denn, dass sie ihn nicht identifizieren kann?«
»Nein. Und genau darum müssen wir sie finden, bevor er uns zuvorkommt. So schnell wie irgend möglich. Ohne dass irgendjemand erfährt, weshalb wir nach ihr suchen, und ohne dass ihr Name bekannt wird, es sei denn, es ist unbedingt nötig. Sonst haben wir womöglich bald noch eine Leiche.«
»Meine Güte«, erwiderte Cleary, »das klingt ja alles ziemlich seltsam.«
»Ja, ziemlich. Jedenfalls wird Starbucks sich gleich ein paar Fotos vornehmen. Wenn er damit fertig ist, müssten sie der Gesuchten ziemlich ähnlich sehen. Ich möchte, dass du eine vertrauliche Fahndungsmeldung an alle Streifenwagen und jede andere Polizeidienststelle in Maine rausschickst. An die State Police von Maine und die von New Hampshire auch. Irgendjemand soll bei sämtlichen Taxifirmen in der Stadt nachfragen. Lass die Bahnhöfe und Busbahnhöfe überwachen. Vielleicht taucht sie dort irgendwo auf. Um 3.15 Uhr geht ein Zug nach Boston.«
»Wer nimmt denn um drei Uhr morgens einen Zug nach Boston?«
»Keine Ahnung. Sorg einfach dafür, dass Abby Quinn nicht dazugehört. Und schau dir auch die ersten Flüge an, die vom Jetport rausgehen.«
»Da fliegt erst mal gar nichts ab. Nicht bei dem Schnee, der erwartet wird.«
»Wahrscheinlich nicht, aber sag unseren Leuten, sie sollen trotzdem die Augen offen halten. Wenn ich Abby Quinn wäre, ich würde zusehen, dass ich so schnell und so weit wie möglich von hier wegkäme.«
»Ja, schon, aber du bist auch nicht verrückt. Hat sie ein Auto?«
»Weiß ich nicht. Überprüf das auch. Vielleicht ist ja ein Wagen auf sie zugelassen. Oder auf ihre Mutter. Grace Quinn. Die gleiche Adresse auf Harts Island.«
»Sonst noch was?«
»Ja. Ruf mich an, sobald du fertig bist.« McCabe legte auf.
»Wissen Sie was, McCabe?«, stieß Bowman verächtlich hervor. »Sie geben sich so viel Mühe, die ganze Sache ja bloß unter dem Teppich zu halten … aber was ist mit Abby Quinn selbst?«
»Was ist denn mit ihr?«
»Ihre Zeugin kann sich doch selbst absolut nicht beherrschen. Wahrscheinlich läuft sie gerade irgendwo da draußen rum und redet sich um Kopf und Kragen.«
McCabe zuckte mit den Schultern. »Tja, kann sein. Dann können wir auch nichts daran ändern. Aber vielleicht glaubt ihr ja keiner. Sie wissen schon. Das Gebrabbel einer psychotischen Irren und so weiter? Und jetzt hören Sie mal auf, sich darüber Gedanken zu machen, und erzählen mir stattdessen ganz genau, was am Dienstagabend sonst noch so passiert ist.«
»Im Prinzip wissen Sie schon alles. Sie ist hierhergekommen. Sie hat rumgebrabbelt. Sie hat getobt. Dann hab ich sie nach Hause gebracht. Ende der Geschichte.«
»Und anschließend sind Sie zum Tatort gefahren, oder etwa nicht?«
»Ja, bin ich. Ein schicker Kasten direkt am Strand, man muss nur über die Straße, um zum Wasser zu gelangen. Gehört irgend so einem Banker aus Boston, einem gewissen Todd Markham.«
»Und da ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nein. Hab mir jedes Zimmer angeschaut, auch das Schlafzimmer, wo es angeblich passiert sein soll. Da war nichts zu sehen. Keine Waffe. Keine Leiche. Kein Blut. Nicht an den Stellen, die sie beschrieben hat, und auch nirgendwo sonst.«
»Aber andererseits haben Sie auch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Ihnen irgendetwas Besonderes auffallen würde, oder?«
»Was soll das denn heißen?«
»Nun ja, es kann natürlich sein, dass Sie deshalb nichts bemerkt haben, weil Sie die Möglichkeit, dass etwas nicht stimmen könnte, gar nicht einkalkuliert haben.« McCabe wusste sehr gut, dass Erwartungen manchmal in der Lage waren, ihre eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Dass sie selbst die Urteilsfähigkeit eines intelligenten Polizisten vernebeln konnten … und Bowman war nicht einmal übermäßig intelligent. »Hoffen wir einfach, dass Sie keine Indizien vernichtet haben.«
»Hab ich nicht.«
»Wie sind Sie reingekommen?«
»Die Tür war offen.«
»Vordertür? Hintertür?«
»Ich bin vorne rein.«
»Und Abby?«
»Weiß ich nicht.«
»War die Hintertür abgeschlossen?«
»Weiß ich nicht.«
»Keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen?«
»Nein. Wie gesagt. Abby hatte einen Schlüssel. Sie hat einfach aufgeschlossen.«
»Ja, ich weiß. Das haben Sie schon gesagt. Abby hat einen Schlüssel. Aber wie ist der Killer reingekommen?«
Bowman legte die Stirn in Falten. »Weiß ich nicht.« Pause. »Hab ich noch nicht drüber nachgedacht.«
Er hatte nicht darüber nachgedacht, weil er sich so verdammt sicher gewesen war, dass Quinn das alles bloß erfunden hatte.
»Haben Sie die Telefonnummer der Markhams in Boston?«, wollte McCabe wissen.
»Die können wir besorgen.« Daniels erweckte den Desktop-Computer zum Leben und fing an, die Tastatur zu bearbeiten. Dann notierte er ein paar Zahlen auf einem Post-it-Zettel. McCabe nickte Maggie zu, die nickte zurück, nahm den Zettel und verschwand im Hinterzimmer, um sich zu erkundigen, wo Todd Markham am Dienstagabend gewesen war.
»Abby hat also keine Beschreibung des Täters abgegeben?«
»Nein. Bloß allerhand wirres Zeug, das keinerlei Sinn ergeben hat.«
»Was denn genau?«
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Sie hat gesagt, dass er von hinten wie ein Mann ausgesehen hat, aber als er sich umgedreht und sie angeschaut hat, da war er ein Monster. Mal sehen, ob ich noch zusammenkriege, wie sie sich genau ausgedrückt hat. ›Ein Feuerteufel. Eine böse animalische Fratze. Augen wie Eiszapfen.‹« In Bowmans Stimme lag ein gehässiger, spöttischer Ton.
McCabe ging nicht darauf ein. »Vielleicht hat er ja auch eine Maske getragen.«
»Glaub ich nicht«, erwiderte Bowman. »Abby ist verrückt. Sie halluziniert. Und genau so ist es auch mit diesem Monster: eine Halluzination, ausgelöst durch eine Stresssituation.«
»Was hat sie gemacht, nachdem sie den Mord beobachtet hatte?«
»Das ist nicht ganz klar, aber ich nehme an, sie ist weggerannt. Es gibt Fußspuren auf dem Eis und im Schnee, die sowohl zur Haustür als auch von ihr weg führen. Ziemlich verwischt, als wäre jemand schnell gerannt. So wie ich das gesehen habe, stammten die alle von Abby. An einer Stelle sah es so aus, als wäre sie gestürzt.«
McCabe schaute zum Fenster hinaus. Das Schneetreiben war dichter geworden.
Maggie kam zurück ins Büro. »Todd Markham sagt, dass ein Schlüssel für die Hintertür in einer Laterne an der Hauswand liegt, gleich neben der Tür. Ich habe ihn gefragt, wer alles von diesem Schlüssel weiß. Im Prinzip die halbe Insel. Klempner. Elektriker. Alle, die mal im Haus zu tun hatten, während die Besitzer nicht da waren. Ach übrigens, Markham selbst war am Dienstagabend in Chicago. Zum Abendessen mit ein paar seiner Mandanten. Hat im Hyatt übernachtet. Und in Boston war er erst wieder am …«
McCabe nickte. »Schon gut. Markhams Alibi können wir später besprechen. Aber jetzt fährst du mit Daniels zu dem Haus. Fotografiert und sichert jede erkennbare Fußspur, bevor der Schnee alles zudeckt. Gibt es hier vielleicht Plastikfolie?«
»Das nicht«, erwiderte Daniels und war bereits auf dem Weg in den hinteren Teil der Wache. »Aber draußen liegen ziemlich viele Abdeckplanen.«
Sie packten die Planen in den Explorer, dazu Zeltpflöcke aus Metall, um die Planen festzumachen, eine Digitalkamera und ein paar Lampen. Nicht gerade optimal, aber es musste reichen.
Als sie gerade losfuhren, ging die Vordertür auf. »Du liebe Güte«, sagte Sonny Cates, während er den Schnee von seinen Stiefeln stampfte. »Das ist die reinste Tiefkühltruhe da draußen.« Er war ein rundlicher, vergnügt wirkender Typ mit weißen Haaren. Ein Weihnachtsmann ohne Bart. Er streifte die Handschuhe ab. »Mike McCabe, hab ich recht?«
McCabe blieb am Fenster stehen, bis der Explorer auf die Straße gebogen war, dann nickte er und ergriff Cates’ ausgestreckte Hand. »Schon irgendwas gefunden?«
»Nee. Noch nicht.«
»Erläutern Sie mir doch bitte, wie genau Sie da draußen vorgehen.«
Sie gingen hinüber zu der Wand, an der eine große laminierte Übersichtskarte der Insel befestigt war. Daneben baumelte ein abwaschbarer Filzstift. »Ich habe die Insel im Prinzip in sechs ungefähr gleich große Sektoren unterteilt.« Er zog eine waagerechte Linie durch die Inselmitte, anschließend folgten zwei senkrechte. »Jedem Team habe ich einen Sektor zugewiesen.«
»Kommunikation?«
»Alle Teams haben ein Handy.«
»Wie ist der Empfang?«
»Unterschiedlich. An einigen Stellen geht’s. An anderen nicht. Zwei Teams haben ein Fahrzeug mit Funkgerät. Die habe ich dahin gesteckt, wo das Handynetz am schwächsten ist. Als Erstes suchen wir im Freien. Wenn sie bei diesem Wetter irgendwo draußen ist, dann wird es ziemlich schnell kritisch für sie werden. Außerdem überprüfen wir die alten Bunker hier, da und da oben.« Cates deutete auf drei Punkte auf der Landkarte. »Wissen Sie über die Bunker Bescheid?«
McCabe wusste Bescheid. Während des Zweiten Weltkriegs war Portland Start- und Landepunkt für zahlreiche Nord-Atlantik-Konvois gewesen, und die Armee hatte Harts Island zu einem zentralen Verteidigungsstützpunkt ausgebaut. Daher gab es auf der ganzen Insel immer noch zahlreiche Betonbunker und Wachttürme. Manche waren zu Werkstätten, Lagerhäusern oder Sommerhäusern umfunktioniert worden. Andere standen einfach leer. Einer davon, »Battery Victor«, groß, düster und verlassen, besaß unzählige Räume und zahlreiche Schlupflöcher.
»Was ist mit den Sommerhäusern? Die, zu denen sie einen Schlüssel hat?«
»Bis jetzt lediglich von außen kontrolliert. Bei dem Schnee kann man leicht erkennen, ob jemand in der Nähe herumgelaufen ist.«
»Irgendetwas Verdächtiges?«
»Abgesehen von ein paar Wildspuren bis jetzt nichts. Nur beim Haus der Markhams, das ist da.« Cates deutete auf einen Punkt auf der Landkarte. »Aber wenn es jetzt schneit, dann werden die alten Spuren ziemlich bald nicht mehr zu sehen sein. Dann müssen wir die einzelnen Besitzer anrufen und einen Blick in jedes Haus werfen.«
»Hat irgendjemand nachgefragt, weshalb wir nach ihr suchen?«
»Ich hab nur gesagt, dass sie vermisst wird. Die Leute wissen alle, dass sie psychische Probleme und schon zwei Selbstmordversuche hinter sich hat, also stellt niemand unnötige Fragen.«
Draußen tauchte ein Scheinwerferpaar auf. Maggie und Daniels waren zurück.