33
Harts Island, Maine
Tom Tasco wartete, bis McCabe vom Heck der Francis R. Mangini auf den Anleger gesprungen war, dann legte er los. »Wir haben überall in Kellys Hütte Goffs Fingerabdrücke gefunden«, sagte er, während sie die Rampe hinaufgingen. »Vor allem im Schlafzimmer. Dazu noch ein paar Haare, die von ihr stammen könnten. Der Hurensohn muss sie etliche Tage lang dort festgehalten haben, bevor er sie zu den Markhams verfrachtet hat.«
»Gibt es außer ihren noch andere Fingerabdrücke?«
»Jede Menge von Kelly. Außerdem ein paar unvollständige oder verschmierte von einer oder mehreren unbekannten Personen. Wie geht’s Maggie?«
»Ihre Hüfte und ihr Hintern werden ihr noch eine Weile wehtun. Aber ansonsten ist alles in Ordnung.«
Wieder einmal wurden sie am oberen Ende der Rampe von dem schwarz-weißen Explorer erwartet. Bowman saß am Steuer, dieses Mal in Uniform. Tasco stieg hinten ein und überließ McCabe den Beifahrersitz.
»’n Abend, Scotty, wie läuft’s denn so?«
Bowman knurrte irgendetwas Unverständliches, wendete und fuhr auf die Welch Street. McCabe saß schweigend da und sah zu, wie die dunklen, einsamen Straßen der Insel an ihm vorüberzogen. Wenigstens schneite es nicht mehr, und es war deutlich wärmer geworden. Die Uniformierten vor der 109 hatten wohl recht gehabt mit dem Januar-Tauwetter. McCabe versuchte, seine übermüdeten Gehirnzellen dazu zu zwingen, sich wieder auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren.
Also gut, er war sich ziemlich sicher, dass Kelly der Täter war, aber er war sich alles andere als sicher, dass er das auch beweisen konnte. Nicht vor einem Geschworenengericht. Nicht, wenn Father Jack sich einen gerissenen Strafverteidiger besorgte. Goffs Fingerabdrücke waren ein eindeutiger Beweis dafür, dass sie in Kellys Haus gewesen war, bewiesen aber nicht, dass er sie tatsächlich umgebracht hatte. Leanna Barnes’ letzte Worte würden daran auch nicht viel ändern. Was haben Sie sie sagen hören, Detective? Ellie. Sie hat Ellie gesagt? Nicht Kelly? Ganz recht, Ellie. Also nicht ganz der richtige Name, gurgelnd und unverständlich ausgesprochen von einer Sterbenden, die selbst nicht mehr aussagen konnte. Sicher, er konnte erklären, dass Leannas Verletzung, ihre zerfetzte Kehle, sie daran gehindert hatte, den Buchstaben K zu bilden, aber seine Vermutung, dass sie tatsächlich hatte »Kelly« sagen wollen, würde als reine Spekulation abgetan werden. Nein. Burt Lund brauchte mehr als das.
Da war Kellys Arbeit über die alttestamentlichen Propheten. Das könnte helfen. Wenn sie sie auftreiben konnten. Aber selbst dann würde es wahrscheinlich nicht für eine Anklage reichen. Selbst wenn das Amoszitat auf dem Titelblatt abgedruckt war, unterstrichen und rot umkringelt. Ein gewiefter Rechtsanwalt würde problemlos darlegen, dass es reiner Zufall war und jeder diesen alttestamentlichen Spruch kennen konnte. Dass jeder in Kellys Haus einbrechen und seine alte Seminararbeit hätte finden können.
Dann war da noch Abby. Auch wenn sie unter Hypnose Kelly als Täter identifizieren sollte – kein Geschworenengericht dieser Welt würde jemanden aufgrund der Aussage einer schizophrenen Zeugin verurteilen. Einer schizophrenen Zeugin, die nach Angaben ihres behandelnden Psychiaters möglicherweise ihre Medikamente abgesetzt hatte. Und was die beiden anderen Zeuginnen betraf … sowohl Maggie als auch Magol Gutaale Abtidoon konnten lediglich aussagen, dass der mutmaßliche Täter einen schweren Mantel und eine Brille mit schwarzem Gestell getragen hatte.
Und zu guter Letzt war da noch die nicht ganz unbedeutende Frage nach dem Motiv. Die Sache mit der Versicherungspolice würde in den Ohren einer Geschworenen-Jury vielleicht überzeugend klingen, aber jeder Rechtsanwalt würde versuchen hervorzuheben, dass es sich um eine Spende an eine wohltätige Organisation handelte, die daher gar nicht als Mittel zur persönlichen Bereicherung gesehen werden konnte. Schon gar nicht, wenn die betreffende Person sich bewusst für ein Leben in relativer Armut entschieden hatte, um anderen zu helfen.
Was ließ sich noch finden? McCabe wusste aus eigener Erfahrung, dass Kelly ein Hitzkopf war. Leicht erregbar. Aber hier handelte es sich mitnichten um ein Verbrechen aus Leidenschaft, auch darauf würden die Anwälte in aller Deutlichkeit hinweisen. Dazu war alles viel zu gut geplant. Zu inszeniert. Und außerdem, Kelly war schwul. Warum hätte er sie so lange am Leben halten sollen? Nicht zum Sex, es sei denn, er war bisexuell. Denkbar, aber nicht besonders überzeugend.
Nachdem sie ungefähr zehn Minuten lang gefahren waren, verließ Bowman die geteerte Straße und rumpelte mit dem Explorer kreuz und quer über gewundene Waldwege, bis sie nach weiteren zehn Minuten an eine kleine Lichtung gelangten. Er stellte den Wagen hinter Jacobis Transporter ab. In rund hundert Metern Entfernung waren Lichter zu sehen. Sie stiegen aus.
»Das da ist Kellys Häuschen, wenn man es so nennen will«, sagte Bowman. »Es ist eigentlich eher eine Baracke. Wir gehen zu Fuß rüber.«
Vor ihnen lag ein kleines, etwa zwanzig Meter breites Wäldchen, dahinter ein verschneites und möglicherweise steiniges Feld.
»Es gibt da so eine Art Trampelpfad«, meinte Bowman, »Aber auch jede Menge Eisplatten. Und auf dem Eis liegt eine Schicht verharschter Schnee. Sie müssen also ziemlich vorsichtig sein.« Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf McCabes Stadtschuhe und grinste hämisch. »Mit denen da wird es jedenfalls nicht besonders leicht werden. Und nasse Füße kriegen Sie auf jeden Fall.«
»Damit kann ich leben.«
»Vielleicht brechen Sie sich sogar den Knöchel.« Bowmans Lächeln deutete an, dass er diesen Gedanken sehr erbaulich fand.
»Es wird schon gehen.«
»Wie Sie wollen.« Bowman reichte McCabe eine Taschenlampe. Tasco hatte bereits eine in der Hand. »Ich gehe voraus. Treten Sie in meine Fußstapfen. Ich sage Bescheid, wenn es schwierig wird.«
Es würde noch etliche Stunden dauern, bis die Januarsonne aufging, und der Mond war nicht zu sehen. »Die Hütte ist rund hundert Jahre alt«, sagte Bowman, nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatten. »Sie steht auf einer Klippe, gut fünfzehn Meter über dem Meer. Unterhalb der Klippe gibt es nur Felsen und Brecher, sonst nichts. Da drüben neben der Hütte führt eine alte Holztreppe runter zum Strand. Von oben hat man einen wahnsinnigen Blick, aber ich kapiere einfach nicht, wie die Hütte all die Jahre über dem Nordwestwind standgehalten hat. Hier kommen ständig so viele heftige Stürme angeprescht, die hätten sie eigentlich schon längst in ihre Bestandteile zerlegen müssen, aber trotzdem steht sie noch.«
McCabe ging hinter Bowman her und trat, wie Bowman gesagt hatte, in dessen Fußstapfen. Tasco bildete den Schluss. McCabe merkte, wie der nasse Schnee in seine Schuhe rutschte. Schon nach wenigen Sekunden waren seine Strümpfe und Schuhe durchnässt. Aber um nichts in der Welt würde er sich darüber beklagen. Eher würde er sich ein, zwei Zehen abfrieren, als einem Arschloch wie Bowman die Genugtuung zu verschaffen, ihn jammern zu hören. Zehn Minuten lang setzten sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, dann hatten sie endlich die hundert Meter bis zur Hütte zurückgelegt. McCabe rutschte ein paarmal aus, und einmal landete er sogar auf dem Hintern. Aber er stand wieder auf und ging weiter.
Bowman stieß die Tür auf. Im fahlen Licht einer einzelnen Lampe sah McCabe Bill Jacobi an einem kleinen Holztisch sitzen. Vor ihm auf dem Boden stand ein Umzugskarton mit Aktenordnern, die Jacobi einen nach dem anderen systematisch durchforstete. Am anderen Ende des Tisches waren sauber geordnete und sortierte Papierstapel zu sehen. Auf dem Fußboden standen noch zwei weitere Umzugskartons.
Jacobi hob den Blick. »Ihr könnt reinkommen«, sagte er. »Wir sind so weit fertig. Nur noch das hier.«
McCabe trat ein und blickte sich um. Der Unterschied zum Haus der Markhams, das ebenfalls unter der Bezeichnung Insel-Cottage lief, hätte nicht größer sein können.
»Wo sind denn deine Leute?«, wollte McCabe wissen.
»Die suchen zusammen mit ein paar Einheimischen die Umgebung ab. Kelly hat hier ungefähr zwei Hektar Land. Glaube kaum, dass sie viel finden werden, aber na ja, bevor man’s nicht nachgeprüft hat, weiß man’s nicht.«
Bowman schloss sich dem Suchtrupp an. Tasco setzte sich neben Jacobi. McCabe zog die Schuhe aus und inspizierte das Innere der Hütte. Sie befanden sich in einem kleinen Raum, der als Wohnzimmer und Küche diente. Zerschrammtes Mobiliar. Eine Küchenausstattung, die McCabe an die Wohnung seiner Eltern in der Bronx erinnerte – vor dreißig Jahren, und auch da waren die Sachen schon alt gewesen. Eine Tür führte in ein kleines Schlafzimmer, das mehr oder weniger komplett von einem Doppelbett mit einer unbezogenen Matratze, einem kleinen lackierten Schreibtisch sowie einem Nachttischchen in Beschlag genommen wurde. Auf dem Tisch stand ein Wecker. Die Digitalanzeige blinkte, als hätte man ihn nach einem Stromausfall nicht neu gestellt. Ein paar Bücher. Ein Telefon. Er zog eine Schreibtischschublade auf. Nichts. Nicht einmal ein Paar trockene Socken. Überall auf dem Fußboden stapelten sich Bücher. Dem ersten Anschein nach deutete nichts darauf hin, dass Lainie hier gewesen war.
Eine zweite Tür führte ins Badezimmer. Ein Waschbecken. Eine billige Duschkabine aus Metall. Er drehte am Wasserhahn. Nichts. Das Wasser war den Winter über abgestellt. Was hatte Lainie getrunken, wenn das hier ihr Gefängnis gewesen war? Wo hatte sie sich gewaschen? Die Toilette war jedenfalls nicht das Problem gewesen. Das Loch, über dem der Sitz angebracht war, lag direkt über dem Meer. War heutzutage vermutlich gar nicht mehr erlaubt. Und zweifellos ziemlich zugig am Hintern.
McCabe trat wieder ins Wohnzimmer und setzte sich zu den anderen. Er rieb abwechselnd die Zehen an beiden Füßen, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Irgendwo hatte er einmal gelesen, man könne erkennen, dass man Erfrierungen erlitten hatte, wenn man keinen Schmerz mehr spürte. Falls das stimmte, war bei ihm alles in Ordnung. Seine Zehen taten höllisch weh.
»Seid ihr schon länger hier?«, wollte er wissen.
»Praktisch den ganzen Tag.« Tasco warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Und die ganze Nacht.«
»Habt ihr außer Fingerabdrücken noch was gefunden?«
»Ja«, erwiderte Jacobi. »Jede Menge DNA-Spuren. Haare im Bett. Ein paar davon lang und braun wie die von Goff. Getrocknetes Sperma auf den Laken.«
»Wo sind die Laken jetzt?«
»Verpackt und auf dem Weg nach Augusta. Zusammen mit ein paar schmutzigen Tassen und Besteck aus der Spüle. Da könnten auch DNA-Spuren dran sein. Im Holzofen ist kalte Asche. Lässt sich aber nicht sagen, wann das letzte Mal Feuer gemacht wurde. Wir werden sie trotzdem gründlich durchsuchen, für den Fall, dass Kelly versucht hat, belastendes Material zu verbrennen.«
»Sonst noch was?«
»Das Telefon ist eingesteckt«, meinte Tasco. »Und wenn man abnimmt, piepst es, als ob eine Nachricht auf der Mailbox vorliegt.«
»Ihr habt sie noch nicht abgehört?«
»Geht nicht. Dazu brauchen wir Kellys Passwort. Die 109 hat den Auftrag, bei Verizon anzufragen. Eigentlich müssten wir langsam mal Nachricht bekommen.«
»Kann ich euch bei diesen Akten da irgendwie behilflich sein?«
»Na klar. Zieh die hier an und verwische nichts.« Jacobi warf ihm ein Paar Latexhandschuhe zu. »Ich will das ganze Zeug später noch auf Fingerabdrücke untersuchen.« Das sah nach einer Menge Arbeit aus.
Die Kartons enthielten ein buntes Sammelsurium aus Kellys Leben. Briefe, Fotos, Urlaubspostkarten von Freunden und Bekannten. Aber auch viele Notizen sowie Arbeiten aus dem College und vom Priesterseminar. Auf etlichen Fotos war ein jüngerer Kelly mit immer demselben Mann zu sehen. Teddy Childs? Oder vielleicht ein früherer Partner. Auf einigen wenigen Aufnahmen trug er Priesterkleidung. Ein Foto zeigte den jungen Kelly zusammen mit einer älteren Frau, die mit denselben intensiven blauen Augen wie er in die Kamera blickte. Vermutlich seine Mutter.
Jacobi und die beiden Detectives arbeiteten eine Stunde lang konzentriert und ohne Redeunterbrechung. Sie nahmen jedes einzelne Blatt in die Hand und legten es auf einem von mehreren sauberen Stapeln ab, je nach dem, um welche Art von Dokument es sich handelte. Kein Geräusch war zu hören, bis auf den Atem der Männer, das Rascheln des Papiers und das gelegentliche Knarren des Hauses, das an seinem wackeligen Fundament rüttelte. McCabe stellte sich vor, wie das ganze Ding mit ihnen dreien von der Klippe ins Meer stürzte. Draußen war es windstill. Kein Rauschen der spiegelglatten See war zu hören. Nicht einmal das Ticken einer Uhr. Nur das Knarren.
»Suchst du vielleicht hiernach?« Der unvermittelte Klang von Jacobis Stimme ließ McCabe zusammenzucken. Jacobi hielt ihm ein spiralgebundenes Heft mit einem durchsichtigen Plastikdeckblatt hin. McCabe nahm es in die Hand. Auf der ersten Seite waren nur Titel, Autor und Datum zu lesen: »Eine Untersuchung der prophetischen Tradition im Alten Testament. John Kelly. 02. Mai 1994.«
Er schlug das Heft auf und begann zu lesen. Auf Seite 21 entdeckte er genau das, wonach er gesucht hatte. Ein kursiv gedrucktes Zitat: Alle Sünder in meinem Volk sollen durchs Schwert sterben, die da sagen: Es wird das Unglück nicht so nahe sein noch uns begegnen. Darunter folgte, wie es aussah, eine längere wissenschaftliche Erörterung der Frage, wie und warum Gott an denen Rache nehmen würde, die seine Vorschriften missachteten. McCabe starrte das Zitat an. Dass er es hier schwarz auf weiß vor sich hatte, kam ihm vor wie das Tüpfelchen auf dem i. Kelly war schuldig. McCabe brauchte nur noch ein Motiv und ein paar eindeutige Beweise, mit denen er die Geschworenen überzeugen konnte. Jacobi stand von seinem Stuhl auf und blickte McCabe über die Schulter.
»Dann ist Kelly also euer Messerstecher, hm?«
»Sieht ganz so aus.«
Die Stille im Raum wurde von der Ouvertüre aus Wilhelm Tell unterbrochen, und zwar von dem Teil, der auch als Titelmelodie für die Fünfzigerjahre-Fernsehserie The Lone Ranger gedient hatte. Tasco drückte eine Taste an seinem Handy. Die Musik brach ab. »Tasco«, sagte er ins Telefon. »Ja? Okay. Gut. Muss ich kurz aufschreiben.« Er holte ein kleines Notizbuch und einen Stift aus seiner Manteltasche und machte sich eine Notiz. »Danke, Andrea. Ja, Ihnen auch.« Er schaute McCabe an. »Das war Verizon.«
»Kellys Passwort?«
»Ja.«
»Wie lautet es?«
»Eine Zahlenkette.« Er las von seinem Zettel ab: »726288279.«
»Das ergibt ›Sanctuary‹.«
»Was?«
»Die Zahlen. Auf einer Telefontastatur ergeben sie das Wort ›Sanctuary‹. Das hätte ich mir auch schon vor einer Stunde zusammenreimen können. Ich werde wohl langsam alt.«
Sie gingen ins Schlafzimmer. McCabe griff nach dem Hörer und wählte die Nummer der Verizon-Mailboxabfrage. »John Kelly«, sagte eine männliche Stimme.
Dann ertönte eine weibliche Computerstimme. »Bitte geben Sie Ihr Passwort ein.«
McCabe buchstabierte das Wort S-A-N-C-T-U-A-R-Y.
»Sie haben eine neue Nachricht. Wenn Sie die Nachricht jetzt abhören wollen, drücken Sie bitte die Eins.«
McCabe drückte die Eins.
»Eine neue Nachricht. Anrufer unbekannt. Empfangen Dienstag, 20. Dezember, 18.44 Uhr.«
»Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Damit kommst du nicht durch, das garantiere ich dir. Wir müssen uns unterhalten. Und versuch ja nicht, mich zu ignorieren. Ich probier’s auch noch auf deiner anderen Nummer.« McCabe wurde bewusst, dass er Lainie Goffs Stimme noch nie gehört hatte. Aber trotzdem war er sich ganz sicher, dass die Nachricht von ihr stammte.
»Um die Nachricht noch einmal zu hören, drücken Sie die Eins.«
Er drückte die Eins. »Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Damit kommst du nicht durch, das garantiere ich dir. Wir müssen uns unterhalten. Und versuch ja nicht, mich zu ignorieren. Ich probier’s auch noch auf deiner anderen Nummer.« Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Was genau hatte Kelly denn getan? War das das Motiv, nach dem McCabe die ganze Zeit gesucht hatte? Er reichte das Telefon an Tasco weiter, damit er sich die Nachricht ebenfalls anhören konnte.
Die Haustür ging auf und wieder zu. Bowman rief: »Hey, McCabe! Wo stecken Sie denn?«
»Hier.«
Bowman steckte seinen Kopf zur Schlafzimmertür herein. »Ziehen Sie Ihre Jacken an«, sagte er. »Wir haben was gefunden. Das sollten Sie sich besser anschauen.«
Es war immer noch dunkel, und McCabe konnte zuerst gar nichts sehen. Erst als Bowman den Strahl seiner Taschenlampe direkt darauf richtete. Eine menschliche Hand ragte aus dem schmelzenden Schnee. Darunter waren etwa fünfzehn Zentimeter Arm zu sehen, dürr und mager und über und über mit blauen Tätowierungen bedeckt. Jung und so gut wie sicher männlich. Hand und Arm sahen gleichermaßen gefroren aus. Der gleiche wächserne Schimmer wie bei Lainie Goffs Leichnam. Sie befanden sich in einem Wäldchen ungefähr hundert Meter südwestlich der Hütte. »Gehört das immer noch zu Kellys Grundstück?«, wollte McCabe wissen.
»Ja«, bestätigte Bowman. »Noch ungefähr fünfzehn Meter, bis zu dieser großen Tanne da drüben.«
Zwei Kriminaltechniker aus Jacobis Team, Jeff Feeney und Carla Morrisey, hatten bereits damit begonnen, die Stelle weiträumig abzusperren. Sie verscheuchten ein paar der Einheimischen, die sich an der Suche beteiligt hatten, auf die andere Seite des Absperrbandes.
Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Damit kommst du nicht durch, das garantiere ich dir. Pausenlos ging McCabe Goffs Anschuldigung durch den Kopf. Hatte sie das gemeint? Missbrauchte Kelly Teenager aus dem Sanctuary House? So wie er damals von einem Priester missbraucht worden war? War Goff ihm auf die Schliche gekommen? Klagte sie ihn deswegen an? Hatte er Goff umgebracht, genau wie diesen Jungen hier, damit sie nicht an die Öffentlichkeit gehen konnte? Damit sie nicht die Polizei verständigen und ihn und sein Lebenswerk, das Sanctuary House, zerstören konnte? McCabe richtete seine eigene Taschenlampe auf die Hand und den Arm, die aus dem Schnee hervorragten. Jedenfalls hatte er jetzt ein Motiv gefunden, das sehr viel stärker war als einfach nur Geld.
Als das gesamte Gebiet mit gelbem Absperrband gesichert war, holten Feeney und Morrisey einen kleinen Generator sowie ein paar starke Scheinwerfer aus dem Transporter. Feeney baute Stahlstative auf und setzte die Scheinwerfer darauf. Morrisey rollte derweil dicke schwarze Kabel vom Generator zu den Scheinwerfern. Sie steckte die Stecker ein und legte einen Schalter um. Mit einem Mal war die ganze Grabstätte so hell erleuchtet wie das Yankee-Stadion.
Erneut rief McCabe bei Terri Mirabito zu Hause an.
»Mein Gott, McCabe, schläfst du eigentlich überhaupt nicht? Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Wir haben noch eine Leiche gefunden.«
»Du willst mich verarschen.«
»Tiefgefroren.«
»Mit einer Stichwunde im Nacken?«
»Weiß ich noch nicht.« McCabe sah zu, wie Feeney den Tatort mit einer hochmodernen Digitalkamera fotografierte. Morrisey vermaß die Stelle, an der sie den Arm entdeckt hatten, um sie entsprechend in das Tatortdiagramm eintragen zu können. »Bis jetzt ist nur ein Arm zu sehen. Sieht aus, als gehöre er zu einem Jungen. Der Rest der Leiche – vorausgesetzt, es gibt einen Rest – liegt immer noch unter einem Haufen Schnee und Eis begraben. Wenn es nicht angefangen hätte zu tauen, hätten wir nicht mal den Arm gefunden.«
»Okay. Ich zieh mich schnell an. Wo muss ich denn dieses Mal hin?«
»Komm runter zum Anleger von Casco Bay Lines. Ich lasse dich vom Feuerwehrboot abholen.«
»Harts Island?«
»Genau. Ich schicke einen Wagen, der am Inselanleger auf euch wartet. Fortier rufe ich auch noch an, also legt nicht ohne ihn ab.«
Es war kurz vor sechs Uhr, und Fortier war bereits wach und am Kaffeetrinken. Er meinte, er würde sich nur schnell etwas überziehen und wäre in fünfzehn Minuten am Anleger. Bevor er auflegen konnte, bat McCabe ihn noch, wenn möglich ein paar trockene Socken und ein paar wasserdichte Stiefel, Größe elf oder so, mitzubringen, und, ach ja, falls es ihm wirklich nichts ausmachte, vielleicht auch noch einen Föhn. Fortier erwiderte, er wolle sehen, was er auftreiben konnte.
Als schließlich sämtliche Tatortfotos im Kasten und alle Maße genommen waren, tauchte allmählich ein orangefarbener Streifen über dem grüngrauen Horizont im Osten auf. Feeney und Morrisey hatten behutsam damit begonnen, den Schnee rund um den Arm wegzuschaufeln. Sie waren sehr vorsichtig, wie Archäologen bei der Ausgrabung eines wertvollen Kunstgegenstandes. McCabe hob den Blick und sah, wie Terri mitsamt ihrer kleinen schwarzen Arzttasche durch den Schnee auf ihn zugestapft kam. Fortier trabte hinter ihr her. Er hielt eine weiße MACY’S-Plastiktüte in der Hand. Die überreichte er McCabe, der damit zur Hütte ging. Einen Blick auf Bowman und das widerliche Grinsen, das der garantiert im Gesicht hatte, verkniff er sich.
In der weißen Plastiktüte fand McCabe ein Paar dunkelblaue Sportsocken, ein Paar Stiefel in Größe elf – unverkennbar von L.L.Bean mit der typischen grünen Gummisohle und dem hellen Lederrand – sowie einen kleinen Reiseföhn. Er entdeckte eine der beiden Steckdosen, die es im Zimmer gab, und rückte einen Holzstuhl zu sich heran. Dann zog er Schuhe und Strümpfe aus. Seine Zehen waren zwar vollkommen taub, aber sie sahen nicht so gefroren aus wie der Arm des Jungen. Das wertete er als gutes Zeichen. Er steckte den Föhn ein und blies warme Luft auf seine Füße. Es fühlte sich nicht gut an. Nach wenigen Sekunden schon fingen seine Zehen an, schweinemäßig wehzutun. Ob es in den Vorschriften des Portland Police Department wohl einen Absatz über die Diensttauglichkeit gab, im Fall, dass er ein, zwei Zehen verlieren sollte? Er sagte sich, dass es langsam Zeit wurde, sich vernünftige Klamotten für den Winter in Maine zu besorgen. Manhattan war lange her und weit, weit weg.
Nach einer halben Stunde vorsichtigen Grabens kam langsam die gefrorene Leiche eines Jungen im Teenageralter zum Vorschein. Er lag auf der Seite und war nackt. Die beiden Arme waren über und über mit Tätowierungen bedeckt. In der Haut über seinem rechten Auge sowie entlang seiner Unterlippe steckte je eine ganze Reihe silberner Ringe. Noch im Tod besaß er das süße, engelsgleiche Gesicht eines Kindes. McCabe fühlte sich an Edward Mullaney erinnert, den missbrauchten Ministranten, den er vor so vielen Jahren einmal gekannt hatte. Den Ministranten, der mittlerweile ein rechtskräftig verurteilter Pädophiler und Vergewaltiger war. Und so setzte der Teufelskreis der Sünde sich immer weiter fort, dachte McCabe, wanderte wie ein Virus von Täter zu Opfer, von Generation zu Generation.
Die verschiedenen Eisschichten, die den Leichnam umhüllten, brachten McCabe zu dem Schluss, dass der Junge vor drei Schneefällen begraben worden war. Er stand zwischen Fortier und Terri und sah zu, wie die Kriminaltechniker den freigelegten Körper fotografierten. »Wir können mittlerweile Elaine Goffs Gliedmaßen bewegen«, sagte Terri.
»Und?«
»Ich glaube, dass sie sexuell gefoltert worden ist. Wir haben im Bereich ihrer Vagina Brandwunden entdeckt.«
McCabe schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Was hatte Kelly bloß dazu getrieben, so etwas zu tun? Es war so schwer, sich diesen Mann als Sadisten vorzustellen. Sobald man zu wissen glaubt, wer oder was John Kelly ist, kommt der Punkt, an dem man seine Meinung noch einmal ganz genau überdenken muss.
»Was ist mit den blauen Flecken, die uns schon aufgefallen sind, als sie noch im Kofferraum gelegen hat?«
»Ich gehe davon aus, dass es sich um ältere Prellungen handelt. Wahrscheinlich hat sie sich gewehrt, als er sie angegriffen hat. Danach hat er sie dauerhaft unter Drogen gesetzt, bis auf die Zeiten vielleicht, in denen er sie gefoltert hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes stark narkotisiert war, aber genau wissen wir das erst nach der toxikologischen Untersuchung.«
»Sonst noch was?«
»Nein. Keine Fasern oder Hautpartikel unter den Fingernägeln, und abgesehen von den Brandspuren ist der ganze Körper makellos sauber. Könnte sein, dass er sie gebadet hat, bevor er sie umgebracht hat.«
Vielleicht hatte er sie ja deshalb ins Haus der Markhams geschafft, dachte McCabe. In Kellys Hütte gab es ja weder Heizung noch Wasser. Aber dort war beides reichlich vorhanden – und, wie Markham selbst gesagt hatte, die halbe Insel kannte das Schlüsselversteck.
Als die Kriminaltechniker fertig waren, ging Terri neben der Grube mit dem Leichnam in die Knie und begann mit ihrer vorläufigen Untersuchung.
»Da haben wir’s. Er ist auch mit einem Stich in den Nacken getötet worden«, sagte sie. »Außerdem deutlich sichtbare Blutergüsse sowie Blutungen und Risse in der Haut rund um das Rektum.«
»Harter Sex?«
»Ich weiß nicht. Kann sein. Entweder das oder …«
Terri unterbrach sich. Sie sah alles andere als fröhlich aus.
»Oder was?«
»Ich glaube, unser Freund hatte seinen Spaß daran, scharfe Objekte in Öffnungen einzuführen, in denen sie nichts zu suchen haben.«
McCabe verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Noch einmal dröhnten ihm Lainie Goffs Worte durch den Kopf. Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Damit kommst du nicht durch, das garantiere ich dir. Nur leider hatte Kelly sie zu fassen bekommen, bevor sie ihn hatte fassen können. Aber zumindest in einem Punkt hatte sie recht behalten. Er würde damit nicht durchkommen.