8
Harts Island, Maine
Freitag, 6. Januar
23.30 Uhr
Abby Quinn wusste nicht, wie lange sie schon im Wandschrank des leer stehenden Sommerhauses der Castellanos saß, aber es kam ihr sehr lange vor. Der dünne Streifen Tageslicht, der zu Beginn noch unter der geschlossenen Tür hindurchgesickert war, war schon vor Stunden verblasst. Es war ihr viertes Versteck seit Dienstag, das vierte innerhalb von vier Tagen, aber jetzt, wo sie sich entschlossen hatte, die Insel zu verlassen, war klar, dass es auch ihr letztes sein würde. Ihr Plan war einfach. Das Haus der Castellanos stand höchstens hundert Meter vom Fähranleger entfernt. Freitagabends ging das letzte Boot um 23.55 Uhr. Dort war Bobby Howser Schiffsjunge. Sie war mit Bobby zusammen zur Highschool gegangen. Damals waren sie befreundet gewesen. Sie würde, sobald sie sah, wie er die Gangway einziehen wollte, losrennen und genau dann, wenn das Boot ablegte, aufspringen und das Monster hier auf der Insel zurücklassen. Das Monster, das sie in Gedanken TOD nannte.
Abby drückte auf den Beleuchtungsknopf ihrer alten, billigen Digitalarmbanduhr. Noch fünfundzwanzig Minuten. Sie schmiegte sich an die Rückwand des Schranks und schlang die Arme um die Knie. Sie drückte sie an sich, so fest sie nur konnte, als könnte sie dadurch die Angst aus ihrem Körper pressen, diesen Drang, schreiend hinaus in die Nacht zu rennen.
Zum tausendsten Mal lief der vergangene Dienstag vor Abbys innerem Auge ab. Er hatte eigentlich ganz normal angefangen. Wieder einmal so ein kalter Tag, an dem ihr einfach kein Grund einfiel, warum sie das Bett verlassen sollte. Sie schlief aus, und nachdem sie schließlich aufgewacht war, verbrachte sie den Großteil des Nachmittags unter ihrer schweren Daunendecke, vertieft in den neuesten Stephanie-Plum-Roman, während die Geräusche ihrer Mutter aus dem Erdgeschoss zu ihr heraufdrangen.
Eigentlich ging es ihr zurzeit ziemlich gut, und das war doch mal eine schöne Abwechslung. Sie nahm regelmäßig ihre Medikamente, und sie schienen auch zu wirken. Die Stimmen blieben stumm. Sie lebte wie ein ganz normaler Mensch und kam sich nicht vor wie irgend so eine Irre. Abends arbeitete sie als Kellnerin im Crow’s Nest und kam auch da ganz gut klar. Nahm Bestellungen entgegen und brachte nichts durcheinander. Sagte die Tagesangebote auswendig auf. Schrieb Rechnungen. Erkundigte sich nach dem Befinden der Gäste. Antwortete ihnen, dass es ihr prima ginge. Verdiente Geld und sparte und dachte, dass sie vielleicht sogar so etwas wie ein Leben haben könnte.
Sicher, die Medikamente machten sie dick, wie immer, aber dieses Mal hatte sie den Kampf aufgenommen. Kein Bier. Kein Naschkram. Kein Dessert. Und außerdem joggte sie abends, wenn sie im Nest fertig war, meistens noch die Sechs-Kilometer-Runde um die Insel, obwohl es spät war und kalt. Abby fühlte sich durch ihr schwabbelndes Fleisch viel zu unsicher, um tagsüber, im Hellen, auch nur über Joggen nachzudenken. Dann würden die Leute sie sehen und lachen über diese Verrückte, die versuchte, ihren wabbeligen Körper in Form zu bringen. Womöglich wachten sogar die Stimmen wieder auf und fingen an, sie zu verspotten. Nein. Das konnte sie nicht zulassen. Die Nacht bot ihr Deckung, und Deckung war genau das, was sie brauchte. Wenn sie sich an die Diät und ihr Fitnessprogramm hielt, dann konnte sie vielleicht im Frühjahr ein paar Kurse an der University of Southern Maine belegen. Noch ein paar Punkte für ihren Abschluss in Rechnungswesen sammeln. Ja, sagte sie sich. Genau das würde sie tun, wenn sie es schaffte, ihr Programm durchzuziehen und abzunehmen und die beschissenen Stimmen ruhig zu halten.
Ihr Psychiater hatte ihr immer und immer wieder gesagt, dass die Stimmen nicht echt seien.
»Doch«, hatte sie beharrt, »sie sind echt. Ich kann sie hören.«
»Stimmen zu hören ist ein Symptom Ihrer Krankheit, Abby. Ein Symptom, das wir mit Hilfe von Medikamenten in den Griff bekommen können.«
Sie gab darauf keine Antwort. Der Seelenklempner laberte Scheiße. Die Stimmen waren echt.
»Wenn Sie die Stimmen hören«, wollte er wissen, »sind sie dann laut? Oder eher leise?«
»Manchmal leise. Manchmal laut. Manchmal so laut, dass ich gar nichts anderes mehr hören kann.«
»Und wenn sie laut sind, können dann auch andere Leute sie hören? Oder nur Sie?«
»Die anderen hören sie auch. Sie tun nur so, als würden sie sie nicht hören.«
Er überlegte. »Hören Sie sie eigentlich auch manchmal hier in meiner Praxis?«
»Manchmal. Ja.«
»Hören Sie sie jetzt auch?«
Sie lauschte. »Ja.«
»Und was sagen sie?«
Sie lächelte verschlagen. »Sie sagen, dass Sie Scheiße labern.«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Manchmal labere ich vielleicht Scheiße«, sagte er, »aber in diesem Fall nicht. Ich kann sie nicht hören, Abby. Ganz ehrlich nicht. Ich mache Ihnen nichts vor.«
Sie nahm es ihm nicht ab. Die Stimmen waren echt. Sie hassten sie. Sie wollten sie umbringen. Aber das sagte sie ihm nicht. Das dachte sie bloß.
Allerdings schien er immer zu wissen, was sie gerade dachte. Vielleicht konnte er ja irgendwie ihre Gedanken belauschen.
»In gewisser Hinsicht sind die Stimmen tatsächlich echt, Abby«, sagte er. »Für Sie sind sie echt. Aber sie existieren nur in ihrem Kopf. Außerhalb nicht. Wir können sie zwar nicht aus ihrem Kopf herausholen, aber wir können sie zähmen. Wir können sie verstummen lassen. Sie daran hindern, sich in Ihr Leben einzumischen. Und genau das möchten Sie doch, oder?«
Sie nickte stumm. Ja, genau das wollte sie. Wenn er doch nur hätte ahnen können, wie verzweifelt sie das wollte. Sie nickte noch einmal, dieses Mal entschlossener.
»Okay. Wenn Sie das möchten, dann müssen Sie jeden Tag Ihre Medikamente nehmen. Sie dürfen sie kein Mal auslassen oder vergessen oder so tun, als bräuchten Sie sie nicht.«
»Aber die Tabletten machen dick.«
»Das lässt sich nicht vollkommen vermeiden, Abby, aber Sie können die Wirkung erheblich mildern. Essen Sie bewusst. Treiben Sie Sport. In der Highschool waren Sie doch mal eine aktive Sportlerin, nicht wahr?«
Ja, das war sie gewesen. Betonung auf Vergangenheit. Gewesen. Vor sieben Jahren. Feldhockey in der Schulauswahl und Lacrosse bei den Portland Highschool Lady Bulldogs. Die bellenden Biester, so hatten die Jungen sie immer genannt.
»Nicht wahr?«, sagte er noch einmal.
Sie nickte.
»Geben Sie mir bitte eine richtige Antwort, Abby. Nicht einfach nur nicken.«
»Ja, ich war eine aktive Sportlerin.«
»Dann trainieren Sie, fordern Sie Ihren Körper, als wollten Sie unbedingt wieder zurück ins Team.«
Sie hörte auf ihn, und gemeinsam entwarfen sie einen Ernährungs- und Trainingsplan. Sie hielt sich daran, und es schien zu funktionieren. Sie fühlte sich normal. Sie war zwar immer noch dick, aber nicht ganz so dick wie zuvor. Sie wurde immer fitter. Aber wenn sie sich nackt vor den Badezimmerspiegel stellte, dann sah sie immer noch so sehr wie ein Klops aus, dass sie es kaum ertragen konnte.
Dienstags war es immer ruhig im Nest. Es waren nur zwei Paare zum Essen da gewesen, und das auch noch ziemlich früh. Um sieben Uhr hatten sie schon wieder bezahlt und waren gegangen. Danach hingen nur noch ein paar Stammkunden an der Theke herum. Säufer, die mal eine Abwechslung von der Bar im Hotel Legion brauchten. Lori war genervt, weil sie den Laden nur wegen ein paar Besoffenen offen lassen musste. Aber was war an einem eiskalten Dienstagabend im Januar schon zu erwarten? Bis auf die Einheimischen, die das ganze Jahr dort lebten, war ja niemand mehr auf der Insel. Die Leute mit den dicken Brieftaschen, die Sommergäste, die hatten schon längst ihre Wasserleitungen leergepumpt, die Fenster verrammelt und waren zurück in ihr richtiges Leben nach Boston oder New York, Dallas oder Atlanta geflogen.
Die Zeit bis zum Feierabend verbrachte Abby damit, den Boden zu wischen, Sachen wegzuräumen und mit Travis Garmin herumzualbern, der hinter der Bar stand und sie, wie üblich, anbaggerte. Manchmal war sie ernsthaft versucht, darauf einzugehen. Travis war sicher alles andere als eine Leuchte. Lori hatte mal gesagt: »Wenn Dummheit reich machen würde, wäre Travis Millionär.« Aber wenigstens sah er gut aus, und es schien ihn auch nicht weiter zu stören, dass sie so dick war. Er merkte nicht mal, wenn sie sich merkwürdig benahm. Strahlte sie immer bloß mit diesem einfältigen Grinsen im Gesicht an.
Um halb neun sagte Lori: »Ach verdammt, was soll’s« und machte vorzeitig dicht. Gegen neun waren sie mit dem Aufräumen fertig. Travis fragte, ob sie Lust hätte, zum Strand zu fahren, den Wellen zuzusehen und vielleicht ein bisschen Gras zu rauchen. Sie sagte Nein, weil sie lieber noch laufen wollte. Er drängte nicht weiter. Sagte einfach »okay« und setzte sie vor dem Haus ihrer Mutter hinter Tomkins Cove ab. Sie stieg aus seinem Pick-up und blieb noch eine Weile auf den Stufen der Eingangstreppe stehen. Sie sah zu, wie die Rücklichter des Wagens sich den Hügel hinauf entfernten. Wahrscheinlich zog er seinen Joint jetzt alleine durch. Oder er suchte sich irgendein anderes Inselmädchen, mit dem er ein bisschen rummachen konnte. Abby sog die kalte, frische Luft in ihre Lungen und blickte hinauf zum Mond und den Millionen von Sternen, die in einem breiten Streifen den dunklen Himmel überzogen. Manchmal dachte sie, dass die Stimmen von dorther kamen. Sie waren Besucher aus einer weit, weit entfernten Galaxie und drangen in die Körper der Erdlinge ein, nahmen einen nach dem anderen in Besitz. Früher oder später würden sie alle unter Kontrolle haben. Einmal hatte sie ihrem Seelenklempner von dieser Theorie erzählt. Da hatte er gleich diesen besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt, woraufhin sie anfing, sich zu fragen, ob er vielleicht selbst einer von den Außerirdischen war. Vielleicht plante er sie zu ermorden, damit sie es nicht den zuständigen Behörden verraten konnte. Also machte sie schnell einen Rückzieher. Tat so, als wäre es nur ein Scherz gewesen. Er lachte nicht. Fragte sie bloß, ob sie ihre Medikamente abgesetzt habe. Danach hatte Abby versucht, der Polizei zu erklären, wie das mit den Außerirdischen war und dass die Menschen von ihnen gesteuert würden. Sie war sich ziemlich sicher, dass auch die ihr nicht geglaubt hatten.
Sie ging ins Haus. Einen Schlüssel brauchte sie nicht. Die Haustür ihrer Mutter war seit zwanzig Jahren nicht mehr abgeschlossen worden. Sie machte sie schnell wieder zu, damit die Wärme drinnenblieb. Wenn man überhaupt von Wärme sprechen konnte. Sie hörte irgendeinen Idioten bei American Idol vor sich hin krakeelen. Was für ein Scheiß. Sogar die Stimmen hörten sich besser an als das da. Sie schaltete den Fernseher aus und warf einen Blick hin zu ihrer Mutter, Gracie, um zu sehen, ob die plötzliche Stille sie aufgeweckt hatte. Was nicht der Fall war. Sie lag auf dem Lehnsessel, die Gliedmaßen von sich gestreckt, den Kopf im Nacken. Ein feuchtes Rasseln, halb Schnarchen, halb Gurgeln, drang aus ihrem geöffneten Mund. Abby sammelte das halbe Dutzend leerer, rund um den Sessel verstreuter Bud-Light-Dosen ein und warf sie in den Recycling-Eimer. Sie würde versuchen, daran zu denken, die Dinger morgen auf dem Weg zur Arbeit im Laden abzugeben. Dreißig Cent waren dreißig Cent. Dann warf sie noch ein Holzscheit in den Ofen und überprüfte die Temperatur. Das Ding heizte bereits auf Anschlag, mehr brachte es nicht zustande. Bevor sie nach oben ging, verharrte sie noch einen Augenblick und betrachtete das verlebte Gesicht der Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte. Noch keine fünfzig, aber fett und teigig sah sie aus. Wie die schmuddelige, ältere Schwester des Michelin-Männchens. Gracie steckte in einem verdreckten Old-Navy-Sweatshirt, das zwei Nummern zu klein, und einer ausgeleierten Jeans, die zwei Nummern zu groß war. Ihre Zähne waren braun und fleckig, zumindest die, die sie noch hatte. Auch wenn man die abgebrochenen mitzählte, besaß sie nicht einmal annähernd mehr die vollständige Anzahl. Bitte, lieber Gott, dachte Abby, lass mich nicht so enden wie sie.
Sie ging hinauf in ihr Zimmer und legte die schwarze Hose und die weiße Bluse ab, die sie im Nest immer trug. Sie stellte sich auf die Badezimmerwaage. Nicht schlecht. Wieder ein halbes Pfund weniger. Aber im Spiegel sah sie immer noch aus wie eine fette Kuh. Sie hatte noch einen langen Weg vor sich. Ihre Joggingsachen lagen auf dem Stuhl in ihrem Zimmer. Sie zog alles an, Schicht um Schicht, zum Schutz gegen die Kälte. Erst die lange Polypropylen-Unterwäsche über den BH und das Höschen. Dann einen langärmeligen Rollkragenpullover aus Baumwolle. Ein atmungsaktives Hemd. Eine schwarze Gore-Tex-Hose. Eine Fleece-Weste. Thermosocken und die Nike-Laufschuhe. Zum Schluss riss sie eine Plastiktüte auf und holte eine nagelneue Gesichtsmaske aus Neopren hervor. Sie setzte sie auf und schaute in den Spiegel. Ein breites Lächeln trat auf ihr Gesicht. Spider-Man starrte sie an. Bloß, dass dieser Spider-Man nicht rot war, sondern blau. Aber das war egal, sie würde so oder so jedem, dem sie heute Abend noch begegnete, einen fürchterlichen Schrecken einjagen. Die Vorstellung gefiel ihr. Sie bedachte ihr Spiegelbild mit einem grollenden Knurren.
Gracie lag immer noch unten und sah völlig weggetreten aus. »Geh ins Bett«, brüllte Abby ihr ins Ohr. Keine Reaktion. »Sag gute Nacht, Gracie.« Den Spruch hatte ihr Vater immer gebracht. Immer noch keine Reaktion. Ach, scheiß drauf. Abby setzte sich auf einen Küchenstuhl und befestigte die Spikes an ihren Schuhen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, irgendwo auszurutschen und sich etwas zu brechen. Zum Abschluss schlüpfte sie noch in ihre schwarze Gore-Tex-Jacke und schnallte sich die Gürteltasche mit der Mini-Taschenlampe und ihren Medikamenten um. Sie machte ihren Schlüsselring am Gürtel fest. Daran hingen dreizehn Schlüssel. Einer war für die Hintertür des Crow’s Nest. Und dann noch einer für jedes der zwölf Sommerhäuser, auf die Abby aufpasste, wenn die Besitzer nicht da waren. Ihre Joggingstrecke führte an allen zwölf vorbei. Leicht erledigte Arbeit. Leicht verdientes Geld. Und, was für Abby noch wichtiger war, es zeigte, dass sehr viele Menschen ihr zu Recht vertrauten, indem sie ihr ihre wertvollen Häuser überließen.
Das Thermometer an dem Baum im Vorgarten zeigte minus elf Grad. Kein Wind. Abby ging davon aus, dass sich das ändern würde, sobald sie am Strand und am offenen Meer war. Kein Problem. Sie war für die Kälte gerüstet. Sie lief los und fiel in einen lockeren Trab. Festgetretener Schnee knirschte unter ihren Füßen. Der Vollmond leuchtete ihr den Weg. Ein Mond wie gemacht für die Kreaturen der Nacht. Verrückte und Werwölfe und schräge Vögel so wie sie. Sie folgte dem knapp einen Kilometer langen unbefestigten Weg, der von ihrem Haus bis zum Strand führte. Die Spikes machten sie zwar ein bisschen langsamer, aber das war schon in Ordnung. Dafür hatte sie ein sicheres Gefühl, wenn es vereiste Anstiege hinaufging.
Sie kam an der Blockhütte der Healys vorbei. Eines von ihren Häusern. Nur eine Rehfährte führte über die gefrorene, unberührte Schneedecke vor dem Haus, und sie lief weiter. Ihre Aufgabe bestand im Grunde genommen hauptsächlich darin, nach Sturmschäden oder Anzeichen für einen Einbruch Ausschau zu halten. Eigentlich passierte fast nie etwas. Einmal hatte sie bei den Morrisseys ein eingeschlagenes Fenster entdeckt. Laut Polizei ein Einbruch. Es stellte sich heraus, dass irgendwelche Vandalen die Wände mit schmutzigen Bildern vollgesprüht hatten. Männer mit großen Schwänzen und baumelnden Eiern, die sich über nach vorn gebeugte Frauen mit dicken Titten hermachten. Ein paar Sachen waren auch gestohlen worden. Ein Flachbildfernseher, eine Stereoanlage und, nach Angaben von Dan Morrissey, drei Flaschen Kahlúa. Die Bullen fanden das ziemlich seltsam, aber Abby kannte viele Jugendliche hier auf der Insel, die auf das Zeug standen. Wieso auch nicht? Man wurde davon nicht nur besoffen, es schmeckte auch noch süß wie Dessert. Die Bullen hatten die Täter nie erwischt. Hatten einfach ein Protokoll zu dem Vorfall geschrieben, damit die Morrisseys ihrer Versicherung Bescheid sagen konnten. So waren die Bullen doch immer drauf. Untätige Arschlöcher.
Ein anderes Mal hatte Abby bei den Callahans Licht in einem der Schlafzimmer gesehen. Sie war reingegangen und hatte Marie Lopat und Annie Carle im Bett der Callahans erwischt, splitterfasernackt und voll bei der Sache. Sie hatte zu ihnen gesagt, dass sie sich anziehen und nach Hause gehen sollten, sonst würde sie ihre Eltern anrufen. Abby hätte nie gedacht, dass Annie und Marie Lesben waren, aber hey, wenn es ihnen Spaß machte …
Der Wald hörte auf, und Abby schwenkte nach links auf die Seashore Avenue. Ein kalter Nordostwind schlug ihr ins Gesicht, doch dank ihrer Blauer-Blitz-Maske spürte sie ihn kaum. Riesige Brecher krachten auf die Felsen unterhalb der Straße und schleuderten knapp zehn Meter hohe Gischtfontänen in die Luft. Der Vollmond brach sich glitzernd im Wasser. Jetzt waren sogar noch mehr Sterne am Himmel als zuvor. Abby fühlte sich gut. Sie joggte. Sie ließ die Finger vom Bier. Sie nahm ihre Medikamente. Die Stimmen bleiben die meiste Zeit über stumm. Sie fühlte sich sogar langsam wieder wohl als Frau, so wie vor sieben Jahren an der Portland High und die beiden Jahre danach an der University of Southern Maine. Bevor die Stimmen sich in ihrem Kopf eingenistet hatten. Bevor sie versucht hatte, sie durch einen Sprung von den Klippen bei Christmas Cove zum Schweigen zu bringen. Nicht nur einmal, sondern zweimal. Bevor sie zwei Jahre lang in Winter Haven eingesperrt worden war und dann noch mal fast ein Jahr unter lauter Ausreißern und Drogensüchtigen in John Kellys Wohnheim in der Stadt zugebracht hatte. Jetzt war sie zwar wieder zu Hause, aber sie war nicht frei. Abby wusste aus Erfahrung, dass sie sich keine Unachtsamkeit leisten konnte. Die Stimmen lebten. Medikamente hin oder her, es konnte jederzeit zur Katastrophe kommen.
Auf dem asphaltierten und nahezu ebenen Weg konnte sie ihre Schritte beschleunigen. Die Häuser auf dieser Seite der Insel waren meist neuer und größer und die Besitzer allesamt keine Einheimischen. Die eine Hälfte gehörte reichen Pensionären. Die meisten verzogen sich immer gleich nach Neujahr für vier Monate nach Florida. Die andere Hälfte gehörte noch reicheren Sommergästen, die die meiste Zeit des Jahres an Orten wie New York oder Dallas oder L. A. zubrachten. Ein Ehepaar stammte sogar aus London und hatte sich bei Seal Point direkt am Wasser einen riesigen, protzigen Kasten gebaut. Wahrscheinlich zwei Millionen wert. Mehr Geld, als die meisten Inselbewohner im ganzen Leben verdienten. Und dann waren sie nie länger als vier Wochen im Jahr hier. Während der restlichen achtundvierzig Wochen stand das Haus verlassen und verschlossen da. Sommergäste hatte es auf Harts Island schon immer gegeben, aber noch nie welche, die sich ein solches Leben leisten konnten. Die Insel veränderte sich, und das fand Abby traurig. So, wie es hier während ihrer Kindheit gewesen war, hatte es ihr besser gefallen. Sie wünschte, die Londoner würden einfach wieder zurück nach London gehen und ihre dicke, fette Villa mitnehmen. Oder sie raus aufs Meer treiben lassen. Ja, sie bezahlten sie dafür, dass sie darauf aufpasste, und ja, sie nahm das Geld gern. Aber trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, wenn es sie nicht gegeben hätte.
Vor hundert Jahren hätten die meisten Inselbewohner nicht einmal zu träumen gewagt, hier draußen am offenen Meer etwas anderes als eine Fischerhütte zu bauen. Noch vor zwanzig Jahren, als Abby ein kleines Mädchen gewesen war, hatten hier am Strand nur wenige und überwiegend einfache Häuser gestanden. Es war einfach viel zu kalt und die Nordostwinde viel zu stürmisch. Aber heutzutage fanden die Leute gar nichts mehr dabei, auf die Insel zu kommen, sie von Grund auf zu verändern, die Grundstückspreise und Steuern immer weiter in die Höhe zu treiben und die Natur auf eine Art und Weise herauszufordern, die Abby arrogant und falsch vorkam.
Wäre Abby nur ein, zwei Schritte schneller gelaufen, hätte sie die Biegung bei Seal Point nur ein, zwei Sekunden früher erreicht, oder hätte sie vielleicht einfach nur aufs Meer hinausgeschaut, als das Streichholz hinter dem Fenster im ersten Stock aufflackerte, dann hätte sie es nie gesehen. Doch auch in diesem Fall war, wie so oft in ihrem Leben, das Glück nicht auf Abbys Seite. Das Streichholz flammte auf. Sie sah es. Dann war es wieder erloschen. Es ging so schnell, dass sie sich nicht einmal sicher war, ob es überhaupt passiert war. Sie blieb stehen und starrte zu dem Fenster hinauf. Das Haus von Todd und Isabella Markham war ein großes, mit grauen Schieferschindeln verkleidetes, neo-viktorianisches Gebäude im »traditionellen Inselstil«, wie Isabella gern sagte. Sie hatten es auf einem künstlichen Hügel aus zehn Lastwagenladungen Erde errichten lassen, um einen noch eindrucksvolleren Blick auf den Ozean zu haben. Es besaß einen dreieckigen Frontgiebel und auf der rechten Ecke einen kleinen, runden Turm. Ein Dutzend Stufen führten hinauf zu einer breiten, offenen Veranda, die einmal um das ganze Haus herumlief. Abby stand im Schatten, starrte zu dem Fenster hinauf und fragte sich, ob sie sich das Ganze vielleicht nur eingebildet hatte. Dann, gerade als sie das Gesehene als Produkt ihrer Fantasie abtun wollte, flammte ein zweites Streichholz auf. Wer immer es war, musste damit eine Kerze oder eine Laterne angezündet haben, denn dieses Mal blieb das Licht an und flackerte schwach.
Abby fragte sich, ob die Markhams wohl auf der Insel waren. Sie lebten in Boston und kamen manchmal auch im Winter hierher, aber Isabella rief eigentlich immer ein, zwei Tage vorher an und bat Abby, das Haus aufzuschließen, die Heizung einzuschalten und ein paar Lichter brennen zu lassen, damit es bei ihrer Ankunft warm und gemütlich war. Und außerdem, wenn es wirklich die Markhams waren, warum schalteten sie nicht einfach das elektrische Licht ein? Warum mühten sie sich mit Kerzen ab?
Das mit den Kerzen deutete auf irgendetwas Romantisches hin. Ob Marie und Annie wieder einmal Ehepaar spielten? Oder ein anderes Teenagerpärchen von der Insel? Abby versuchte sich zu erinnern, ob sie im Spirituosenschrank der Markhams jemals eine Flasche Kahlúa gesehen hatte. Hoffentlich würde sie nicht wieder irgendwelche verdorbenen Wandbilder vorfinden. Aber ganz egal, was da los war, die Markhams bezahlten sie fürs Aufpassen, also musste sie auch nachsehen. Es war zwar nicht viel Geld, aber sie hatte sich darauf eingelassen, und die Markhams vertrauten ihr.
Wenn sie ihr Handy dabeigehabt hätte, dann hätte sie jetzt die Polizei anrufen können. Oder Travis. Aber das Handynetz hier draußen am Seal Point war extrem unzuverlässig und die Polizei hätte sie sowieso bloß schikaniert. Und Travis? Wenn er nicht zu Hause im Bett lag und schlief, dann war er wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, irgendeinem Mädchen an die Wäsche zu gehen. Er würde Abbys Nummer auf dem Display erkennen und gar nicht erst rangehen.
Sie versuchte sich an den Grundriss des Hauses zu erinnern. Bislang war sie nur ein einziges Mal im ersten Stock gewesen, als Isabella ihr alles gezeigt und ihr die Schlüssel gegeben hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass das Kerzenlicht aus dem Schlafzimmer kam. Das war ein großes Zimmer auf dieser Seite des Hauses mit einer riesigen Fensterwand, die einen freien Blick hinaus auf das offene Meer ermöglichte. Sie wusste noch, dass sie gedacht hatte, wie wundervoll es sein musste, warm und kuschelig im übergroßen Bett der Markhams aufzuwachen, während die Sonne langsam über den Horizont kletterte. Wie wundervoll es sein musste, sich in solch einem Ambiente zu lieben.
Abby schlich auf das Haus zu und versuchte sich dabei im Schatten zu halten wie die Kommissare im Fernsehen. Wer oder was auch immer sich da im Haus aufhielt, ihr Gefühl sagte ihr, dass es weder Annie noch Marie noch irgendwelche anderen Inselteenager waren. Aber wer dann? Ihre Nervosität wuchs. Sie kam zum Haus und stieg die zwölf Stufen bis zur Veranda hinauf. Dann drückte sie sich flach an die Hauswand und schob sich seitwärts bis zur Haustür. Sie legte das Ohr an die Tür. Im selben Augenblick wurde ihr klar, wie idiotisch das war. So wie der Wind heulte und die Brecher gegen die Felsen krachten, konnte gar kein Geräusch von drinnen an ihr Ohr dringen, selbst, wenn da jemand aus voller Kehle gebrüllt hätte.
Aber dann hörte sie doch etwas. Jemand sagte ein paar leise Worte. Und dann noch jemand. Dann fing ein ganzer Chor an zu flüstern. Die Stimmen erwachten aus ihrem Schlaf. Mach schon, du blöde Ziege, geh rein. Los jetzt, du fette Kuh. Geh da rein und lass dich umbringen. Das willst du doch, wenn du ehrlich bist, oder etwa nicht? Einfach ignorieren, sagte sie sich. Nicht reagieren. Wenn man ihnen eine Antwort gab, dann fühlten sie sich bloß ermutigt. Sie gab sich einen Ruck. Sie musste das tun. Wenn sie es nicht schaffte, die Stimmen zu ignorieren und ihre Aufgabe zu erledigen, dann konnte sie auch gleich von der Klippe springen. Genau das wollten die Stimmen erreichen. Und dieses Mal würden sie dafür sorgen, dass keine Hummerfischer in der Gegend waren und sie aus dem Wasser ziehen konnten.
Abby spürte die Nässe unter der Maske und merkte erst jetzt, dass sie weinte. Die Stimmen wurden immer lauter. Sie musste sie zum Schweigen bringen. Sie zog die Handschuhe aus, griff in ihre Gürteltasche und suchte nach der Flasche mit dem Zyprexa. Sie zog die Maske ab und schluckte eine Zwanzig-Milligramm-Tablette hinunter, trocken. Schon die zweite heute. Das Doppelte der vorgeschriebenen Dosis. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis die Wirkung einsetzte, ja nicht einmal, ob sie überhaupt wirken würde, aber sie hoffte es. Es war ihre einzige Waffe.
Jetzt streifte sie die Maske und die Handschuhe wieder über und schlich nach hinten zur Rückseite des Hauses. Sie warf einen Blick in das Garagenfenster. Der Mond schien hell genug, um zu erkennen, dass ein Wagen in der Garage stand. Aber es war nicht der Escalade der Markhams. Dieser hier war kleiner, schnittiger.
Abby griff nach ihrem Schlüsselbund und suchte den Schlüssel mit den Initialen I.M. Sie schloss die Hintertür auf und trat ein, machte die Tür zu und lauschte erneut. Regungslos stand sie da. Das Mondlicht schien durch die Scheiben der großen Fensterfront und erhellte das gesamte Erdgeschoss, das aus nur einem einzigen, großen Raum bestand. Küche, Ess- und Wohnbereich gingen nahtlos ineinander über. Draußen krachten mondbeschienene Wellen auf die Felsen und lösten eine Schaumexplosion nach der anderen aus, aber das Haus war so massiv gebaut, dass sie kaum etwas davon hörte. Eigentlich konnte die zusätzliche Tablette gar nicht so schnell gewirkt haben, dennoch schienen die Stimmen leiser geworden zu sein. Sie gaben jetzt nur noch ein leises Murren und Brummen von sich, wie unruhige Schläfer, die sich im Bett herumwälzten. Ansonsten herrschte Stille.
Im Raum war es warm. Abby kniete nieder und legte ihre flache Hand auf die Holzdielen. Die Fußbodenheizung war an. Sie blickte sich um, suchte nach Mänteln oder Stiefeln oder anderen Anzeichen ungebetener Wintergäste. Nichts. Rechter Hand führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Wer oder was mochte sie dort erwarten? Sie stand vor der ersten Stufe und lauschte. Ein lang gezogener, leiser, gramerfüllter Schrei drang zu ihr nach unten. Ihr Herz schlug schneller. Waren das die Stimmen? Eher nicht, aber sie befahl ihnen trotzdem, still zu sein. Dann blieb sie noch eine Minute lang stehen, schloss die Augen und holte einmal tief Luft. Wenn sie diese eine Sache hier zu Ende brachte und alles richtig machte, vielleicht konnte sie dadurch die Stimmen für immer zum Schweigen bringen. Außerdem gehörte es zu ihrer Arbeit. Sie musste es versuchen. Sie blickte sich um, suchte in der Küche nach so etwas wie einer Waffe. Ihr Blick fiel auf ein Küchenmesser mit einer über zwanzig Zentimeter langen Klinge. Damit konnte man sicher jemanden umbringen – aber der Gedanke, tatsächlich jemanden zu erstechen, und sei es in Notwehr, jagte ihr viel zu viel Angst ein. Sie entschied sich stattdessen für eine gusseiserne Bratpfanne. Die Vorstellung, jemandem den Schädel einzuschlagen, behagte ihr irgendwie eher.
Sie streifte die Fausthandschuhe ab und schnallte sie an ihrem Gürtel fest. Dann holte sie noch einmal tief Luft, wartete ein paar Sekunden und stieg dann, Stufe für Stufe und so leise wie irgend möglich, die Treppe hinauf. Sie hielt die Bratpfanne so fest gepackt, dass ihre rechte Hand anfing wehzutun. Dann betrat sie den oberen Flur. Ein dicker Teppich dämpfte ihre Schritte. Erneut erklang dieser wortlose Schrei, leise und von einer entsetzlichen Hoffnungslosigkeit. Noch nie im Leben hatte Abby etwas so Trauriges gehört. War das echt, oder waren es die Stimmen? Sie konnte es nicht sagen. Die Tür am Ende des dunklen Flurs stand einen Spalt offen, nur ein, zwei Zentimeter weit. Schwaches, flackerndes Licht drang heraus. Abby presste sich gegen den Türpfosten und spähte mit einem Auge in den Raum. Einen Augenblick lang stand sie wie gelähmt da, unfähig sich zu rühren, unfähig zu sprechen, unfähig zu begreifen, was sich da vor ihrem Auge abspielte.
Das Zimmer war nur von einigen wenigen im Raum verteilten Kerzen erleuchtet. Auf dem Bett kniete eine nackte Frau. Ihre Hand- und Fußgelenke waren allem Anschein nach mit Seidenschals an die Bettpfosten gefesselt. Ein weiterer Schal bedeckte ihren Mund. Sie hatte den Kopf gesenkt. Langes, dunkles Haar verbarg ihr Gesicht. Neben dem Bett stand ein Mann. Sein Blick war auf die Frau gerichtet, und er wandte Abby den Rücken zu. Auch er war nackt, sein Körper schlank und durchtrainiert. In der rechten Hand hielt er ein Messer mit einer schmalen Klinge. Abby sah, wie er mit der linken Hand die Haare der Frau anhob und dann mit dem Messer ausholte. Wie er das Messer im hohen Bogen senkte. Innehielt. Die Spitze sorgfältig auf den Nacken der Frau setzte, genau in der Mitte. Wie er zustieß. Die Klinge drang in das Fleisch. Die Frau brach zusammen. Abbys Kopf explodierte in einer Kakophonie von Stimmen. Sie schrie auf. Der Mann drehte sich um. Er besaß kein Gesicht, nur eine feurige Mähne und eiskalte Augen, die Abby zwischen den Flammen hindurch anstarrten. Abbys Schrei hatte ihn aufgeschreckt. Er zog das Messer aus dem Nacken der Frau, riss die Tür auf und holte in Richtung von Abbys Kehle aus. Sie wich zurück. Die Klinge sauste vorbei. Er hob den Arm, um erneut zuzustechen. Abby schwang die Bratpfanne. Verfehlte ihn. Die Stimmen kreischten in den höchsten Tönen. Abby rannte los. Der Mann, immer noch nackt, rannte hinter ihr her. Abbys Kopf war voll mit grässlichem Getöse. Ein ganzer Chor forderte ihren Tod. Sie lief die Treppe hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal und raste zur Haustür. Sie war verschlossen. Der Mann kam näher. Abby schwang die Pfanne und verfehlte ihr Ziel erneut. Flammen schossen aus seinen bestialischen Augen. Die Stimmen lachten hysterisch. Abby ließ den Riegel aufschnappen. Der TOD packte sie am Arm. Seine Hand brannte, als wäre er der Teufel persönlich. Sie drehte sich um, ging in die Hocke und schwang die Bratpfanne wie damals, als sie noch Hockey gespielt hatte, mit voller Wucht. Dieses Mal traf sie. Er sank zu Boden, keuchte, schnappte nach Luft, die Hände auf die schmerzenden Hoden gepresst. Abby wirbelte herum, rannte durch die offen stehende Tür, die Stufen hinunter und warf die Bratpfanne in die Büsche neben dem Haus. Sie jagte durch den gefrorenen Vorgarten, warf einen Blick zurück und sah seine nackte Gestalt die Verandatreppe herunter- und in die eiskalte Nacht hinausstürmen. Sie sprang den vereisten Hang hinab bis zur Straße. Dank der Spikes schaffte sie es irgendwie, nicht auszugleiten. Als sie noch einen Blick zurück wagte, sah sie ihn ausrutschen, sah, wie es ihm die Beine unter dem Körper wegriss, fast wie bei einer Zirkusnummer. Ein nackter Clown mit einem Feuerkopf, der auf einer gefrorenen Bananenschale ausrutscht. Mit Schwung flog er zuerst hoch in die Luft und landete anschließend mit voller Wucht auf dem Rücken. Er blieb regungslos liegen. Abby rannte hinaus in die Nacht, ohne jede Orientierung, in der Gewissheit, dass er ihr folgen würde. Sie war wild entschlossen, nicht nur ihrem eigenen Tod davonzulaufen, sondern auch den Stimmen, die in ihrem Kopf wüteten.
Sie rannte rund eineinhalb Kilometer weit und rechnete bei jedem Schritt damit, dass der TOD ihr die Hand auf die Schulter legen, dass seine Klinge ihr in den Nacken dringen würde genau wie bei der Frau. Schließlich blieb sie stehen, völlig außer Atem. Da war niemand hinter ihr. Nur die vereiste Straße im Mondlicht. Er war verschwunden. Abby starrte in die Dunkelheit, während sie langsam wieder zu Atem kam. Immer noch nichts. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Würde der Arzt ihr sagen, dass das Ganze ihrer Krankheit zuzuschreiben war, dass sie diese Bilder erschuf, die nur in ihrem Kopf existierten? Sie wusste es nicht. Vielleicht war es ja tatsächlich nur das.
Fünf Minuten vergingen, dann sah Abby ein Scheinwerferpaar von Seal Point her auf sich zukommen. Wie dumm von ihr. Natürlich. Der Wagen in der Garage der Markhams. Er war vielleicht noch einen halben Kilometer von ihr entfernt, und er kam rasch näher. Sie blickte nach links. Sie blickte nach rechts. Dachte nicht nach, reagierte nur. Die Stimmen kreischten: Nach links! Nach links! Die Felsen, das Meer. Stürz dich ins Meer. Das Wasser wird dich vor dem Messer retten. Nein, kreischte sie zurück, ich will noch nicht sterben. Sie wandte sich nach rechts, weg von den Felsen, und gelangte auf einen schmalen Pfad, der sich durch eine Salzwiese ins Innere der Insel schlängelte. Gefrorene Furchen, die ein paar Skilangläufer hinterlassen hatten, verlangsamten ihre Flucht. Sie machten die Oberfläche tückisch, sodass man sich darauf leicht den Knöchel vertreten konnte, auch mit Spikes.
Hatte er gesehen, dass sie von der Straße abgebogen war? Sie wusste es nicht. Falls ja, dann würde er sie zu Fuß verfolgen. Für das Auto war der Pfad viel zu schmal. Mit gesenktem Kopf und vor- und zurückschnellenden Armen stürmte Abby vorwärts. In ihrem Rücken hörte sie, wie ein Motor ausgeschaltet, eine Autotür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde.
Sie rannte so schnell und so ausdauernd wie nie zuvor in ihrem Leben und betete inständig, dass ihr Fuß nicht in irgendeiner Langlaufrinne hängen bleiben, dass sie nicht stürzen und sich den Knöchel brechen würde. Bei jedem dritten oder vierten Schritt durchbrach sie mit dem Fuß die gefrorene Oberfläche und sank in den darunterliegenden, verkrusteten Schnee, wodurch sie noch langsamer wurde. Wie lange noch, bevor er sie eingeholt hatte? Egal, wie schnell sie auch lief, ihr war klar, dass sie nicht schnell genug war. Aber wenn sie ihm schon nicht davonlaufen konnte, vielleicht konnte sie ihn ja abhängen? Sie hatte ihr ganzes Leben lang in diesem Labyrinth aus Pfaden gespielt. Sie wusste genau, wie sie sich durch dichte Tannenwälder schlängelten und immer wieder im Bogen zurückführten, einander kreuzten. Hier konnte man sich leicht verlaufen. Und es war alles andere als einfach, jemanden zu verfolgen, vor allem bei Nacht. Auch in einer mondhellen Nacht. Das hoffte sie jedenfalls. Es war der einzige Vorteil, den sie hatte. Sie kam an eine Weggabelung. Der breitere Weg, der nach links abzweigte, führte bis an die hintere Grenze der Müllkippe und von dort auf eine asphaltierte Straße, die zum Hafen führte. Der andere Weg war schmaler und schwieriger. Er führte über verschiedene kleine Pfade und Eisplatten, wo ihre Spikes und ihre genaue Ortskenntnis ihr einen größeren Vorteil verschafften. Sie schwenkte nach rechts.
Es war fast ein Uhr nachts, als Abby sich wieder aus dem Wald wagte. Sie arbeitete sich durch die dunklen Straßen rund um den Hafen bis zu der kleinen Polizeiwache vor, wo die beiden Beamten des Portland Police Department ohne Zweifel ein Schläfchen hielten. Sie versuchte, die Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Natürlich. Sie klingelte. Niemand kam. Sie blickte sich um. Die Island Avenue lag in beide Richtungen dunkel und verlassen da. Endlich machte sich die Erschöpfung bemerkbar, und Abby lehnte sich gegen die Klingel. Sie würde jetzt so lange hierbleiben, bis einer der beiden sie hereinließ oder bis der TOD ihr seine schmale Klinge in den Nacken stieß. Was immer als Erstes passierte. Sie versuchte, Ordnung in die fiebrigen Bilder zu bringen, die ihr durch den Kopf jagten. Sie musste vernünftig klingen, sonst würden die Polizisten ihr niemals glauben. Immer noch rührte sich nichts. Sie senkte den Kopf. Ein leises, klagendes Wimmern drang aus ihrem Mund. Fast wie das Weinen der Frau auf dem Bett. Die Stimmen verhöhnten sie. Sie tat so, als hörte sie sie nicht. Düstere Visionen kreisten sie von allen Seiten ein. Schließlich tauchte der große Polizist mit dem schwarzen Schnurrbart hinter dem zugezogenen Vorhang auf. Er sah wütend aus, weil sie ihn aufgeweckt hatte. Er öffnete die Tür und ließ sie hinein.
Das war am Dienstag gewesen. Jetzt war Freitag. 23.52 Uhr. Zeit, zur Fähre zu laufen.