30
McCabe nahm den T-Bird und erreichte knappe zehn Sekunden vor Maggie die Summer Street 131. Sie parkte direkt hinter ihm. Er trug immer noch die Sachen, die er schon den ganzen Tag angehabt hatte. Maggie hatte sich einen Jogginganzug, Turnschuhe, einen Anorak und eine schwarze, eng anliegende Strickmütze übergezogen. Das Halfter mit der Dienstwaffe hatte sie um die Hüfte geschnallt. Sie sahen sich das Haus aus der Nähe an. Ein kleines Doppelhäuschen aus Holz, das dringend ein wenig Liebe und Zuwendung hätte gebrauchen können. Irgendjemand hatte schwarze Nummern auf die beiden Haustüren gemalt, eine Eins auf die linke und eine Zwei auf die rechte Tür. Wohnung Nummer eins lag dunkel und verlassen da. Im Fenster klebte ein Zettel mit der Aufschrift WOHNUNG ZU VERMIETEN. Nummer zwei war eindeutig bewohnt. Fahles Licht drang durch die Vorhänge nach draußen, und die Tür stand einen Spaltbreit offen. Durch die Lücke war ebenfalls Licht zu sehen. Vielleicht hatte Abby ja herausgelinst, hatte sie kommen sehen und war weggerannt, ohne die Tür richtig zuzumachen.
»Ich nehme die Vorderseite«, sagte McCabe. »Du die Rückseite, damit sie nicht durch die Hintertür verschwinden kann.«
Maggie nickte und huschte geduckt die Einfahrt hinunter. McCabe wartete eine Minute, damit sie ihre Position einnehmen konnte, dann ging er über den betonierten Pfad zum Hauseingang. Auf halber Strecke hörte er den Schrei einer Frau, dann ein lautes »Scheiße« und anschließend einen scharfen Knall. Alles rasend schnell hintereinander. McCabe erkannte das Geräusch. Eine Pistole, Kaliber 22. Vielleicht mit Schalldämpfer. Aber eher nicht. Mit einem Satz hatte er die drei Stufen der Eingangstreppe überwunden und warf sich mit voller Wucht gegen die billige, hohle Haustür. Der Aufprall ließ das Holz zersplittern. Eine Kettenhalterung und etliche Schrauben flogen vor ihm durch die Luft, während er in einen schwach erleuchteten Raum kugelte und die Fünfundvierziger dabei im Bogen vor sich schwang. Auf der gegenüberliegenden Zimmerseite sah er eine blau gekleidete Gestalt durch die weit offene Hintertür verschwinden.
»Polizei! Keine Bewegung!«, rief er. Die Gestalt lief weiter.
»Polizei! Keine Bewegung!«, erklang Maggies Stimme wie ein Echo aus dem Hinterhof.
Zu seiner Linken wälzte sich eine Frau in einem Flanellnachthemd auf dem Boden. Aus einer Halswunde spritzten in regelmäßigen Abständen Blutfontänen. Nicht Abby. Größer, dicker, älter. Sie sah aus wie jemand, der im Sterben lag.
»Stehen bleiben!«, hörte er Maggie erneut rufen. »Flach auf den Boden! Hände hinter den Kopf!«
McCabe unternahm einen verzweifelten Versuch, die Blutung zu stillen, zerrte am Saum des Nachthemdes, rollte die weiche Baumwolle zu einer Art Bandage zusammen und drückte sie auf die Halswunde. Aber es hatte nicht viel Sinn. Die Wunde war zu groß, und der Blutfluss ließ sich nicht stoppen. Der provisorische Druckverband färbte sich tiefrot. Die Augen der Frau waren geöffnet. Sie blinzelte. Gurgelte ein Wort. »Ellie.« War das ihr Name? »Ellie«, gurgelte sie noch einmal. Dann wurde ihr Blick glasig.
Von draußen hörte er einen scharfen Knall, dann einen zweiten und anschließend das tiefere Wummern von Maggies Fünfundvierziger. Scheiße. Er war davon ausgegangen, dass sie den Drecksack erwischt hatte. Er jagte zur Hintertür hinaus auf eine kleine Veranda und hörte noch einen Knall. Dann war es still. Zu seiner Linken sah er Maggie am Boden kauern. Sie kniete und hielt die Fünfundvierziger immer noch in den zitternden Händen, während sie versuchte, auf die fliehende Gestalt zu zielen. McCabe schätzte die Entfernung und die ungefähre Richtung ab, zielte und schoss. Der Mann lief weiter. McCabe ging in die Knie. Er stützte sich auf dem Verandageländer ab und spähte in die Dunkelheit. Dann gab er auf. Er konnte sein Ziel gar nicht mehr erkennen und wollte keine unschuldigen Zivilisten gefährden. Irgendwelche Leute, die im Bett lagen und schliefen. Die die Straße entlanggingen. Wie leicht konnte eine verirrte Kugel so jemanden treffen. Das durfte er nicht riskieren. Auch wenn es bedeutete, dass er das Schwein davonkommen lassen musste.
Er steckte seine Waffe in das Halfter und rannte die Treppe hinunter. Maggie lag im Schnee. Er sah, dass sich rechts unten auf ihrem Sweatshirt, direkt oberhalb des Halfters, ein kleiner roter Fleck ausbreitete. Die Fünfundvierziger hielt sie immer noch mit beiden Händen gepackt. Sie versuchte sich aufzusetzen. Während McCabe mit der einen Hand vorsichtig ihren Hinterkopf stützte, nahm er ihr die Waffe aus den Händen, sicherte sie und steckte sie in seine Manteltasche. Dann ließ er Maggie vorsichtig auf den Rücken sinken, sodass ihr Kopf im Schnee lag. Er zielte mit seiner eigenen Waffe weiterhin in die Richtung, in die der Schütze verschwunden war, holte sein Handy heraus und wählte PPD911. Damit landete er direkt in der Zentrale. Maggie schaute ihn an. Sie war bei vollem Bewusstsein, hatte aber ganz offensichtlich Schmerzen. Sie versuchte zu lächeln. »Hier McCabe.« Er sprach schnell. »Zwei Verletzte, eine Beamtin, eine Zivilistin. Beides Schusswunden. Summer Street 131. Ich wiederhole: Summer Street eins-drei-eins. Verletzung der Zivilistin unter Umständen tödlich. Schickt zwei Notarztwagen und alarmiert sämtliche Einheiten. Männlicher Verdächtiger flüchtet zu Fuß nach Süden, Richtung Commercial Street. Groß. Dunkler Mantel mit Kapuze.«
»Und Brille«, krächzte Maggie.
»Sonst noch was?«, fragte McCabe.
Sie schüttelte den Kopf. »Es war dunkel. Er hat die Kapuze aufgehabt. Ich hab bloß seine Brille gesehen. Schwarzes Gestell.«
»Der Verdächtige trägt eine Brille mit einem schwarzen Gestell«, wiederholte McCabe. »Er ist bewaffnet und extrem gefährlich.«
Er schob ihr Sweatshirt hoch, um die Wunde zu untersuchen. In ihrer rechten Leiste befand sich ein kleines, schwarzrotes Loch. Das war ungefähr das, was man von einer Zweiundzwanziger erwarten konnte. Nicht besonders viel Blut. Sah auch nicht gerade lebensgefährlich aus, aber man konnte nie wissen. Falls die Kugel ein Organ verletzt hatte, dann wurde es vielleicht kritisch. Er fragte sich, ob es wohl auch eine Austrittswunde gab, aber er wollte sie lieber nicht umdrehen und nachsehen.
»Ich muss los«, sagte er. »Bin gleich zurück.« Dann rannte er die Hintertreppe hinauf.
Die Zentrale meldete sich wieder. »Notarztwagen sind unterwegs. Alle Streifen verständigt. Wir sind gleich da.«
Der Wohnzimmerboden war voller Blut. Ellie, falls das ihr Name gewesen war, war tot. Ihre Augen waren offen, aber leer. Er kniete sich neben sie und tastete mit zwei Fingern an ihrem Handgelenk nach dem Puls. Nichts. Er nahm ihr das blutige, zusammengeknüllte Nachthemd vom Hals und bedeckte ihre Blöße. Ein Verband war jetzt nicht mehr nötig.
Er musste unbedingt Abby Quinn finden, falls sie noch hier und am Leben war. Die Wohnung war nicht groß. Wohnzimmer. Küche. Ein Schlafzimmer. Ein kleines Bad. »Abby!«, rief er. »Hier spricht die Polizei. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Er lauschte. Keine Reaktion. Die Fünfundvierziger im Anschlag, betrat er das Schlafzimmer. Fahles Licht drang zu den Vorhängen herein. Ein ungemachtes Doppelbett. Ein Stuhl. Eine Lampe. Keine Abby. Er trat zum Schrank, stellte sich seitlich an die Tür, riss sie auf. Da war sie auch nicht. Er rief noch einmal: »Abby Quinn! Hier spricht die Polizei. Kommen Sie raus!« Immer noch keine Antwort. Entweder war sie im Bad, oder sie war schon wieder verschwunden. Er ging auf die Badezimmertür zu. Draußen ertönten Sirenen. Rufe. Der Klang rascher Schritte. Rote, blinkende Lichter tanzten auf den Wohnzimmerwänden.
Er riss die Badezimmertür auf und trat ein. Hörte ein Wimmern hinter dem vorgezogenen Duschvorhang. Er zog ihn auf. In der Wanne stand Abby. Sie trug genau das gleiche Flanellnachthemd wie Ellie. Mindestens zwei Nummern zu groß. Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen und ihre Hände umeinandergelegt, die eine über der anderen, so als würde sie irgendetwas festhalten.
»Alles in Ordnung, Abby«, sagte er. »Ich bin von der Polizei.«
Sie riss die Augen weit auf und schaute ihn an. Ein Ausdruck fassungslosen Entsetzens trat auf ihr Gesicht. Sie schwang die beiden Arme weit zurück und drehte ihren Körper dabei ein wenig nach links. Dann riss sie die Arme in kräftigem Schwung nach vorne. Die beinahe perfekte Imitation einer beidhändigen Rückhand. Dabei stöhnte sie auf wie eine Serena Williams im Nachthemd. Nur dass Abby keinen Schläger in den Händen hielt.
Sie fing an zu schreien und mit den Armen zu fuchteln. Sie stürzte nach vorne. Er fing sie auf, schlang die Arme um sie und hielt sie fest umklammert, wie man es mit kleinen Kindern bei einem unkontrollierten Wutanfall macht. Sie wand sich und wehrte sich und kreischte in den höchsten Tönen, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Er konnte sie kaum bändigen. »Alles in Ordnung, Abby«, wollte er sagen, doch seine Stimme wurde von ihren Schreien übertönt. Sie versuchte ihm einen Kopfstoß zu verpassen, verfehlte ihn jedoch knapp. Ein Sanitäter kam ins Badezimmer gestürzt.
»Halten Sie sie weiter fest!«, rief er, und McCabe nahm noch einmal all seine Kraft zusammen. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie der Mann Abbys Ärmel nach oben schob und ihr eine Spritze mit einer kurzen Nadel in den Arm stach. Sie kreischte und wehrte sich noch ungefähr eine Minute lang, doch dann entspannte sie sich zusehends. Trotzdem ließ er sie nicht los. Sie hörte auf zu schreien. Dann legte sie ihren Kopf an McCabes Schulter und weinte. Als sie schließlich ganz ruhig geworden war, kamen zwei Sanitäter herein, schnallten sie auf eine Trage und schoben sie in einen wartenden Krankenwagen.
»McCabe?«, sagte eine Männerstimme.
Das war T. Ly, der Polizist, der ihn zum Fish Pier gefahren hatte. Kaum zu glauben, dass seither noch keine sechsunddreißig Stunden vergangen waren.
»Wie geht es Maggie?«, erkundigte sich McCabe. Draußen blitzten die blauen Blinklichter des halben Dutzends Streifenwagen sowie die roten der beiden Notarztwagen.
»Ganz gut, glaube ich. Der Sanitäter hat gesagt, dass sie erst in der Notaufnahme eine hundertprozentige Aussage machen können, aber er denkt, dass es nicht so schlimm ist. Anscheinend hat die Kugel keine lebenswichtigen Organe verletzt.«
McCabe nickte und ging nach draußen. Er rief bei Terri Mirabito zu Hause an. Weckte sie auf. Sie sagte, sie werde sich sofort auf den Weg machen. Anschließend rief er in der 109 an und bat darum, einen Kriminaltechniker aufzutreiben, der nicht gerade mit Jacobi auf Harts Island war.
Maggie war immer noch bei Bewusstsein, als sie zum zweiten Notarztwagen getragen wurde. Er lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück, doch das Lächeln wurde zu einer Grimasse, als die Sanitäter sie in den Wagen schoben. Sie klappten die Türen zu, und er sah sie wegfahren.