16

Portland, Maine

Samstag, 7. Januar

9.00 Uhr

Ganz langsam, die Augen geschlossen, näherte sich McCabe dem Wachzustand. Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht. Irgendjemand musste die Jalousien hochgezogen und die Sonne hereingelassen haben. Die Helligkeit war richtiggehend schmerzhaft, trotz der geschlossenen Lider. Keine besonders nette Geste gegenüber jemandem, der nur ein paar Stunden Schlaf bekommen hatte. Er ließ die Hand auf die andere Hälfte des Bettes gleiten, tastete herum, ohne Erfolg. Er streckte sich noch ein bisschen weiter. Nur Laken, sonst nichts.

»Suchst du was?«

Kyras Stimme kam von hinten. Sie schien amüsiert, und McCabe dachte für sich, dass es beinahe an Frechheit grenzte, zu einer so gottlosen Zeit schon amüsiert zu klingen. Ihm fiel wieder ein, was er am gestrigen Abend alles getrunken und was er nicht gegessen hatte. Zu seiner großen Verwunderung hatte er keine Kopfschmerzen. Nur einen wahnsinnigen Durst. Aber nichts, was irgendwie als Kater durchgegangen wäre. Wahrscheinlich war es hauptsächlich Schlafmangel.

Er wälzte sich auf die linke Seite und blinzelte sie an. »Wie viel Uhr ist es?«

Sie saß in dem Bugholzschaukelstuhl und nippte an einer Tasse Kaffee. »Kurz nach neun.«

Er verarbeitete das Gehörte. Nickte. Okay. Kurz nach neun. Vier Stunden geschlafen. Mehr als genug. Er machte die Augen ein Stückchen weiter auf. Sie trug einen viel zu großen New-York-Giants-Pullover mit Tiki Barbers Nummer einundzwanzig sowie eine karierte Schlafanzughose. Beides gehörte ihm.

»Soll ich dir einen Kaffee holen?«

Er knurrte etwas, das sich vage nach Zustimmung anhörte. Sie machte sich auf den Weg in die Küche. Als sie wiederkam, hatte er sich schon aufgesetzt. Sie stellte einen Kaffeebecher auf das Nachttischchen und reichte ihm ein großes Glas Orangensaft.

»Hier. Ich hatte das Gefühl, als könntest du das hier auch gebrauchen.«

»Danke.« Mit wenigen großen Schlucken leerte er das Glas und ersetzte es dann durch den Kaffeebecher. »Wie war die Vernissage gestern Abend?«

»Großartig. Über hundert Leute. Zwei rote Aufkleber und jede Menge Streicheleinheiten fürs Ego von Gott und der Welt.«

»Auch von Kleinerman?«

»Hm. Ja. Er hat mich interviewt. Und hat gesagt, dass morgen in der Zeitung ein Artikel erscheint.«

»Morgen morgen oder morgen heute?«

»Morgen morgen. Am Sonntag. Wie war dein Mordfall?«

Er holte tief Luft. »Ziemlich übel«, sagte er und nippte an seinem Kaffee. »Eine junge Frau. Rechtsanwältin hier aus Portland. Irgendjemand hat ihr ein Messer in den Nacken gestochen und ihre Leiche dann in den Kofferraum ihres eigenen Autos gelegt. Sie war steinhart gefroren. Aber was mich total aus der Bahn geworfen hat, das war, dass sie Sandy wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sie sieht wirklich absolut identisch aus.«

Sie musterte ihn neugierig. »Hat dir das etwas ausgemacht?«

Er schwieg eine ganze Weile. Schließlich sagte er: »Ja. Hat es. Am Anfang. Für einen Moment hatte ich den verrückten Gedanken, dass es tatsächlich Sandy ist und dass ich es getan habe, so wie in meinen Träumen. Aber als ich mir klargemacht hatte, dass das Mordopfer weder meine Exfrau noch die Mutter meiner Tochter ist und ich auch nicht ihr Mörder bin, da habe ich mich wieder beruhigt.« Nicht ganz die Wahrheit, aber ziemlich dicht dran. Und was noch besser war, es hatte ihm nichts ausgemacht, ihr von dem Mord oder der Ähnlichkeit zwischen Goff und Sandy zu erzählen. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

»Wisst ihr schon, wer es getan hat?«

»Du kennst ja den alten Spruch, dass jeder tatverdächtig ist, was im Klartext nichts anderes bedeutet, als dass wir keinen Schimmer haben.«

»Was im Klartext nichts anderes bedeutet, als dass dieser Fall deine gesamte Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen wird.«

»Für eine Weile, ja, ich denke schon.«

Kyra schlürfte an ihrem Kaffee, während sie sich seine Worte durch den Kopf gehen ließ. Schließlich nickte sie. Mehr zu sich selbst als zu ihm. »Okay. Dann ziehe ich zurück in meine Wohnung.«

»Für immer?«

»Nein. Vorübergehend. Bis der Fall gelöst ist. Bis wir wieder richtig zusammen sein können.«

»Das ist doch nicht nötig.«

»Ich finde schon. Genau das habe ich gestern gemeint. Ich will mir nicht ständig Gedanken darüber machen, was du gerade tust oder wann du nach Hause kommst. Und wenn ich in meiner Wohnung bin, dann denke ich nicht so viel darüber nach. Sag mir einfach, wenn es vorbei ist, dann bin ich wieder da, vergnügt wie ein Fisch im Wasser und mit wedelndem Schwänzchen.«

Er sparte sich jeden Kommentar bezüglich ihrer zusammengewürfelten Metapher. Oder Analogie. Oder was es auch sein mochte. »Dann sehen wir uns also überhaupt nicht?« Er merkte, dass er mit seinem nackten Fuß auf den Boden klopfte. »Und was ist mit Abendessen morgen?«

»Das können wir machen. Falls du überhaupt Zeit dazu hast – was erfahrungsgemäß ziemlich unwahrscheinlich ist. Wenn du bis zu den Ohren in einem Mordfall steckst, dann sehen wir uns doch sowieso nie.«

»Aber es würde dir nichts ausmachen, wenn ich dich zwischendurch mal anrufe?«

»Wenn du mich nicht anrufen würdest, das würde mir etwas ausmachen.«

»In Ordnung. Schätze ich zumindest.« McCabes Miene hellte sich auf. »Wie sieht es denn mit Partnerbesuchen aus? Wie sie im Gefängnis erlaubt sind.«

»Ehrlich? So was ist erlaubt? Im Gefängnis?«

»In New York schon. Und in Kalifornien auch, glaube ich.«

»Und in Maine?«

»Ich glaube, da nicht.«

»Tja, dann wäre das ja geklärt.«

Während Kyra duschte und ihre Sachen zusammenpackte, schlüpfte McCabe in einen Bademantel, ging ins Wohnzimmer und wählte die Privatnummer von Henry Ogden, die Beth Kotterman ihm gegeben hatte. Der Rechtsanwalt nahm nach dem dritten Läuten ab. McCabe erklärte ihm, wer er war und warum er anrief, aber noch bevor er Ogden um ein persönliches Treffen bitten konnte, hatte dieser geschmeidig in den Offizielles-Geschwafel-Modus umgeschaltet und ließ McCabe wissen, dass Beth Kotterman ihn noch am späten Abend angerufen und über Lainies Tod informiert habe und was für ein Schock das für die ganze Kanzlei sei, insbesondere für diejenigen, die, so wie er, in der Abteilung für Firmenfusionen und Übernahmen eng mit ihr zusammengearbeitet hatten. Ja, es war fürchterlich, und die Kanzlei würde sich für die Bestattungsfeier etwas ganz Besonderes einfallen lassen müssen. McCabe schloss die Augen und ließ Ogden weiterschwafeln, hörte kaum zu und versuchte, sich ein zu der Stimme passendes Bild zu machen. Randall Jacksons Beschreibung bezüglich jenes letzten Freitagabends vor Weihnachten kam ihm in den Sinn. Ogden hörte sich genau so an, wie Jackson ihn beschrieben hatte. Wie ein reicher Weißer.

Schließlich unterbrach McCabe den Sermon. »Bitte entschuldigen Sie, Mr. Ogden. Mir ist klar, wie aufwühlend das alles für Sie sein muss, aber ich hatte gehofft, dass wir uns vielleicht kurz treffen und persönlich unterhalten könnten.«

»Über Lainie?«

Wen denn sonst, zum Teufel? »Ja. Über Lainie und über ihre Ermordung.«

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dazu beitragen …«

»Als Rechtsanwalt ist Ihnen doch sicherlich klar, wie wichtig es ist, dass wir mit jedem reden, der sie gekannt und mit ihr zusammengearbeitet hat. Wir wollen uns ein möglichst umfassendes Bild von ihrem Leben verschaffen und davon, welche Gründe jemand gehabt haben könnte, dieses Leben zu beenden.«

Ogden wollte ihn unterbrechen, aber jetzt war McCabe derjenige, der einfach weiterredete. »Ich würde mich gerne so bald wie möglich mit Ihnen treffen. Am späten Vormittag oder frühen Nachmittag, falls sich das einrichten lässt.«

»Ich fürchte, das passt bei mir nicht besonders gut. Barbara und ich bekommen Besuch von außerhalb zum Mittagessen. Sie hat das schon eine ganze Weile geplant, und Sie wissen ja, wie Frauen sind, wenn der Ehemann ihre Pläne durchkreuzt.« Er lachte auf diese »Wir Männer verstehen uns doch«-Art.

Ob Ogden einem persönlichen Gespräch aus dem Weg gehen wollte? Und wenn ja, warum? So einfach würde er ihn jedenfalls nicht vom Haken lassen. »Es ist wirklich wichtig, Mr. Ogden, und es dauert auch bestimmt nicht lange.«

»Lässt sich das nicht auch morgen erledigen?«

»Heute wäre besser.«

»Also gut, von mir aus«, sagte Ogden und versuchte gar nicht erst, seine Verärgerung zu verbergen. »Wenn Sie um halb elf hier sind, dann kann ich versuchen, eine halbe Stunde oder so herauszuschlagen.«

»Wo wohnen Sie?«

»Cape Elizabeth.«

McCabe blickte auf seine Armbanduhr. Es war halb zehn. Selbst der entfernteste Winkel von Cape Elizabeth war höchstens zwanzig Minuten von hier entfernt. Wenn er sich ein bisschen beeilte, dann konnte er vorher sogar noch duschen. Er hätte eigentlich lieber in der 109 mit Ogden gesprochen, aber andererseits konnte er sich, wenn er ihn zu Hause besuchte, ein Bild davon machen, welche Art Leben der Mann führte. Das einzige Problem war die Zehn-Uhr-Besprechung im Dezernat. Er würde Maggie bitten müssen, die Leitung zu übernehmen und ihm hinterher zu berichten. Aber das machte ihr bestimmt nichts aus. »Einverstanden«, sagte er. »Ich bin pünktlich um halb elf da.«

»Gut. Unser Cottage befindet sich in der Ledge Road 367. Wissen Sie, wo das ist?«

»Nein, aber ich werde es finden.«

Um zehn Uhr verließ McCabe frisch geduscht und rasiert seine Wohnung. Der Parkplatz vor dem Haus war schon geräumt, und keine fünf Minuten später hatte er den Crown Vic von Schnee und Eis befreit und auf die Eastern Prom gelenkt. Er fuhr die Fore Street hinunter und dann nach links, vorbei am John-Ford-Denkmal, auf die York Street in Richtung Casco Bay Bridge. Wenn ein Frachter oder ein Segelboot mit hohen Masten passieren musste, wurde die Brücke hochgeklappt, aber jetzt hatte er freie Fahrt und würde daher keine Probleme haben, die Ledge Road pünktlich zu erreichen. Auf der Route 77 durchquerte er South Portland und gelangte nach Cape Elizabeth, in einen der wohlhabendsten Vororte von Portland. Er bestand vorwiegend aus breiten, geschwungenen Straßen, gesäumt von weitläufigen, komfortablen Kolonialstilvillen oder viktorianischen Stadthäusern auf riesigen, baumbestandenen Grundstücken. Hier lebte ein wesentlicher Prozentsatz der Ärzte, Rechtsanwälte und Börsenmakler Portlands und, so nahm er an, der größte Prozentsatz an nichtberufstätigen Hausfrauen und Müttern im gesamten Bundesstaat.

Es war ein herrlicher klarer Tag. Knackig kalt, aber dennoch sehr schön. Die Straßen wurden von jungfräulichem Schnee gesäumt. Er folgte den Angaben aus Google Maps, bog bei der Old Ocean House Road links ab, dann am Trundy Point noch einmal links, bis es im leichten Linksbogen auf die Ledge Road ging, gerade einmal hundert Meter vom offenen Meer entfernt und mit Sicherheit eine der besten Adressen der ganzen Stadt. Nummer 367 lag auf der linken Straßenseite. Einziges Erkennungszeichen war ein großer schwarzer Briefkasten in ländlichem Design. Nur Zahlen. Keine Namen. Das Haus selbst war, genau wie das Meer, hinter einem dichten Birken- und Ahornwäldchen verborgen. Eine zarte Schneedecke umhüllte die kahlen Äste der Bäume. Er folgte der Einfahrt, die – samstagvormittags um halb elf und trotz der knapp vierzig Zentimeter Neuschnee, die in der vergangenen Nacht gefallen waren – bereits fein säuberlich geräumt und gestreut war. Nach fast hundert Metern endete der Wald, und der Weg mündete in einen mit weißem Kies bedeckten Parkplatz, ebenfalls fein säuberlich geräumt. Er stellte den Crown Vic auf der rechten Seite zwischen einem schwarzen S-Klasse-Mercedes 500 – das angemessene Gefährt für einen der erfolgreichsten Rechtsanwälte der Stadt – und einem zehn Jahre alten Ford Taurus mit verbeultem Heckkotflügel ab. Der Mercedes war schneefrei. Ogden war heute Morgen also bereits unterwegs gewesen.

McCabe stieg aus und sah sich um. Das hundert Jahre alte, schindelbedeckte »Cottage«, wie Ogden das Haus bezeichnet hatte, besaß genauso viel Ähnlichkeit mit einem Cottage wie der Mount Washington mit einem Hügel. McCabe schätzte, dass das Haus auf eine Wohnfläche von mindestens 600 Quadratmetern kam. Es stand auf einem spektakulären Grundstück mit Meeresblick, das garantiert weit über einen Hektar Land umfasste. Er war fünf Minuten zu früh, hatte aber nicht die Absicht, bis zum vereinbarten Termin hier draußen in der Kälte zu stehen. Er folgte dem Pfad zur Haustür und klingelte. Im Inneren ertönte ein Glockenspiel. Die Tür ging auf, und er sah sich einer Frau mittleren Alters gegenüber. Sie trug eine Jeans, ein Sweatshirt und hielt einen Plastikeimer in der Hand.

»Mrs. Ogden?« sagte er, obwohl er hätte wetten können, dass sie es nicht war.

»Nein. Ich bin Chloe. Ich hole sie.«

»Eigentlich bin ich mit Mr. Ogden verabredet. Ich bin Detective Sergeant Michael McCabe.«

»Ich weiß, wer Sie sind. Kommen Sie rein. So gelangt ja die ganze Wärme nach draußen.«

McCabe betrat die Eingangshalle.

»Ich kenne Sie. Ich habe Sie letztes Jahr im Fernsehen gesehen. Als dieses Teenagermädchen ermordet worden ist. Katie Dubois. Das waren doch Sie, oder?«

Portland nannte sich zwar Stadt, aber es war immer wieder erstaunlich, was für ein Dorf es in Wirklichkeit war. Jeder kannte jeden. In New York hätte sich kein Mensch mehr daran erinnert. »Ja, das war ich.«

»Ich hole ihn. Ziehen Sie die Schuhe aus. Ich bin gerade erst mit den Böden fertig geworden.« Er gehorchte. »Den Mantel können Sie mir geben.«

Mit Eimer und Mantel in der Hand verschwand sie im hinteren Teil des Hauses.

McCabe blickte sich um. Überdimensioniertes Cottage oder nicht, es war jedenfalls ein spektakuläres Gebäude. Hohe Decken, herrliche Stuckarbeiten, Buntglasfenster. Von da, wo er stand, waren mindestens zwei offene Kamine zu sehen. Und in beiden brannte ein Holzfeuer.

»Lieutenant McCabe?« Ein gut aussehender Mann, groß und schlank, mit teuer frisierten grauen Haaren und selbstbewusstem Auftreten, kam auf ihn zu. Selbst mit seiner verwaschenen Bluejeans, der Helly-Hansen-Fleece-Jacke und den grauen Bartstoppeln auf den rosigen Wangen sah Ogden aus wie der Traum jedes Hollywood-Regisseurs, der einen Top-Rechtsanwalt zu besetzen hatte. »Hank Ogden«, sagte er und streckte die Hand aus. McCabe ergriff sie. Er erkannte Ogden wieder. Er war einer der Männer in Abendgarderobe, die auf dem Foto, das Tasco ihnen gezeigt hatte, neben Goff gestanden hatten.

»Danke für die Beförderung, Mr. Ogden, aber ich bin Sergeant. Detective Sergeant, um genau zu sein.« McCabe zeigte ihm seine Dienstmarke. Ogden würdigte sie keines Blickes, und McCabe steckte sie wieder ein. »Ein sehr schönes Haus haben Sie hier.«

»Ja, das stimmt. Ein Frühwerk von John Calvin Stevens. 1897 erbaut und, abgesehen von der Küche und den Badezimmern, immer noch weitgehend im Originalzustand. Es befindet sich bereits seit einiger Zeit im Besitz der Familie meiner Frau.«

McCabe hatte schon von Stevens gehört. Der bekannteste Architekt Portlands des letzten Jahrhunderts. Wer hier in der Stadt zwischen 1890 und 1930 ein extravagantes Haus haben wollte, der hatte sich an ihn gewandt. Und alle, die heute ein Haus von John Calvin Stevens bewohnten, prahlten damit. Sogar die mundfaulen Yankees. Die prahlten höchstens ein bisschen diskreter.

Ogden führte ihn in ein kleines, mit Bücherregalen gesäumtes Arbeitszimmer. Auch hier knisterte ein heimeliges Feuer in einem offenen Kamin, der im klassizistischen Adams-Stil gehalten war. Nachdem er McCabe einen der beiden roten Ledersessel angeboten hatte, setzte er sich in den anderen. Er musterte McCabe einen Augenblick lang und nahm dann aus einer feinen Porzellantasse mit rosa Blütenmuster einen Schluck Kaffee. McCabe hätte auch nichts gegen einen Kaffee gehabt, aber Ogden bot ihm keinen an, und McCabe hatte nicht vor, darum zu bitten.

»Wie ich bereits am Telefon gesagt habe, Sergeant, meine Zeit ist knapp, also lassen Sie uns gleich zur Sache kommen. Was möchten Sie wissen?«

»Erzählen Sie mir etwas über Elaine Goff.«

»Was soll ich sagen? Lainie war eine scharfsinnige, wunderschöne Frau und eine sehr gute Rechtsanwältin. Auf dem besten Weg, Teilhaberin zu werden. Sie wäre eine der jüngsten gewesen, die die Kanzlei je hatte.« Er setzte seine Trauermiene auf. »Ihr Tod ist eine Tragödie, die mich sprachlos macht.«

»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum jemand sie hätte umbringen wollen?«

»Beim besten Willen nicht. Ich kann mir nur vorstellen, dass es ein zufälliger Überfall war. Ein Raubüberfall oder eine Vergewaltigung vielleicht. Aber über solche Dinge wissen Sie mehr als ich.«

»An ihrem letzten Arbeitstag, da waren Sie und Elaine Goff die Letzten, die sich bei Palmer Milliken ausgetragen haben. Das war Freitag, der 23. Dezember.« McCabe hielt kurz inne für den Fall, dass Ogden dazu etwas sagen wollte. Wollte er aber nicht. »Sie haben sich zehn Minuten nach ihr ausgetragen, um genau zehn nach neun. Sind Sie ihr vielleicht vorher noch im Büro begegnet?«

»Das bin ich, ja, in der Tat. Wir hatten noch eine Besprechung. Von ungefähr halb neun bis neun. Lainie wollte vor ihrem Urlaub noch einige Dinge mit mir klären.«

»Zum Beispiel?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, welche Bedeutung das für Ihre Ermittlungen haben könnte.«

Wenn du sie auf deinem Schreibtisch gevögelt hast, dann könnte das sogar von großer Bedeutung sein, du Arschloch, hätte McCabe am liebsten erwidert. Doch er entschied sich für eine abgeschwächte und weniger hitzige Bemerkung. »Alles, was Ms. Goff durch den Kopf gegangen ist, alles, worüber sie gesprochen hat, könnte ihre späteren Handlungen beeinflusst haben und hilft uns unter Umständen, ihren Mörder zu finden.«

Ogden erwiderte nichts, und seine ausdruckslose Miene gab nichts preis. Wahrscheinlich ein verflucht guter Pokerspieler. Schließlich sagte er: »Nun, ich weiß zwar nicht, was das mit ihrem Tod zu tun haben könnte, aber bei der Besprechung ging es um Lainies berufliche Zukunft. Sie wollte gern noch vor Jahresende zur Teilhaberin aufsteigen, was außergewöhnlich früh gewesen wäre. Sie ist erst seit sechs Jahren bei Palmer Milliken. Ich war dennoch der Meinung, dass derartige Überlegungen aufgrund ihrer Arbeitsleistung durchaus gerechtfertigt waren. Darum habe ich mich bei einer Sitzung der Teilhaber am frühen Abend jenes Tages für ihre Aufnahme in unseren Kreis eingesetzt.«

»Und, hat man ihr ein Angebot unterbreitet?«

»Nein. Meine Kollegen hielten den Zeitpunkt für zu früh und waren der Meinung, dass Lainie noch ein Jahr warten sollte. PM vergibt die Teilhaberschaft in aller Regel nach sieben Jahren. Ich habe mich zwar für sie eingesetzt, aber ohne Erfolg.«

»Und das haben Sie ihr bei ihrem Treffen mitgeteilt?«

»Ja.

»Wie hat sie es aufgenommen?«

»Sie war natürlich enttäuscht.«

»War sie wütend?«

Ogden betrachtete McCabe, als wollte er abschätzen, wie viel der Detective wusste. Nach kurzem Zögern sagte er: »Nicht, dass man es ihr angesehen hätte.«

»Hat sie gesagt, wo sie anschließend hinwollte?«

»Nein, und ich habe sie auch nicht danach gefragt. Aber ich nahm wohl an, dass sie nach Hause fahren würde, um zu packen. Sie wollte ja am nächsten Morgen in den Urlaub.«

»Ich möchte, dass meine Leute Zugang zu ihrem Büro und ihrem Computer bekommen. Vielleicht finden wir ja irgendwelche Notizen oder E-Mails, die uns bei unseren Ermittlungen weiterbringen.«

»Wenn sie nur zufällig von einem Straßenräuber …«

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie ihren Mörder gekannt hat.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber vielleicht brachte er Ogden damit aus dem Konzept. »Es könnte sein, dass sich in ihrem Büro entsprechende Hinweise finden lassen.«

»Tja, für mich hört sich das eher so an, als würden Sie im Trüben fischen.« Ogden spitzte die Lippen und schüttelte dann den Kopf. »Nein, das werde ich nicht erlauben.«

»Ich kann mir eine richterliche Anordnung besorgen.«

»Das glaube ich nicht. Ihre Akten unterliegen der anwaltlichen Schweigepflicht.«

»Wir wollen nur einen Blick in ihre persönlichen Unterlagen werfen. Sie oder ein anderer Mitarbeiter Ihrer Kanzlei können gerne dabei sein. Um sicherzustellen, dass wir nicht mit vertraulichen Informationen in Berührung kommen.«

»Das reicht nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ihre persönlichen Dinge sich tatsächlich von den arbeitsrelevanten Unterlagen trennen lassen. Bei E-Mails ist das jedenfalls mit Sicherheit nicht der Fall. Natürlich möchte ich Ihnen gerne so gut wie möglich behilflich sein, aber ich darf unter keinen Umständen das vertrauliche Verhältnis zu meinen Mandanten gefährden. Wenn Sie eine richterliche Anordnung beantragen, dann fürchte ich, müssen wir mit einem Antrag auf Aufhebung dieser Anordnung reagieren. Und ich glaube, dass wir damit Erfolg haben werden.«

Da konnte Ogden durchaus recht haben. McCabe würde unter Umständen glaubhaft darlegen müssen, dass Goffs Akten tatsächlich relevante Informationen enthalten könnten. Er würde sich besser erst einmal mit Burt Lund von der Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen verständigen. Vielleicht konnte Lund ja eine Vereinbarung mit Ogden aushandeln. Anderenfalls würden sie es mit einem Durchsuchungsbefehl probieren. Doch im Augenblick musste er einen anderen Weg einschlagen.

»Was haben Sie denn gemacht, nachdem Sie an diesem Freitag das Büro verlassen haben?«

»Ich habe mich noch mit einer Bekannten getroffen, um den erfolgreichen Jahresabschluss zu feiern, und danach bin ich hierher nach Hause gekommen und habe den Rest des Abends mit meiner Frau verbracht.«

»Und was für eine Bekannte war das?«

»Eine Anwältin aus meiner Abteilung. Wir haben uns auf einen Drink in der Bar des Portland Harbor Hotel getroffen, und ja, ich kann es beweisen. Die Quittung liegt in meinem Büro.«

»Und wer war diese Anwältin?«

»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht.«

»Seien Sie doch bitte so nett.«

Ogden, der Einfaltspinseln gegenüber offensichtlich keine Geduld aufbrachte, seufzte. »Eine Angestellte aus meiner Abteilung für Firmenfusionen und Übernahmen. Eine gewisse Janet Pritchard.«

Interessant. Eine Frau. Wahrscheinlich eine junge Frau, da sie noch nicht Teilhaberin war. Ob Ogden sie auch vögelte? McCabe merkte sich den Namen, um sich später noch einmal damit zu beschäftigen. »Noch eine letzte Frage.«

Ogden warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Wo waren Sie in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch zwischen 22.00 Uhr und 3.00 Uhr morgens?«

»Sergeant McCabe, ich fürchte, ich habe keine Zeit mehr. Abgesehen davon empfinde ich dieses Gespräch zunehmend als ermüdend. Ich werde veranlassen, dass Chloe Ihnen Ihren Mantel bringt.« Mit diesen Worten stand er auf und verließ das Zimmer, ließ die beinahe leere Tasse auf dem Tisch stehen und McCabe in seinem roten Ledersessel sitzen.

McCabe musterte die Tasse und überlegte, ob er sie vielleicht unbeobachtet in die Tasche stecken konnte. Dann würde seine Tasche zwar nass werden, aber er hätte eine Probe von Ogdens Speichel und damit auch seine DNA. Und den Ogdens würde der Verlust einer einzigen Tasse höchstwahrscheinlich nicht weiter auffallen. Aber er wusste auch, dass alle Indizien, die er unerlaubterweise und ohne Durchsuchungsbefehl an sich brachte, vor Gericht nicht zugelassen würden.

»Hier ist Ihr Mantel, Detective.«

»Danke, Chloe.«

McCabe schlüpfte hinein und schwang die langen Mantelschöße dabei bewusst im weiten Bogen hinter sich herum. Ogdens Tasse zerschellte auf dem Holzfußboden.

»Oh, verdammt. Nun schaue sich das mal einer an.« Er wusste doch, dass es einen Grund gab, warum er diesen bodenlangen Mantel trug.

Chloe lief los, um Kehrschaufel und Besen zu holen. »Tut mir furchtbar leid«, rief er ihr nach. Dann kniete er sich hin und steckte so viele Randstücke wie möglich in seine Tasche. Er schlüpfte in seine Schuhe, winkte Chloe zum Abschied zu und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. Nicht, dass die ganze Wärme nach draußen gelangte.

Henry C. »Hank« Ogden stand am Flurfenster im ersten Stock und sah mit einer gewissen Abscheu zu, wie McCabe über den vereisten Kies auf den großen schwarzen Ford zuging. Er verspürte ein Ziehen in seinen Eingeweiden. Es war ein Gefühl, das er nicht mochte. Überhaupt nicht. Er musste unbedingt verhindern, dass dieser neugierige Scheißkerl von Detective mit seinen ganzen Fragen über Lainie und wer wann wo gewesen war, allzu tief in seinen Angelegenheiten herumstocherte. Es wäre nicht gut, wenn er zu viel in Erfahrung brächte. Oh nein. Überhaupt nicht gut.

Tief in Gedanken versunken merkte er gar nicht, wie Barbara hinter ihn trat. Als sie ihm die Hand auf die Schulter legte, zuckte er zusammen.

»Du solltest dich so langsam duschen und umziehen, Henry. In weniger als einer Stunde werden Jock und Sonia mit den Jungs hier sein.«

Er nickte geistesabwesend, den Blick immer noch auf das Auto gerichtet, während es ausparkte und dann die Einfahrt hinunter verschwand. Sein ältester Sohn aus Boston kam mit seiner Frau und den beiden Söhnen übers Wochenende zu Besuch. Es würde schwer werden, den hingebungsvollen Vater und Opa zu spielen, während ihm so viele andere Dinge durch den Kopf gingen.

»Wer war das in dem schwarzen Auto?«, wollte Barbara wissen.

»Ein Polizist. Jemandem aus der Kanzlei ist etwas zugestoßen. Er wollte mir ein paar Fragen stellen.«

»Tatsächlich? Was ist denn passiert?«

»Eine unserer Anwältinnen ist gestorben. Nun – das stimmt nicht ganz. Um genau zu sein, sie wurde ermordet.«

»Oh mein Gott, Henry, das ist ja furchtbar. Es tut mir so leid«, sagte sie. »Wer war sie denn?«

»Eine junge Frau aus meiner Abteilung. Du kennst sie nicht. Elaine Goff.«

»Ermordet. Mein Gott. Hat die Polizei schon eine Vermutung, wer es getan hat?«

»Nein. Noch nicht.«

»Elaine Goff? Ich glaube nicht, dass ich den Namen schon einmal gehört habe. War sie denn wichtig für die Kanzlei?«

»Nein«, erwiderte er. »Nicht wichtig.« Er lächelte und küsste sie sanft auf die Wange. »Überhaupt nicht wichtig.«

Angstschrei: Thriller
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