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McCabes Schritte hallten durch das Halbdunkel des Marmorfoyers im Monument Square Nummer zehn. Er näherte sich dem runden Tresen des Wachpersonals. Ein junger Mann mit Hornbrille und blauem Blazer sah ihm entgegen. Oberhalb der Brusttasche des Blazers waren in goldenen Lettern die Worte METCO SECURITY aufgestickt. Neben dem Tresen stand eine grauhaarige Frau, die Hände in den Taschen ihres offenen Wollmantels vergraben. Unter dem Mantel trug sie eine ausgewaschene Blue Jeans und ein blaues Sweatshirt der University of Maine – ganz offensichtlich hatte sie für ihren spätabendlichen Abstecher ins Büro einfach schnell irgendetwas angezogen. McCabe schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie machte einen nervösen Eindruck.

»Ms. Kotterman?«, sagte er in fragendem Ton.

»Ja, ich bin Beth Kotterman. Und Sie müssen Sergeant McCabe sein.«

»Richtig. Es tut mir leid, dass wir Sie schon wieder stören müssen an Ihrem Freitagabend.«

»Das macht nichts. Nicht in solch einer Situation. Wissen Sie denn schon mehr über …«, sie suchte nach den richtigen Worten, »… über das, was passiert ist?«

»Ich würde das lieber in Ihrem Büro besprechen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Selbstverständlich. Kommen Sie mit.«

»Äh … Entschuldigung, Sir«, sagte der Wachmann. »Würden Sie sich vielleicht erst noch hier eintragen?«

»Er gehört zu mir, Randall. Der Herr ist von der Polizei.«

»Tut mir leid, Ms. Kottermann, aber Polizei hin oder her, er muss sich eintragen«, erwiderte der Wachmann. »In den Vorschriften steht, dass sich alle eintragen müssen. Mit Ausnahme der Polizei‹ steht da nicht.« Der Wachmann lächelte. Er hatte wahrscheinlich noch nicht oft Gelegenheit gehabt, einen Polizeibeamten zu schikanieren, und genoss diesen Augenblick sichtlich.

»Kein Problem«, meinte McCabe und erwiderte das Lächeln. »Möchten Sie meinen Ausweis sehen?«

Der Wachmann zuckte die Schultern. »Wenn’s geht.«

McCabe klappte seine Dienstmarke auf und legte sie auf den Tresen, griff nach dem Stift und dem Klemmbrett, kritzelte seinen Namen in die erste freie Zeile und fügte gleich noch die Zeit hinzu: 22.32 Uhr. Es war der letzte Eintrag in einer langen Liste mit Namen. Bis auf den von Beth Kotterman kam ihm keiner bekannt vor.

Der Wachmann warf einen Blick auf McCabes Marke und reichte sie ihm anschließend zurück. »Danke.«

»War mir ein Vergnügen. Müssen Besucher sich eigentlich auch wieder austragen?«

»Jeder, der nicht hier arbeitet, ja. Wer sich einträgt, muss sich auch wieder austragen.«

»Und was ist mit denen, die hier arbeiten?«

»Die müssen sich erst nach 18.00 Uhr ein- oder austragen.«

»Und zeigen die Ihnen auch immer ihren Ausweis?«

»Nein. Laut Vorschriften ist das nicht erforderlich.«

Dämliche Vorschriften, dachte McCabe. Dann konnte man sich ja mit jedem x-beliebigen Namen eintragen. »Ms. Kotterman, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Randall noch ein paar Fragen stelle?«

Kotterman schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich hätte sie die Angelegenheit am liebsten so schnell wie möglich hinter sich gebracht, aber sie sagte: »Kein Problem. Ich erwarte Sie in meinem Büro. Wenn Sie hier fertig sind, lassen Sie mich einfach anrufen. Dann hole ich Sie ab.«

Der Wachmann musterte McCabe. »Worüber wollen Sie denn mit mir reden?«

»Ich möchte Ihnen lediglich ein paar Fragen stellen.«

»Die muss ich aber nicht beantworten.«

»Nein, ich schätze nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Freunde bei METCO SECURITY Ihnen sehr verbunden wären, wenn Sie es täten. Also, wie war doch gleich Ihr Nachname?«

»Jackson. Randall Jackson.«

»Also gut, Randall«, sagte McCabe, »mal sehen, ob ich die Vorschriften auch kapiert habe. Sie sagen also, dass alle Besucher sich ein- und auch wieder austragen müssen. Aber für die, die hier arbeiten, gilt das erst nach 18.00 Uhr. Ist das so richtig?«

»Ja, genau. Das ist richtig.«

»Und woher wissen Sie, wer wer ist?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kennen Sie denn alle, die hier im Gebäude arbeiten?«

»Die meisten schon. Zumindest vom Sehen. Die, die ich nicht kenne, tragen sich entweder ein oder zeigen mir ihren Hausausweis.«

»Und da schlüpft keiner durch die Maschen, ohne sich einzutragen?«

Der Wachmann blickte McCabe einen Moment lang aufmerksam an. »Nicht, wenn ich Dienst habe.«

»Und wenn jemand anders Dienst hat?«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Ist dieser Tresen hier immer besetzt?«

»Ja, sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag.«

»Arbeiten Sie alleine, oder haben Sie noch einen Partner?«

»Tagsüber sind wir zu zweit. Nachts bin ich alleine.«

»Was machen Sie, wenn Sie mal aufs Klo müssen?«

»Unten im Keller gibt es einen Pausenraum. Mit Toilette.«

»Dann könnte sich also jemand unbemerkt reinschleichen, während Sie gerade beim Pinkeln sind?«

»Nein. Die Tür, durch die Sie gerade reingekommen sind – die schließe ich ab, wenn ich nach unten muss.«

»Und es gibt keinen anderen Eingang?«

»Nachts nicht. Die Hintertür lässt sich nur von innen öffnen, und die Garage ist immer zu. Das Tor geht nur mit einer Schlüsselkarte auf, und die haben nur die Rechtsanwälte.«

Ziemlich gängige Maßnahmen zur Gebäudesicherung. Nicht schlecht, aber auch nicht so gut, dass man jemanden, der entschlossen oder clever genug war, am heimlichen Betreten hindern konnte. »Arbeiten Sie nur hier, oder werden Sie von METCO immer wieder an unterschiedlichen Stellen eingesetzt?«

»Normalerweise hier, gelegentlich auch in anderen Häusern. METCO betreut ja die meisten größeren Gebäude hier in der Stadt.«

»Waren Sie am Abend des 23. Dezember auch hier?«

»Warum wollen Sie das denn wissen?«

»Gerade eben habe ich Sie gefragt, ob hier auch mal jemand, ohne sich einzutragen, hineinschlüpfen könnte, und Sie haben gesagt: Nicht, wenn ich Dienst habe.‹ Und jetzt frage ich mich, ob Sie vielleicht am Abend des Dreiundzwanzigsten Dienst hatten.«

»Am Dreiundzwanzigsten?«

»Ja. Am Dreiundzwanzigsten.«

Der Wachmann starrte McCabe an. Nach längerem Schweigen sagte er: »Also am Freitag vor Weihnachten?«

»Ganz genau.«

»Ja, da war ich hier. Ich habe eine Doppelschicht gemacht. Hab mit einem Kollegen getauscht, damit ich Weihnachten freimachen kann. Um vier Uhr nachmittags hab ich angefangen und war bis acht Uhr morgens da.«

»Ganz schön lange.«

»Ja, ich wollte eben an Weihnachten zu Hause bei meinen Kindern sein.«

Aha, er hatte also Kinder. Machte ihn das irgendwie vertrauenswürdiger? Nicht automatisch. »Ist Ihnen an diesem Tag irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen, irgendetwas, das Ihnen im Gedächtnis hängen geblieben ist? Überlegen Sie mal.«

Randall überlegte. Eine Minute lang sagte er gar nichts. Dann nickte er, als hätte er den Tag noch einmal Revue passieren lassen. »Das einzig Ungewöhnliche war, dass die Leute wegen der Feiertage alle früher als sonst nach Hause gegangen sind. Ich glaube, viele sind nach der Mittagspause gar nicht mehr wiedergekommen. Um fünf war es eigentlich schon fast leer, bis auf die Chefs. Die sind alle gemeinsam gegangen, so gegen sechs, halb sieben. Die meisten schienen ziemlich gut aufgelegt zu sein und haben mir was zu Weihnachten zugesteckt. Soweit ich mich erinnere, haben sich nur ganz wenige später noch ausgetragen. Normalerweise arbeiten hier viele bis spät in die Nacht.«

»Und wer waren die Nachzügler an dem Abend?«

»Die erste war eine von den jüngeren Anwältinnen, Miss Goff. Verdammt hübsche Frau. Die hab ich sogar mehrfach gesehen.«

»Wann denn?«

»Das erste Mal so gegen acht. Das weiß ich noch, weil sie nicht mal einen Mantel angehabt hat, und draußen war es echt a…« Jackson unterbrach sich.

»Arschkalt?«, fragte McCabe.

»Ganz genau. Arschkalt. Sie hat sich aber gar nicht erst ausgetragen. Hatte einen Federal-Express-Umschlag in der Hand und wollte gleich wieder da sein.«

»Und, war sie’s?«

»Ja. Zwei Minuten später. Mit einem Hotdog von dem Stand draußen auf dem Platz. Muss wohl ziemlichen Hunger gehabt haben.«

»Und das zweite Mal?«

»Ungefähr eine Stunde später ist sie dann endgültig gegangen, gegen neun. Ist fuchsteufelswild zur Tür rausgestürmt. Sie muss über irgendwas furchtbar wütend gewesen sein. Auch da hat sie sich nicht ausgetragen. Ich hab ihr noch hinterhergerufen. Aber sie hat mir bloß den Finger gezeigt.« Bei der Erinnerung musste Randall lächeln. »Mannomann, war die sauer.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Gar nichts. Ich kenn sie ja. Kein Problem. Sie ist durch die Tür verschwunden, die in die Privatgarage der Anwälte führt.«

»Die da?« McCabe deutete auf eine unbeschriftete graue Stahltür neben dem Haupteingang.

»Ja, genau.«

»Haben Sie sie seither noch einmal gesehen?«

Randall schüttelte den Kopf. »Nein, glaub nicht.«

»Sie meinten, dass sich noch jemand erst später ausgetragen hat?«

»Ja. So ungefähr zehn Minuten nach ihr ist Mr. Ogden runtergekommen. Henry Ogden. Das ist einer der Seniorpartner von Palmer Milliken.«

»War er auch wütend?«

Randall schüttelte achselzuckend den Kopf. »Nein. Der wirkte soweit ganz normal. Sah aus wie immer eigentlich. Wie ein reicher Weißer eben. Hat mir einen Umschlag in die Hand gedrückt. Eine Weihnachtskarte mit einem Hunderter. Letztes Jahr waren es bloß fünfzig. Hat gesagt, ich soll meinen Kindern was Hübsches kaufen.«

»Und hat nach Henry Ogden noch jemand das Gebäude verlassen?«

»Nein.«

»Sie meinten vorhin, Sie hätten eine Doppelschicht gemacht, Randall. Könnte es sein, dass Sie vielleicht kurz weggenickt sind und irgendjemanden verpasst haben?«

Jacksons Haltung wurde starr. »Nein. Auf keinen Fall.«

»Sicher?«

»Absolut. Die Einzigen, die nach Ogden noch gegangen sind, waren die Leute von der Putzkolonne. Die kommen immer so gegen sechs und sind normalerweise spätestens um ein Uhr nachts wieder draußen.«

»Wie viele Personen?«

»Ein halbes Dutzend, mal mehr, mal weniger.«

»Müssen die sich auch ein- und austragen?«

Randall schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und sind es immer die gleichen Leute?«

»Kann man so nicht sagen. Die werden von der Firma immer wieder durchgemischt. Besonders um die Feiertage.«

»Sind die Reinigungskräfte bei METCO angestellt?«

»Nein, METCO ist nur für die Sicherheit zuständig. Die Reinigung macht eine andere Firma. Wenn Sie wissen wollen, wer, dann müssen Sie sich bei der Gebäudeverwaltung erkundigen.«

»Haben Sie die Unterlagen mit den Ein- und Austragungen vom Dreiundzwanzigsten noch?«

»Nicht hier. Bei METCO vielleicht. Ich weiß gar nicht, wie lange die aufbewahrt werden.«

»Ist da um diese Uhrzeit noch jemand?«

»Nein. Das Büro macht erst am Montag um acht wieder auf. Aber wir haben eine Telefonnummer für Notfälle hier. Wollen Sie die haben?«

»Ja.«

Jackson zog eine Schublade auf und nahm eine Visitenkarte heraus, die er McCabe überreichte. Darauf stand der Name Scott Ginsberg. McCabe kannte Ginsberg. Er war vor zwei Jahren aus der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Portland Police Department ausgeschieden. Vielleicht gab es ja doch ein Leben nach der Polizei. Seine Handynummer lautete 555-1799.

McCabe deutete auf eine Reihe kleiner Monitore hinter dem Tresen. »Was ist denn mit diesen Bildern da? Werden die gerade aufgezeichnet, oder sind das nur Liveaufnahmen?«

»Die werden aufgezeichnet.«

»Auf Band?«

»Nein. Digital.«

Das machte Sinn. Digital bedeutete, dass es keinen vernünftigen Grund gab, nicht aufzuzeichnen. Die Bilder konnten direkt auf einen Computer in der METCO-Zentrale übertragen werden. So stellte sich weder das Problem der Aufbewahrung noch das der Kosten für die Videobänder. Und es sprach nichts dagegen, die Bilder mehr oder weniger bis in alle Ewigkeit zu behalten. McCabe rief Eddie Fraser an, gratulierte ihm zu Tinker Bells überschwänglichen Kritiken, gab ihm Scott Ginsbergs Handynummer und bat ihn, mit der Durchsicht der Videos zu beginnen. So schnell wie möglich. Bis jetzt hatten sie lediglich die Leiche und den Zettel. Sie brauchten unbedingt mehr Material. Zum Beispiel den Namen eines direkten Angehörigen.

McCabe gab Jackson seine Karte und sagte ihm, er solle sich melden, falls ihm noch irgendetwas einfiele. Dann bat er ihn, Beth Kotterman anzurufen.

Sie verließen den Fahrstuhl im vierten Stock. »Mein Büro ist am Ende des Korridors auf der rechten Seite«, sagte Kotterman. Sie ging voraus, und McCabe folgte ihr. Der schwach beleuchtete Flur war leer und kalt.

Kotterman las seine Gedanken. »Die Temperatur wird um sieben Uhr automatisch auf zehn Grad heruntergefahren, es sei denn, irgendjemand wünscht ausdrücklich, dass die Heizung an bleibt.«

»Und heute schiebt hier keiner eine Nachtschicht?«

»Ein paar von den Rechtsanwälten ganz bestimmt.«

»Aber auf dieser Etage sitzen keine Anwälte?«

»Nein. Der vierte Stock ist fast ausschließlich von der Verwaltung belegt. Personalwesen. Buchhaltung. Büroorganisation. All so was. Wir halten uns eher an die regulären Arbeitszeiten.« Sie schloss ihr Büro auf und knipste das Licht an.

Als Leiterin der Personalabteilung besaß Beth Kotterman ein Eckbüro. Es enthielt die Art moderne Einrichtung, die typisch war für Büros mittlerer Angestellter. Weit entfernt vermutlich von dem, was die Teilhaber bekamen, aber tausend Mal besser als alles in der 109. Ms. Kottermann hatte außerdem an vielen Stellen persönliche Akzente gesetzt, sodass das Büro alles andere als langweilig oder durchschnittlich wirkte. Ein kleiner Urwald aus Zimmerpflanzen, darunter ein raumhoher Ficus, dominierte die eine Ecke. An der einen Wand hingen zahlreiche Familienfotos und ein großes, mit Wachsmalkreide gemaltes Bild mit der Überschrift Oma Bethby. Bethby trug ein leuchtend grünes Kleid und eine riesige Brille und hatte übergroße Füße. Das Porträt war eingerahmt und hatte einen Ehrenplatz bekommen. Die Signatur lautete BECKY.

Kotterman ließ den Mantel an. Sie setzte sich auf ihren Sessel und deutete auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, der vor ihrem Schreibtisch stand. Der Stuhl für Personalgespräche, nahm McCabe an. »Wie alt ist Becky?«, erkundigte er sich.

Kotterman wurde ein wenig lockerer. »Sieben. Als ich für das Porträt Modell gesessen habe, da war sie vier. Wie sicher sind Sie, dass die Tote, die Sie gefunden haben, tatsächlich Lainie Goff ist? Der andere Beamte, Detective Cleary, hat gesagt, dass Sie noch nichts Definitives sagen können.«

»Wir haben ihre Identität mit Hilfe von Fotos vorläufig bestätigt«, erwiderte McCabe. »Wir sind zu neunundneunzig Prozent sicher, dass es sich bei der Toten um Elaine Goff handelt.«

»Nicht zu hundert? Es könnte also immer noch jemand anders sein?«

»Da würde ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Wir warten noch den Abgleich mit den zahnärztlichen Unterlagen ab, aber ich denke, Sie können davon ausgehen, dass es Ms. Goff ist.«

»Dann muss ich den Leuten in der Kanzlei Bescheid sagen.«

»Tun Sie das. Die meisten wissen wahrscheinlich sowieso schon Bescheid. News Center 6 hat die Meldung vorzeitig veröffentlicht.«

»Das ist sehr bedauerlich.«

»Sehe ich auch so. Wir möchten eigentlich immer erst die Angehörigen informieren, bevor sie es aus den Medien erfahren.«

»Natürlich. Und Sie glauben, dass Lainie – vorausgesetzt, es ist Lainie –, dass sie ermordet wurde?«

»Ja.«

»Merkwürdig.« Kotterman wandte den Blick ab. »Man rechnet einfach nicht damit, dass so etwas in Portland passieren könnte, aber wahrscheinlich ist man mittlerweile nirgendwo mehr sicher. Vielleicht war man es ja noch nie. Haben Sie schon eine Ahnung, wer es getan haben könnte?«

»Nein. Wir stehen mit unseren Ermittlungen noch ganz am Anfang.«

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Wie gesagt, als Erstes muss ich ihre nächsten Angehörigen ausfindig machen. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht einen Namen in Ihren Unterlagen haben.«

»Das müssten wir eigentlich.« Kotterman fuhr ihren Computer hoch und tippte ein paar Befehle ein. »Wir bekommen von allen Mitarbeitern am ersten Arbeitstag einen Kontakt für Notfälle«, sagte sie. »In der Regel ist das ein Familienmitglied.« Sie runzelte die Stirn. »Das hier hilft Ihnen wahrscheinlich nicht unbedingt weiter.«

»Wieso nicht?«

»Nun, die meisten geben einen Angehörigen an. Lainie nicht.«

»Sondern?«

»Eine Frau, eine gewisse Janie Archer. Mit Wohnsitz in New York.«

»Ihre Schwester vielleicht?«

»Lainie hat angegeben, dass es sich um eine Freundin handelt.«

»Lainie und Janie, hm? Können Sie mir ihre Daten geben?«

Sie schrieb eine Adresse und eine Telefonnummer auf einen Post-it-Zettel und gab ihn McCabe. Eine Adresse in der Upper East Side von Manhattan. Vorwahl 212. Er prägte sich die Angaben ein und warf den Zettel weg.

»Diese Angaben sind sechs Jahre alt«, sagte Beth Kotterman. »Eigentlich sollen sie jährlich auf den neuesten Stand gebracht werden, aber das machen viele nicht. Es könnte sein, dass Lainies Freundin gar nicht mehr da wohnt.«

Das war kein großes Problem. Er konnte Janie Archer auch über eine der beiden Datenbanken ausfindig machen, an die das Portland Police Department angeschlossen war, Accurint oder AutoTrackXP. »Haben Sie vielleicht sonst eine Idee, wo wir einen Hinweis auf ihre nächsten Angehörigen finden könnten?«

»Ja. Ich kann noch woanders nachsehen.« Erneut tippte Kotterman auf der Tastatur herum. »Alle Mitarbeiter bekommen zum Einstieg in die Kanzlei eine befristete Lebensversicherung für die Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit. Ich will mal sehen, wen Lainie als Begünstigten eingetragen hat.«

»Wie hoch ist denn die Versicherungssumme?«, wollte McCabe wissen.

»Das eineinhalbfache Jahresgehalt. In Lainies Fall also ungefähr einhundertachtzigtausend Dollar.«

Nicht schlecht, dachte McCabe. Mit Sicherheit genug, um als Motiv für einen Mord herzuhalten. Aber wenn es tatsächlich ums Geld gegangen war, warum dann diese ganze Show auf dem Anleger abziehen? Warum hatte der Täter keinen Unfall vorgetäuscht? Vielleicht wollte er die Ermittler verwirren. Das kam McCabe allerdings sehr unwahrscheinlich vor. »Wird das Geld auch ausbezahlt, wenn die Mitarbeiterin ermordet worden ist?«

»Da muss ich noch einmal konkret bei der Versicherung nachfragen, aber ich glaube eigentlich schon, ja. Hmmm.« Kotterman blickte über den Rand ihrer Brille hinweg auf den Bildschirm. »Also, das ist ja mal interessant.«

»Was denn?«

»Auch bei der Lebensversicherung ist kein Familienmitglied als Begünstigter eingetragen. Lainies Erstbegünstigter ist nicht einmal eine Person, sondern eine Organisation. Sie heißt Sanctuary House. Mit Sitz in Portland. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll.«

»Ich habe schon davon gehört«, erwiderte McCabe. »Aber viel weiß ich auch nicht. Es muss eine kleine soziale Einrichtung sein, eine Art Heim für Kinder und Jugendliche.« So langsam konnte man den Eindruck gewinnen, dass Lainie Goff gar keine Angehörigen hatte. Dass sie eine Waise gewesen war. Welche Verbindung mochte sie wohl zu diesem Sanctuary House haben?

»Tja, da kommt jedenfalls ein großer Batzen Geld auf diese Leute zu.«

»Nach allem, was ich gehört habe, können sie es gut gebrauchen.«

Kotterman sah vom Computer auf und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Sie wirkte müde. »Ich fürchte, das ist alles. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Detective?«

»Haben Sie Lainie gut gekannt?«

»Nein, fast gar nicht. Palmer Milliken hat über dreihundert Mitarbeiter. Ich habe nur ab und zu ein paar Worte mit ihr gewechselt. Für gewöhnlich im Zusammenhang mit irgendwelchen Personalfragen.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

»Bei unserer Weihnachtsfeier.«

»Wann war das?«

»Am Freitag, 16. Dezember. Im Pemaquid Club. Die meisten Teilhaber sind dort Mitglied, und da hat die Kanzlei einfach den ganzen Club gemietet.« Der Pemaquid Club war einer der Treffpunkte für die Reichen und gut Vernetzten von Portland und nur Mitgliedern zugänglich. Die hundert Jahre alte rote Backsteinvilla lag im West End der Stadt.

»Haben Sie sie auf der Feier gesprochen?«

»Nur im Vorbeigehen. Frohe Weihnachten und einen schönen Urlaub. So in der Art. Lainie hat keine Zeit damit verplempert, mit Leuten wie mir zu plaudern. Sie war hinter dickeren Fischen her.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel den Teilhabern. Besonders den einflussreicheren. Und darunter ganz besonders den männlichen. Sie war, nach allem, was ich gehört habe, eine außerordentlich ehrgeizige Person.«

»Tatsächlich?«, sagte McCabe. »Und von wem haben Sie das gehört?«

Kotterman dachte gründlich nach, bevor sie eine Antwort gab. »Nun, es gab Gerüchte. Die Leute reden eben gern.«

»Aha, und hat irgendjemand vielleicht darüber geredet, dass Lainie Goff so etwas wie eine Affäre hatte?«, hakte er nach. »Vielleicht mit einem der Teilhaber? Vielleicht sogar mit mehr als einem?«

»Wissen Sie, Detective, es ist schon spät, und ich bin müde. Wahrscheinlich habe ich sowieso schon zu viel geredet.«

»Das verstehe ich, Ms. Kotterman, aber ich wüsste es wirklich sehr zu schätzen, wenn Sie mir noch sagen könnten, mit wem Lainie auf dieser Feier gesprochen hat. Beziehungsweise geplaudert, um Ihre Formulierung aufzugreifen. Ist Ihnen da jemand besonders aufgefallen?«

»Ich habe nichts bemerkt.«

McCabe wusste, dass er nicht mehr viel aus ihr herauslocken würde, aber er konnte es ja trotzdem versuchen. Zu verlieren hatte er nichts. »Gerade eben haben Sie gesagt, sie sei hinter dickeren Fischen hergewesen. Ich frage mich, wen Sie damit gemeint haben könnten.«

»Tut mir leid, Detective, aber da habe ich mich wohl einfach versprochen. Ich kannte Lainie ja kaum. Und Sie können sich vorstellen, dass die Nachricht von ihrem Tod mich ziemlich durcheinandergebracht hat. So wird es sicherlich allen in der Kanzlei gehen. Warum belassen wir es nicht einfach dabei?«

»Nur noch einige wenige Fragen.«

»Lieber nicht.«

Ob die Personalchefin ab jetzt jede Aussage verweigern würde? Das Recht dazu hatte sie. »Es ist wirklich wichtig«, sagte er.

Kotterman seufzte. »Also gut. Solange es keine persönlichen Fragen sind.«

McCabe signalisierte nickend sein Einverständnis. »Okay. Wie lange war Lainie Goff schon in der Kanzlei, und was genau hat sie hier gemacht?«

»Sie ist Rechtsanwältin im Angestelltenverhältnis, und zwar schon länger. Kurz nach ihrem Examen an der Cornell Law School im Jahr 2000 hat sie hier angefangen. Sie war in der Abteilung für Firmenfusionen und Übernahmen tätig.«

»Hatte sie Chancen auf eine Teilhaberschaft?«

»Ich habe keine Ahnung. Normalerweise werde ich in die Pläne der Teilhaber nicht eingeweiht. Ich bin ja eher für die Verwaltung zuständig.«

»Aber sie hat doch bestimmt darauf hingearbeitet, oder?«

»Natürlich. Alle angestellten Anwälte wollen Teilhaber werden. Diejenigen, die nicht irgendwann ein Angebot bekommen, kündigen in der Regel.«

»Wissen Sie vielleicht, mit wem sie hier enger befreundet war? Mit wem sie sich regelmäßig getroffen hat?«

»Wie gesagt, ich habe Lainie kaum gekannt. Ich könnte Ihnen eine Liste mit all denen zusammenstellen, mit denen sie beruflich näher zu tun hatte. Das wäre vielleicht das Einfachste.«

»Okay. Fangen wir damit an.« McCabe sah zu, wie Kotterman sich wieder ihrem Computer zuwandte. Es war offensichtlich, dass die ältere Frau Goff nicht sonderlich mochte. Das war keine große Überraschung. Die Beth Kottermans dieser Welt konnten auch Sandy nicht besonders gut leiden. Wie viel von ihren Andeutungen entsprach also der Wahrheit, und was entsprang einfach nur ihrer Abneigung gegenüber der schönen Diva? Das musste er herausfinden. »Wer war Lainies Vorgesetzter?«

»Der Leiter der Abteilung für Firmenfusionen und Übernahmen. Henry Ogden. Sie war ihm direkt unterstellt.«

Ogden. Aha. Das war der Typ, der zehn Minuten nach Lainie das Gebäude verlassen hatte. Hatte Henry Ogden Lainie an diesem Abend noch gesehen? Hatte er sie als Letzter lebend zu Gesicht bekommen? Das alles waren offene Fragen. Er hatte noch eine Menge zu tun. »Weiß Ogden schon, dass Lainie tot ist?«, erkundigte er sich.

»Von mir nicht. Ich wollte damit warten, bis es wirklich feststeht. Bis zu dem Gespräch mit Ihnen. Wenn Sie weg sind, rufe ich ihn zu Hause an.«

»Ich muss so schnell wie möglich mit Mr. Ogden sprechen. Können Sie mir seine Festnetznummer und, wenn Sie die haben, auch seine Handynummer geben?«

Sie schrieb beide Telefonnummern auf einen weiteren Post-it-Zettel und gab ihn McCabe.

»Brauchen Sie sonst noch etwas von mir, Detective, bevor ich nach Hause gehe?«

»Ja. Ich würde gern einen Blick in Lainie Goffs Büro werfen.«

»Ich kann Ihnen gerne zeigen, wo ihr Büro sich befindet, aber ich fürchte, Sie dürfen es nicht betreten. Sie bewahrt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit all ihre Akten darin auf, und das würde uns hinsichtlich des Mandantenschutzes erhebliche Probleme bereiten.«

»Das könnte tatsächlich problematisch werden.«

»Sie können das gerne mit Henry Ogden besprechen, aber ich bin mir sicher, dass Sie von ihm die gleiche Antwort bekommen werden. Nämlich dass Sie zuerst eine richterliche Anordnung brauchen, um Lainies Büro, ihre Akten und ihren Computer einzusehen. Und selbst dann weiß ich nicht, ob wir Ihnen Einblick in unsere Mandantenakten geben können.«

»Gut. Wir beantragen gleich morgen früh einen Durchsuchungsbefehl. So lange stelle ich einen Streifenbeamten vor die Tür und lasse sie mit einem Vorhängeschloss sichern. Außerdem hängen wir ein ZUTRITT-VERBOTEN-Schild an die Tür. Ich würde es begrüßen, wenn Sie die gesamte Belegschaft von Palmer Milliken darüber informieren würden, dass das Büro von niemandem betreten werden darf.«

Angstschrei: Thriller
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