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Portland, Maine
Am Sonntagmorgen um exakt 8.30 Uhr lieferte McCabe Maggies Wohnungsschüssel bei Kyra ab. Eine halbe Stunde später betrat er die 109. Obwohl er in den letzten achtundvierzig Stunden nur sechs Stunden Schlaf bekommen hatte, fühlte er sich gut. Besser als gut. Das Adrenalin, das durch seine Adern floss, seit sie Lainie Goffs Mörder entlarvt hatten, bewirkte, kombiniert mit vier großen Bechern Kaffee, dass er vor Energie nur so strotzte. Er war bereit zur Konfrontation. Bereit, richtig auf den Putz zu hauen. Kaffee Nummer fünf wärmte ihm die Hand. Tansanischer Peaberry, Fair Trade, dunkle Röstung, aus dem Coffee by Design in der India Street.
Auf seinem Schreibtisch erwartete ihn ein handgeschriebener Zettel von Shockley. Kommen Sie sofort in mein Büro! P.S. Gratulation!!!
McCabe ging den Flur entlang, der zum Büro des Polizeichefs in der Südostecke führte. Schon aus zwanzig Metern Entfernung hörte er das Stimmengewirr der anwesenden Journalisten. Shockley stand in der Tür, ohne Jackett, mit gelockerter Krawatte, verschränkten Armen, hochgerollten Hemdsärmeln. Der Inbegriff des hart arbeitenden Kommandeurs, der die ganze Nacht wach gewesen und seine Truppen zur Ergreifung eines bösartigen Killers geführt hatte.
Im Augenblick hing Luke McGuire vom Press Herald an den Lippen des GS. Praktisch jeder Polizeireporter des gesamten Bundesstaates sowie etliche Korrespondenten der großen Bostoner und New Yorker Blätter standen dicht aneinandergedrängt in dem eigentlich relativ geräumigen Büro. McCabe ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte auch Shockleys Freundin, Josie Tenant. Sie stand in einer Ecke und machte sich Notizen, zweifellos in Vorbereitung auf den Moment, in dem sie, auf Shockleys Startzeichen hin, die guten Nachrichten in die Welt hinausposaunen konnte. Alle Kameras waren auf Shockleys Schreibtisch gerichtet und harrten gespannt der beruhigenden Botschaft, die der Polizeipräsident einer aufgewühlten und ängstlich wartenden Stadt überbringen würde.
»Mike! Kommen Sie rein.« Der Chief sprang auf, packte ihn am Ellbogen und schob ihn durch das Gewühl bis zu seinem Schreibtisch. Er strahlte über beide Wangen. »Ich dachte mir, ich gebe die Presseerklärung hier in meinem Büro ab. So bekommen die Zuschauer einen direkten Einblick in unsere Arbeit. Was meinen Sie? Klingt doch gut, oder?«
Das war eigentlich nicht üblich. Offiziell war der Presseraum unten im Erdgeschoss für solche Anlässe vorgesehen. McCabe wusste, dass das Shockley egal war. Wahrscheinlich dachte er, wenn er Kellys Festnahme von seinem Büro aus bekannt gab, womöglich noch lässig auf der Schreibtischkante sitzend, dann könne er damit der Öffentlichkeit signalisieren, dass die Verhaftung des Übeltäters ihm persönlich zu verdanken war.
Aber das war wiederum McCabe egal. Kelly saß hinter Schloss und Riegel, und Abby Quinn war in Winter Haven sicher untergebracht, und deshalb war dies ein guter Tag, den nicht einmal Shockleys schwachsinniges Gehabe ruinieren konnte. Nach langer Dunkelheit kam endlich die Sonne wieder zum Vorschein. Sie hatten Lainie Goffs Mörder keine sechzig Stunden nach dem Fund ihrer Leiche am Fish Pier festgenommen. Maggie ging es gut, und sie konnte aus dem Krankenhaus entlassen werden. Casey wäre heute Abend wieder zu Hause. Und, was das Beste war, Kyra auch. Sie würden gemeinsam gut zu Abend essen. Sie würden sich lieben. Vielleicht bekäme er sogar ein bisschen Schlaf – und zwar, ohne sich mit hässlichen Träumen von seiner Exfrau zu quälen.
»Na klar, Chief, das ist toll. Genießen Sie’s. Tun Sie mir bloß einen Gefallen. Warten Sie noch, bis ich Kelly vernommen habe, bevor Sie hier irgendwelche großartigen Bekanntgaben machen.«
»Moment mal, McCabe.« Shockleys Ton war mit einem Mal leiser, vertraulicher. »Was wir hier brauchen, ist die Bekanntgabe, dass der Täter überführt wurde.« Sein Lächeln war verschwunden. »Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie noch nicht genügend Beweise beisammen haben?«
»Lassen Sie mich ihn einfach noch vernehmen.«
»Was brauchen Sie denn noch?«
»Ein Geständnis wäre zum Beispiel nicht schlecht. Außerdem warten wir noch auf die Ergebnisse der DNA-Untersuchung aus Augusta. Joe Pines hat sie für heute Vormittag angekündigt. Was Sie definitiv nicht brauchen, ist eine große Bekanntgabe, die Sie dann später wieder zurücknehmen müssen.«
»Also gut.« Shockley seufzte. »Dann spreche ich eben nur von einem ›wichtigen Zeugen‹. Das wird ihnen für eine Weile reichen. Aber tun Sie mir einen Gefallen. Warten Sie nicht zu lange.«
McCabe wandte sich zum Gehen. »Guten Morgen, meine Damen und Herren«, ertönte es in seinem Rücken. McCabe konnte Shockleys charakteristisches Lächeln förmlich aus seiner Stimme heraushören. »Wie Sie sich bestimmt schon denken können, habe ich Ihnen heute Morgen sehr gute Nachrichten zu überbringen …«
McCabe saß vor dem Bildschirm in Fortiers Büro und betrachtete Kelly, der alleine in dem kleinen Verhörzimmer saß. Er sah nicht besonders glücklich aus. »Musstet ihr ihm unbedingt Handschellen anlegen?«
»Ja, Ich hatte Angst, dass er sonst vielleicht Gewalt anwendet«, meinte Brian Cleary, »und dann hätte ich auch Gewalt anwenden müssen.« Er grinste. »Und ich weiß ja, wie du das hasst.«
»Hat er schon was gesagt?«
»Noch nicht«, meinte Eddie Fraser. »Abgesehen davon, dass er uns mehrfach als Arschlöcher bezeichnet hat. Jetzt hockt er einfach bloß da und brodelt vor sich hin.«
»Hat er einen Rechtsanwalt verlangt?«
»Auch noch nicht.«
Der Mann strahlte eine Wut aus, die sogar über den Bildschirm spürbar war. McCabe starrte auf den Monitor und versuchte, das kühle, überlegte Vorgehen von Lainie Goffs Mörder irgendwie mit Kellys aufbrausendem Temperament in Einklang zu bringen. Er war sich sicher, dass Kelly grundsätzlich zu diesem Mord fähig war. Aber die Herangehensweise machte ihn stutzig. Das ganze Arrangement am Fish Pier passte irgendwie nicht richtig ins Bild. Es war zu effekthascherisch. Andererseits, vielleicht war das Bild, das er von Kelly hatte, auch einfach falsch. Sobald man zu wissen glaubt, wer oder was John Kelly ist … Erneut gingen ihm Wolfes Worte durch den Kopf. Vielleicht war es das. Vielleicht musste er seine Meinung noch einmal überdenken.
Vor dem Betreten des Verhörzimmers schnallte McCabe sein Pistolenhalfter ab und reichte es Fraser. Er wollte Kelly die Handschellen abnehmen, ohne zu riskieren, dass dieser ihm die Dienstwaffe entriss und womöglich auf ihn schoss. Darauf würde Kyra ziemlich sauer reagieren, so viel war klar. Womöglich könnte er sich die Hochzeit dann endgültig abschminken.
»Hallo, John«, sagte McCabe in fröhlichem Tonfall. »Es tut mir leid, dass man Ihnen Handschellen angelegt hat.«
Kelly hob den Blick. Seine blauen, fast schon violetten Augen bohrten sich ein paar Sekunden lang in McCabe. Dann wandte er sich wieder ab.
»Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen abnehmen.«
Keine Reaktion.
»Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie dann nicht auf mich losgehen oder sonst irgendwelche Dummheiten machen.«
Kelly blickte zu Boden. Machte die Augen zu. Holte ein paarmal tief Luft. McCabe sah, wie seine Kiefermuskulatur arbeitete, als würde er die Zähne aufeinanderbeißen. Schließlich sah er auf. »Einverstanden.«
»Womit sind Sie einverstanden?«
»Machen Sie die Handschellen auf. Ich werd nicht auf Sie losgehen.«
McCabe lächelte. »Gut. Da wird sich meine Freundin aber freuen.«
Er trat hinter Kellys Stuhl und befreite ihn. Dann ging er um den Tisch herum und nahm auf der anderen Seite Platz.
Kelly streckte die Arme aus, rieb sich die Handgelenke und legte dann die zusammengefalteten Hände auf den Tisch wie ein Klosterschüler, der auf das Erscheinen des Lehrers wartet. Keiner sagte ein Wort. Sie saßen sich eine ganze Weile einfach nur gegenüber und sahen einander an.
McCabe ergriff als Erster das Wort. »Wir haben Ihre Hütte durchsucht.«
»Ja. Ich weiß. Ich habe Ihnen die Erlaubnis erteilt, wissen Sie noch?« Seine Stimme klang immer noch leicht aggressiv.
»Wir haben das Zitat gefunden.«
»Das freut mich für Sie.«
»Das aus dem Buch Amos. In Ihrer Seminararbeit.«
»Aha«, meinte Kelly achselzuckend.
»Ach übrigens. Den Jungen haben wir auch gefunden.«
Verunsicherung blitzte in Kellys Augen auf. Aber nur kurz. »Welchen Jungen?«
»Den auf dem Grundstück vor Ihrer Hütte.«
»Ich habe keine Ahnung, von wem oder was Sie da reden.«
»Er war erst vierzehn oder so, stimmt’s?«
»Ich weiß immer noch nicht, wovon Sie reden.«
»Der Junge, den Sie sexuell missbraucht haben? Um ihn anschließend umzubringen? Und im Schnee zu vergraben. Vor ihrer Hütte? Auf Harts Island? Das war wirklich Wahnsinn, John. Was haben Sie ihm denn in den Hintern geschoben? Das gleiche Messer, mit dem Sie Elaine Goff umgebracht haben?«
Kelly starrte ihn mit verwirrter Miene an. Er sah aus, als versuche er krampfhaft, sich etwas zusammenreimen. Vermutlich, wie er sich aus dieser Nummer herauswinden konnte, dachte McCabe.
»Warum mussten Sie den Jungen umbringen, John? Weil er Elaine Goff verraten hat, was Sie getan haben? Mussten Sie deshalb beide zum Schweigen bringen? Weil beide Bescheid wussten? War das der Grund?«
Kelly blieb stumm.
»Wann haben Sie ihn da rausgebracht? Zu Ihrer Hütte, meine ich.«
Kelly sah auf. »Ich war seit Monaten nicht mehr auf Harts Island.«
»Wo waren Sie heute Morgen, so gegen ein Uhr?«
»Das habe ich Ihren Kollegen schon gesagt. Zu Hause. Im Bett.«
»In Ihrer Wohnung?«
»Ja.«
»Mit Ihrem Partner?«
»Ja.«
»Woher kennen Sie Leanna Barnes?«
»Ich kenne keine Leanna Barnes.«
»Das ist aber seltsam. Es gibt nämlich mehrere Zeugen, die behaupten, dass Sie heute Morgen so gegen eins in ihrer Wohnung waren.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, war aber auch nicht komplett gelogen, wenn man in Betracht zog, dass Leanne »Ellie« gesagt und Maggie einen Mann mit einer dicken schwarzen Brille gesehen hatte.
»Die Zeugen irren sich.«
»Sie schwören, dass Sie derjenige waren.«
»Wie gesagt. Sie irren sich. Ich kenne keine Leanna Barnes. Ich weiß auch nicht, wo sie wohnt.«
»Die Zeugen behaupten, Sie hätten auf sie geschossen.«
»Da irren sie sich noch mehr. Ich habe noch nie im Leben auf jemanden geschossen.«
»Aber Sie haben sich geprügelt.«
»Ja, das stimmt. Mit den Fäusten, und für gewöhnlich nur dann, wenn die Betroffenen eine Abreibung verdient hatten. Aber ich habe noch nie im Leben einen Schuss abgegeben. Ich wüsste nicht einmal, wie man eine Waffe hält.«
McCabe musterte Kelly und beschloss, an einem anderen Punkt anzusetzen. »Das Gute ist, John, dass es so aussieht, als würde Barnes durchkommen. Als könnte sie vor Gericht aussagen. Das heißt, dass Sie nur wegen zweifachen Mordes angeklagt werden und nicht wegen dreifachen«, sagte er und achtete aufmerksam auf Kellys Augen, um an ihnen irgendeine Art von Reaktion abzulesen. Es gab keine. »Schon erstaunlich, dass die Kugel nicht mehr Schaden angerichtet hat.«
»Das freut mich zu hören.«
»Ja. Sie wird schon bald wieder auf den Beinen sein. Und dann kann sie den Geschworenen haarklein berichten, wie Sie auf sie geschossen haben.«
»Sie lügen.«
»Sie haben also gedacht, dass Leanna tot ist? Ist es das, was Sie meinen?«
»Ich kenne keine Leanna. Ich war noch nie in ihrer Wohnung, und Sie lügen sich diese ganze Geschichte hier zurecht.«
»Ach ja? Dann wollen Sie also behaupten, dass die Zeugen vielleicht nicht alles richtig mitbekommen haben?«
»Ich sage, dass Sie lügen.«
Kelly hatte die Hände so fest ineinander verschlungen, dass seine Knöchel ganz weiß waren. Er hatte sich kaum mehr in der Gewalt. Aber er redete. Zumindest im Moment noch.
»Kennen Sie sich auf Ihrem Grundstück auf der Insel aus?«
Kelly gab keine Antwort. Schaute ihn nur an.
»War der Junge, den wir gefunden haben, der erste, den Sie da draußen umgebracht haben? Oder gibt es noch andere? Haben Sie schon öfter irgendwelche Jungen mit dahin genommen? Sie wissen schon, ein bisschen Spaß, ein paar nette Spielchen? Sie kennen doch bestimmt jede Menge kleiner, verlorener Jungen, hab ich recht, John? Wie Peter Pan. Ausreißer, die kein Mensch vermisst. Ganz egal, was Sie mit denen anstellen. Haben Sie deshalb das Sanctuary House gegründet? Sozusagen als ihren eigenen kleinen Magneten, mit dem Sie Ihre Opfer anziehen konnten? So viele Sie wollen. Wann immer Sie wollen. Eine richtige Schatzgrube, stimmt’s? Und wenn einer von denen verschwindet oder als Leiche wieder auftaucht, ach, wer sollte die schon vermissen? Das sind doch bloß Ausreißer. Auf die wartet doch zu Hause kein Mensch. Niemand macht sich um die irgendwelche Gedanken, stimmt’s, John? Abgesehen von Ihnen natürlich. Komm doch rein, komm doch rein, sagte die Spinne zur Fliege.«
Kelly ließ den Kopf hängen und biss die Zähne fest aufeinander. Dann blickte er auf.
Langsam und leise sagte er: »Ich habe mein gesamtes Leben der Aufgabe gewidmet, Kinder und Jugendliche zu beschützen. Ihnen zu helfen. Und nicht, sie zu missbrauchen oder gar umzubringen. Das ist der Bund, den ich mit Gott geschlossen habe. Das ist der Bund, den ich jederzeit in Ehren gehalten habe. Und auch wenn Sie das nicht glauben: Gott weiß, dass das die Wahrheit ist und nichts als die Wahrheit.«
»Ach, tatsächlich? Wann waren Sie das letzte Mal auf Harts Island?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Ach ja? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Sagen Sie’s mir noch mal.«
»Ich bin im Winter nie da. Das letzte Mal war, ich weiß nicht … ich glaube, am Wochenende vor Thanksgiving, zusammen mit Teddy.«
»Und in letzter Zeit nicht, da sind Sie sich ganz sicher? Im Dezember vielleicht? Nachdem es so richtig kalt wurde und der Boden so hart gefroren war, dass man nicht mehr graben konnte?«
McCabe schob zwei Fotos von der im Schnee liegenden, steifgefrorenen Leiche des Jungen über den Tisch. »Ein kleiner Freizeitausflug vielleicht?«
»Oh mein Gott.« Kelly nahm ein Foto in jede Hand und starrte sie an, erst das eine, dann das andere.
»Sie kennen diesen Jungen, John, hab ich recht?«. McCabes Tonfall hatte jetzt nichts Neckendes mehr. Seine Stimme klang hart. Drohend. »Nun, hab ich recht?«
»Ja.«
»Und woher genau kennen Sie ihn?« McCabe war aufgestanden. Er beugte sich über den Tisch, sein Gesicht nur Zentimeter von Kellys entfernt, und spie ihm die Worte entgegen.
Kelly sah auf. Er war kreidebleich. Mit leiser Stimme sagte er: »Er hat im Sanctuary House gewohnt.«
»Ach, wirklich? Tja, dann kennen Sie ja bestimmt auch seinen Namen.«
»Callie Connor.«
»Callie?«
»Die Kurzform von Calvin.«
»Und wann genau haben Sie Calvin zum letzten Mal gesehen?«
»Ich weiß nicht. Irgendwann vor Weihnachten.«
»Und da haben Sie ihn mit auf die Insel genommen? Zu einem – wie war das gleich noch mal? Einem kleinen Freizeitausflug?«
»Nein.«
»Inklusive ein bisschen Ficken?«
»Nein.«
»Und einer kleinen Messerstecherei?«
»Nein.«
»Um seine nackte Leiche anschließend im Schnee zu vergraben? Mit aufgeschlitztem, blutigem Arsch von all den Dingen, die Sie ihm angetan haben?«
»Nein!«, schrie Kelly. »Nein! Nein! Nein! Nein!«
Als er verstummt war, nahm er sich die Bilder noch einmal vor, blinzelte, kämpfte mit den Tränen.
»Und dann ist Lainie Goff dahintergekommen, nicht wahr? Und Sie mussten auch sie umbringen. War es so? So ist es doch gelaufen?«
Schweigend hob Kelly den Blick.
»Antworten Sie, Gott verdammt noch mal!«, brüllte McCabe und ließ die Handfläche so heftig auf die Tischplatte krachen, dass der leere Aktenordner in die Luft sprang.
Kelly gab keine Antwort.
McCabe setzte sich wieder auf seinen Platz, und seine Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern. »War es nicht genau so, John? Sie haben diesen Jungen umgebracht. Sie haben ihn umgebracht, weil Sie ihn missbraucht hatten. Er hat Lainie davon erzählt, und sie hat Sie angerufen und Ihnen gedroht. Sie wollte dafür sorgen, dass Sie nicht durchkommen, hab ich recht, John? Und darum mussten Sie auch sie umbringen. Damit sie es niemandem verraten kann. War es nicht genau so, Father Jack? Damit sie es Leuten wie mir nicht verraten kann? Ist es nicht genau so gewesen?«
»Ich habe niemals jemanden umgebracht.«
»Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Ich verstehe einfach nicht, wieso Sie Lainies Leiche da draußen auf dem Fish Pier abgestellt haben, mit diesem Zettel im Mund. Amos, Kapitel neun, Vers zehn. Sie wussten doch, dass wir ihn finden und die Verbindung zu Ihnen herstellen würden. Sie erinnern sich doch noch an den Vers, oder, John? Alle Sünder in meinem Volk sollen durchs Schwert sterben, die da sagen: Es wird das Unglück nicht so nahe sein noch uns begegnen. Haben Sie das getan, weil Sie wussten, dass man Lainie nicht einfach so verschwinden lassen kann, im Gegensatz zu Calvin Connor? Dass man sie vermissen würde? Dass die Leute nach ihr suchen würden? Einflussreiche Leute mit einflussreichen Beziehungen. Also haben Sie sie auf den Präsentierteller gelegt und haben es so aussehen lassen, als sei sie das Opfer irgendeines religiösen Fanatikers geworden.«
Kelly verschränkte seine Arme auf dem Tisch und ließ seinen Kopf darauf sinken.
»Hätte sogar funktionieren können, Jack, wenn Sie nicht diesen einen Fehler gemacht hätten. Sie hätten das Buch in ihrem Bücherregal im Sanctuary House verschwinden lassen sollen. Das über die alttestamentlichen Propheten. Genau wie Ihre Seminararbeit aus dem Studium. Ich weiß nicht, wieso Sie daran nicht gedacht haben. Weil Sie dachten, dass die Typen in den blauen Uniformen … So haben Sie uns doch genannt, Jack? Typen in blauen Uniformen? Haben Sie vielleicht gedacht, wir seien zu doof, um eins und eins zusammenzuzählen?«
»Ich habe nie im Leben jemanden umgebracht«, sagte Kelly. Seine Worte waren hinter den verschränkten Armen kaum zu verstehen.
»Oder vielleicht, Jack …« Erneut beugte sich McCabe hinunter, bis er nur wenige Zentimeter von Kelly entfernt war. »… vielleicht haben Sie ihr ja den Zettel in den Mund gelegt und das Buch in Ihrem Regal gelassen, damit wir Sie entdecken und Ihrem schrecklichen Treiben ein Ende bereiten. Ihrer Schuld ein Ende bereiten? War es vielleicht das, Jack? War es das, was Sie wollten? Alle Sünder in meinem Volk sollen durchs Schwert sterben. Alle Sünder, Jack. Einschließlich Ihnen. Nur dass wir hier in Maine die Todesstrafe abgeschafft haben. Sie müssen also entweder mit Ihrer Schuld leben … oder Sie müssen sie gestehen.«
McCabe senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ist es das, was Sie wollen, Jack? Ihrer Schuld ein Ende bereiten? Wir können Ihnen dabei behilflich sein. Sie müssen uns lediglich Ihre Sünden beichten. Sagen Sie uns, was Sie Calvin Connor angetan haben. Sagen Sie uns, was Sie Lainie Goff angetan haben. Kommen Sie schon, Jack, geben Sie sich einen Ruck. Sie kennen doch die Reihenfolge. Zuerst kommt die Beichte. Dann die Absolution. Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt. Kommen Sie schon, Jack, sprechen Sie’s aus. Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt. Und dann erzählen Sie mir, wie Sie zuerst Callie Connor umgebracht haben und anschließend, nachdem sie dahintergekommen war, auch Lainie Goff.«
»Leck mich, du dämlicher Scheißbulle!«, brach es aus Kelly heraus. »Ich habe noch nie im Leben jemanden umgebracht!«
McCabe ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken. Eine ganze Weile lang schwieg er.
»Tja, wenn Sie die beiden nicht umgebracht haben, wer war es dann?«
»Was?«
»Irgendjemand muss es getan haben.«
»Ja. Jemand anders.«
»Ach, tatsächlich? Tja, wenn das so ist, dann können Sie mir ja vielleicht erklären, wieso wir das hier auf Ihrer Mailbox gefunden haben.« Er hob die Hand und gab damit Cleary, der in Fortiers Büro saß, das vereinbarte Signal.
Lainie Goffs Stimme tönte durch den kleinen Raum. »Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Damit kommst du nicht durch, das garantiere ich dir. Wir müssen uns unterhalten.«
»Das haben Sie auf meiner Mailbox entdeckt?«
»Ja.«
»Auf welcher denn?«
»Auf der, die zu Ihrem Anschluss auf Harts Island gehört. Was sagen Sie dazu?«
Kelly schüttelte den Kopf und zuckte mehr oder weniger gleichzeitig mit den Schultern. »Was ich dazu sage? Ich denke, ich sollte einen Anwalt anrufen.«
»Das ist Ihr gutes Recht, Jack. Ich sehe da nur ein winzig kleines Problem.«
»Welches denn?«
»Sie haben mir erzählt, Lainie Goff sei Ihre Anwältin, und so leid es mir tut, Jack, ich glaube, sie nimmt zurzeit keine Anrufe entgegen.«