26. KAPITEL
Wo ist sie?“
„Was zum Teufel hast du mit ihr gemacht?“
Reyes hockte in einem Sessel des Freizeitsalons, ein Glas mit Ambrosia versetzten Brandy in der Hand. Danikas Mutter und Schwester standen vor dem Fernseher, in dem selbst gedrehte Videofilme liefen, die Danika als spielendes Kind zeigten. Ihre Großmutter saß mit ausgestrecktem Gipsbein neben Reyes.
Er hatte Lucien vor drei Tagen beauftragt, die Videos zu holen, und den Fernsehsessel seitdem nicht verlassen. Die Filme waren seine einzige Verbindung zu Danika und vielleicht der einzige Schlüssel, um sie zu finden. Danika. Ich vermisse dich, meine Liebe. Es war ihm vollkommen egal, dass die Jäger vermutlich gerade einen neuen Angriff vorbereiteten. Es kümmerte ihn nicht, dass sich seine Freunde bereits auf den Kampf vorbereiteten.
Er hörte Schritte. Dann bekam er eine Ohrfeige. Er befühlte seine Wange, war aber zu betäubt und gefühllos, um den Schmerz auszukosten.
„Rede mit uns!“, befahl Danikas Schwester.
„Bitte“, flehte die Mutter. „Dränge deine böse Seite zurück und hilf uns!“
„Lasst ihn in Ruhe“, sagte die Großmutter und tätschelte seine Hand. „Ich habe etliche Dämonen in meinen Träumen gesehen, und dieser Mann hier ist kein Dämon. Er liebt unser kleines Mädchen und tut alles, was in seiner Macht steht, um sie zurückzuholen.“
Tat er das wirklich? Er fühlte sich, als könnte und müsste er mehr tun. Aber was, das wusste er nicht. „Wenn ich wüsste, wo sie ist, hätte ich sie längst in Sicherheit gebracht“, entgegnete er schließlich. „Aber ich habe sie im Stich gelassen. Dort. Fühlt ihr euch jetzt besser?“
Schweigen.
„Na gut, dann hol sie zurück!“, schrie Tinka, die Mutter.
„Ich weiß nicht, wie.“ Dieses Eingeständnis war schmerzvoll, entsetzlich schmerzvoll – und es war kein wohltuender Schmerz.
Fünf Tage waren seit Danikas Verschwinden vergangen. In diesen fünf Tagen hatte Aeron sein Bewusstsein wiedererlangt. Sein Bedürfnis zu töten war so komplett verschwunden, als hätte er es nie verspürt. Er hatte sich entschuldigt: „Vergib mir, bitte vergib mir, auch wenn ich bezweifle, dass ich selbst jemals wieder mit mir ins Reine komme. Ich liebe dich, ich hätte dir niemals vorsätzlich … Bei den Göttern, Reyes, es tut mir so leid …“ Und auch Reyes hatte um Verzeihung gebeten. „Ich liebe dich auch, mein Freund. Ich hätte mich besser um dich kümmern sollen. Wirst du mir jemals vergeben können?“
Sie hatten sich umarmt, und Legion, die niemals von Aerons Seite wich, hatte Beifall geklatscht. Doch das tiefe Gefühl des Verlustes, das Reyes empfand, war dadurch nicht abgemildert worden. Immer wieder hatte er die Götter angerufen, gebetet und angefleht – aber vergebens.
Er wusste schlicht nicht, was er jetzt noch tun konnte.
Tinka und Ginger, Danikas Schwester, begannen murrend vor ihm auf und ab zu gehen. Zwischen ihnen hindurch konnte er immer wieder Szenen aus dem Video sehen. Er glaubte sogar, die junge Danika lachen zu hören.
„Wer hat sie mitgenommen?“, fragte eine Stimme im Raum.
„Ich hab gehört, wie eines der Monster – äh, einer der Krieger – gesagt hat, die Götter würden dahinterstecken“, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. „Und wir alle haben gehört, wie Danika gesagt hat, sie würde um sich herum den Himmel sehen.“
„Wenn Danika den Himmel gesehen hat, dann ist sie im Himmel“, mischte sich die Großmutter ein. „Glaubt mir, ich kenne mich da aus.“
„Okay, wenn wir also annehmen, dass der Krieger recht hat und die Götter sie tatsächlich mitgenommen haben, warum sollten sie das getan haben?“
„Wahrscheinlich, weil sie ein Tor ist.“ Reyes weigerte sich, in der Vergangenheitsform von Danika zu sprechen, denn das würde bedeuten, dass sie … tot war. Verschwunden. Unerreichbar für ihn.
Die drei Frauen hielten inne und starrten ihn durchdringend an. „Wovon redest du? Was für ein Tor?“
Er kämpfte mit den Tränen, während er es ihnen erklärte. Schmerz war kurz davor, in seinem Kopf herumzuwimmern. Auf dem Bildschirm sah man Danika wieder lachen. Was tat sie da? Er beugte sich zur Seite, um besser sehen zu können. Sie blies Geburtstagskerzen aus. Er stellte sich vor, dass ihr gemeinsames Kind ebenso süß aussehen würde wie sie, und hätte fast gelächelt, wenn ihm nicht so elend zumute gewesen wäre.
„Meine Kleine war ein Tor zwischen …“
„Ist“, knurrten Reyes und sein Dämon gleichzeitig. „Sie ist ein Tor. Sie lebt doch noch.“
„Das ist einfach nicht möglich“, sagte Tinka. Dann hob sie ihre Hände. „Nein, sie lebt, das meine ich nicht, daran besteht kein Zweifel. Ich meine nur … es ist so schwer vorstellbar, dass sie eine Art Tor zwischen Himmel und Hölle war.“
„Du hast doch auch gesehen, wie dem Mann auf dem Rücken Flügel gewachsen sind, Tochter“, sagte die Großmutter mit unerschütterlicher Miene. „Glaub es einfach.“
„Aber wie kann mir das entgangen sein?“, flüsterte Tinka mit brüchiger Stimme. „Wie kann ich so etwas nicht bemerkt haben?“
„Ihre Träume“, gab Reyes zu bedenken. „Es steckte schon immer in ihren Träumen.“
„Ich war früher genauso wie sie“, sagte Mallory mit einem leisen Seufzer. „Als ich das erste Mal eines ihre Bilder sah, bin ich fast ohnmächtig geworden. Ich hatte Angst um sie, das gebe ich zu, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wenn ich meine eigenen Visionen nicht so unerbittlich bekämpft hätte, dann hätte ich vielleicht gemerkt, was da passierte, und hätte ihr helfen können, damit fertig zu werden.“
„Du hast ihr geholfen. Die Geschichten, die du ihr erzählt hast, gaben ihr Mut und Kraft, sich ihren Albträumen zu stellen und nicht vor ihnen wegzulaufen.“ Reyes rieb sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen. Meine Danika, süße Danika.
Mallory drückte seine Hand.
Tinka nahm ihre Wanderung durch den Raum wieder auf. Erneut konnte Reyes einen kurzen Blick auf den Bildschirm erhaschen. Er sah ein Flimmern, das zwei Filmsequenzen trennte, die zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen worden waren. In dem neuen Film war Danika so um die elf und malte. Sie war über und über mit Farbe bekleckst: ein lebender Regenbogen.
Er fühlte sich ihr jetzt noch näher. Er konnte und würde sie nicht aufgeben. Er hatte Anya angefleht, ein Wunder zu vollbringen, so wie das, das sie für Maddox und Ashlyn bewirkt hatte. Tatsächlich hatte sie auch sofort versucht, ihm zu helfen, war aber gescheitert. Er hatte sogar seine Freunde gebeten, ihn zu töten und seinen Qualen ein Ende zu bereiten, doch die hatten sich geweigert. Am Ende war er darüber erleichtert gewesen, denn er wusste, dass er zur Hölle gefahren wäre und seine Seele damit nur noch weiter von Danika entfernt hätte.
Denn sie war im Himmel, das stand fest – wie auch immer sie dorthin gelangt war, und in welcher Form auch immer sie dort lebte. Denn dass sie lebte stand für Reyes ebenfalls fest, alle anderen Möglichkeiten schloss er kategorisch aus. Und wenn er sich seinen Weg dorthin verdienen musste, dann würde er das tun. Denn dort würden sie wieder zusammen sein.
Ginger und Tinka, die ihr Gespräch und ihre Wanderung durch den Raum wieder aufgenommen hatten, schienen seine Anwesenheit vergessen zu haben.
„Der Mann scheint sie wirklich zu lieben.“
„‚Scheint‘ ist das entscheidende Wort. Mir ist es vollkommen egal, was Mallory sagt. Ich kann nicht vergessen, was er ist. Was sie alle hier sind.“
„Dämonen.“
„Ja. Dieselben Dämonen, die Danika immer gemalt hat.“
Immer noch malt, dachte Reyes im Stillen. Verdammt. Er wollte, dass sie gingen und ihm nicht länger die Sicht auf den Bildschirm versperrten.
„Aber er hat geweint, als sie verschwand.“
„Na, das war wohl eher ein Schluchzen.“
Will immer noch weinen. Schmerz rollte sich in einer Ecke von Reyes’ Geist zu einer Kugel zusammen und leckte seine emotionalen Wunden. Der Dämon hatte sich genauso wie Reyes in Danika verliebt und fühlte sich verloren ohne sie. Da sie die zwei Hälften eines Ganzen waren, war es nur folgerichtig, vermutete Reyes, dass sie dieselbe Frau liebten.
„Wenn irgendjemand sie zurückholen kann, dann er.“
Reyes hörte nur mit einem Ohr hin, denn er war immer noch in die flimmernden Bilder der kleinen Danika versunken. Selbst damals war sie schon ein Engel gewesen, voller Licht und Hoffnung für die Zukunft. Ich bin nichts ohne sie.
„Hörst du mir zu?“ Ginger stand vor ihm, die Arme in die Hüften gestemmt. Sie war größer als Danika und sogar dünner. Auch sie war hübsch, aber sie war nicht sein Engel.
„Nein“, erwiderte er. „Geh zur Seite.“
Tinka gesellte sich zu ihrer Tochter und hakte sich bei ihr unter. „Es muss doch noch irgendetwas geben, was du probieren kannst.“
„Hol sie zurück“, sagte Ginger, „dann werden wir sie nicht mehr drängen, dich zu verlassen.“
„Nicht dass es bis jetzt irgendetwas genützt hätte. Sie wollte dich einfach in ihrem … in ihrem …“, schluchzte Tinka, „… in ihrem Leben haben.“
Die zwei Frauen umarmten sich. Reyes verspürte Stiche in der Brust.
Doch Schmerz nahm gar keine Notiz davon. Will meinen Engel.
Ich auch.
Brauche sie.
Ginger und Tinka ließen einander los und zogen sich flüsternd in eine Ecke des Raumes zurück. Endlich konnte Reyes den Bildschirm wieder voll einsehen. Soeben winkte Danika, die gerade ihr Bild vollendet hatte, stolz mit der Hand in die Kamera.
„Sie meinen es gut“, sagte Mallory.
„Ich weiß.“
„Vielleicht kommen meine Visionen zurück, wenn ich mich nur stark genug konzentriere. Vielleicht entdecke ich in ihnen einen Weg aus dieser Misere.“
Vielleicht. Aber seine Hoffnungen wollte er nicht daransetzen. Reyes nahm die Konzeption von Danikas Bild zum ersten Mal bewusst wahr. Stirnrunzelnd griff er nach der Fernbedienung. Die Kamera schwenkte weg von dem Bild und zeigte eine Frau mit angestrengtem Blick – eine jüngere Ausgabe von Danikas Großmutter –, die die Farben und Linien des Bildes betrachtete.
Reyes drückte die Rückspultaste. Als das Bild wieder zu sehen war, schaltete er auf ‚Pause‘. Ginger kam wieder zurück und baute sich mit entschlossener Miene vor ihm auf.
„Geh zur Seite“, sagte er.
„Oh, entschuldige. Du …“
„Geh zur Seite!“
Schnaubend sprang sie aus dem Bild. „Ist ja gut, kein Grund, so zu brüllen!“
Aber Reyes hatte sich bereits wieder vollkommen in den Anblick des Bildes vertieft. Konnte es sein, dass …? War das etwa …? Ja, war es. War es tatsächlich. Mit einem Satz war er auf den Beinen, seine Benommenheit war einer prickelnden Erregung gewichen. „Mallory, schau dir das Bild an und sag mir, was du siehst.“
Sie gehorchte mit weit aufgerissenen Augen. „Oh mein Gott. Ist das … ist das …?“
„Ja, das glaube ich.“ Vielleicht hatte er gerade den Schlüssel zu Danikas Rettung gefunden.
Danika schwebte auf einem Meer aus Schwärze, umgeben von winterlichem Frost.
Hin und wieder spürte sie Finger über ihr Gesicht und ihren Hals streichen, und sie wusste, dass ihr nackter Körper in eine Art Gewand gehüllt sein musste, denn die kühle Seide verhinderte irgendwie, dass sie vollkommen ins Nichts abglitt. Zudem hörte sie in gewissen Abständen eine Stimme im Inneren ihres Kopfes.
Erzähl mir, was du siehst.
Sie wusste, was der Sprecher wollte: Er wollte erfahren, was die Dämonen in der Hölle und die Engel im Himmel taten und besprachen. Sie wusste auch, dass der Sprecher ohne Einladung nicht in ihren Geist eindringen konnte, denn er hatte schon etliche Male versucht, ihre Visionen anzuzapfen, war aber jedes Mal gescheitert.
Ganz bewusst rief sie sich Reyes’ Anblick vor ihr inneres Auge. Ihren Schattenkrieger. Ihre Liebe. Oh, wie sie ihn vermisste! Wie sie sich nach ihm sehnte! Er hatte sie so zärtlich gehalten, als sie verletzt war, hatte ihr mit seinem Körper Kraft gegeben, hatte sie mit seinen Augen angefleht, gesund zu werden. Sie wäre so gerne bei ihm geblieben, aber unsichtbare Hände hatten sie gepackt und fortgezerrt.
Sie hasste den Besitzer dieser Hände, und sie wusste, dass er es war, der jetzt rief: Schluss damit. Wehe, du zeigst mir diesen Dämon noch ein einziges Mal.
Ich werde dir nichts anderes zeigen. Bring mich zu ihm zurück.
Schweigen.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrich, während die geheimnisvollen Hände sie weiter berührten und die Gewänder sie weiter hielten. Die Zeit war hier endlos … nicht messbar. Jetzt konnte Danika nicht mehr leugnen, wer sie war und was sie war.
Ich möchte einfach nach Hause.
Der Sprecher näherte sich ihr erneut. Erzähl mir, was du siehst.
Alles in ihr erstarrte. Ganz kurz hatte das geklungen wie … Erzähl mir, was du siehst.
Reyes! Die Stimme gehörte Reyes. Ihr Herz begann zu rasen, ihr Blut pulsierte heiß durch die Adern. Meine Liebe, sagte sie.
Ich bin hier, süße Danika, ich bin hier. Zwei Finger strichen ihr über die Lippen.
Aber die Kälte verließ sie nicht. Nein, die Kälte blieb. Und sie hatte auch keinen Duft von Sandelholz in der Nase. Sie roch nur den süßen Duft von Wolken und Babypuder.
In diesem Moment wusste sie, dass es nicht Reyes war, der zu ihr gesprochen hatte. Im Nu erlosch ihre Euphorie und machte unbändiger Wut Platz. Reyes nennt mich nicht ‚süße Danika‘, du kranker Mistkerl!
Ein ärgerliches Grollen war zu hören. Ich werde Reyes eigenhändig umbringen, wenn du mir nicht sagst, was du siehst! Die Stimme klang jetzt wieder normal.
Innerlich schrie Danika, schrie, schrie und schrie. In ihrem Schrei lagen all ihre Qualen und Schmerzen, ihr Zorn und ihre Angst, und sie projizierte dieses vielschichtige Geräusch direkt in den Geist ihres Peinigers.
Stopp. Genug.
Wirst du ihm wehtun?
Nein.
Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben konnte oder nicht, aber sie beruhigte sich.
Wer bist du? Warum tust du mir das an?
Du kannst mir helfen, die Welt zu regieren. Zusammen könnten wir für Sicherheit und Wohlstand im Himmel garantieren. Kein Schaden soll uns hier oben entstehen.
Wer bist du?, beharrte sie.
Lass es mich dir zeigen. Kurz darauf flatterte das Bild eines großen, schlanken Mannes in ihren Geist. Er hatte ein freundliches, aber Respekt einflößendes Gesicht und dichte silberne Haare. Er trug eine weiße Toga und saß auf einem juwelenbesetzten Thron.
Sie erkannte ihn von dem Bild, das sie für Reyes gemalt hatte. Kronos.
Das Bild in ihrem Kopf veränderte sich. Jetzt sah sie eine Frau, die in einem Sessel neben dem Thron ruhte. Eine wunderhübsche Frau mit langem blonden Haar und großen grünen Augen. Wie Danika, aber doch nicht wie sie. Das Paar lächelte sich glücklich an, eine unbeschreibliche Harmonie ging von ihnen aus.
Du hast mir schon einmal geholfen. Du kannst mir wieder helfen. Mit deinen Visionen und meiner Macht können wir die Welt wieder zu dem machen, was sie einmal war: einem grandiosen, erhabenen, heiteren, wunderschönen Ort.
Nicht ich. Ich habe dir noch nie geholfen.
Das Bild verblasste. Nein, nicht genau du. Die Kraft des Allsehenden Auges vererbt sich auf deiner Blutlinie. Und früher einmal hat eine Vorfahrin von dir mich auf dem rechten Weg geleitet, mich über alles informiert. Hat mir geholfen zu regieren. Warum willst du das nicht auch tun? Wenn du zustimmst, kannst du dich überall im Himmel frei bewegen. Deine einzige Aufgabe wird sein, meine Verbündeten und meine Feinde zu beobachten und mir von ihren Aktivitäten zu berichten. In der restlichen Zeit kannst du tun und lassen, was du willst.
Ich will Reyes. Wieder rief sie sich den Anblick des Kriegers vor Augen. Wo war er? Was machte er? In ihrem Innern hörte sie sich selbst schluchzen. Tränen flossen, blieben jedoch nicht im Innern ihres Geistes, sondern liefen ihr über den ganzen Körper, wie kalter Regen, der ihre Haut langsam gefrieren ließ.
Du kannst ihn nicht haben. Er gehört in die Unterwelt, und du gehörst mir.
Nein!
Es bringt überhaupt nichts, mit mir zu streiten.
Dann nimm bitte dies zur Kenntnis: Ich gehöre Reyes, und er gehört mir. Solange ich von ihm getrennt bin, erhältst du keine einzige Antwort von mir.
Sie spürte, wie der Gott mit wütenden Schritten auf sie zukam.
„Kronos!“, rief Reyes vom Dach der Festung aus. „Kronos, zeigt Euch mir!“
Der Wind peitschte erbarmungslos, als würde er ihn zermalmen wollen. Früher hätte er sich darüber gefreut, hätte den Schmerz genossen. Doch Danika hatte ihn verwandelt. Zum Guten. Sie hatte ihm einen Lebenssinn gegeben.
„Kronos!“
„Ich bin hier, Schmerz.“
Überrascht drehte Reyes sich um. Der König der Götter stand auf der anderen Seite des Daches, sein weißes Gewand flatterte wild um seine Knöchel. Er wirkte genauso fröstelnd und zerbrechlich wie ein Mensch, und doch strahlte er eine ungeheure Macht und Kraft aus. Macht und Kraft, die der Gott niemals würde verbergen können.
„Wo ist sie?“
„In Sicherheit“, war alles, was der Gott sagte, wobei er seinen Kopf neigte.
Diese zwei Worte beruhigten Reyes mehr, als irgendetwas sonst ihn hätte beruhigen können. Sie war in Sicherheit. Was bedeutete, dass sie lebte. Und was ebenfalls bedeutete, dass sie zu ihm zurückkehren konnte. „Zeigt sie mir. Bitte. Ich flehe Euch an.“
Jeder Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt, während er auf eine Antwort wartete. Schließlich nickte Kronos, wedelte mit der Hand in der Luft, und ein verschwommenes Bild von Danika wurde allmählich schärfer. Sie lag genau so da, wie sie selbst sich vor ihrem Verschwinden gesehen und beschrieben hatte: auf einer marmornen Empore, getaucht in goldenes Licht, von Kopf bis Fuß in ein weißes Gewand gehüllt.
Sie war eine schlafende Schönheit.
„Ist sie … ist sie verletzt?“
„Nicht im Geringsten. Ich habe mich entschieden, sie zu behalten, und deshalb habe ich sie geheilt.“
„Danke.“
„Das habe ich nicht für dich getan.“
Egal. Er hatte es getan, und das reichte Reyes schon, um ihm auf ewig dankbar zu sein. „Ich möchte sie zurückhaben“, brachte er schließlich hervor. Dann streckte er einen Arm aus, um mit seiner Fingerspitze über Danikas weiche rote Lippen zu streichen.
Wieder wedelte Kronos mit der Hand, und die Vision verschwand.
Reyes spürte, wie sein Dämon aufheulte. „Bitte. Ich will sie haben“, wiederholte er.
„Und sie will dich.“ Kronos kniff seine Augen zusammen und ging auf Reyes zu. Nein, er ging nicht. Er schwebte. Seine Füße berührten zu keiner Zeit die mit Kies bestreuten Holzplanken. „Aber jetzt, wo ich sie habe, werde ich sie auch benutzen. Meine Entscheidung, sie umbringen zu lassen, war … überstürzt.“
„Warum braucht Ihr sie?“
„Meine Gründe gehen nur mich etwas an. Alles, was du zu wissen brauchst, ist, dass du sie nur unnötig ablenken würdest.“
„Das würde ich nicht. Ich schwör’s.“
„Du würdest es gar nicht verhindern können.“
„Ich liebe sie.“
„Ja, ich weiß, aber das tut für mich nichts zur Sache“, sagte der Gott schonungslos. Inzwischen standen sie so dicht voreinander, dass sich ihre Nasen hätten berühren können.
In einem einzigen Atemzug inhalierte Reyes den Duft nach Sonne, Mond und Sternen. Er hasste diesen Geruch.
„Die ganze Schar der Dämonen ist hinter ihr her und eure menschlichen Feinde ebenfalls. Selbst deine Freunde versuchen, sie für ihre eigenen Ziele zu benutzen. Du kannst nicht an jeder Front gleichzeitig sein, um sie zu beschützen.“
„Doch, das kann ich. Ich würde mein Leben für sie geben. Ich liebe sie. Ich werde nicht zulassen, dass ihr irgendetwas geschieht.“
Kronos hob eine Augenbraue: „Das hast du ja schon einmal sehr schön unter Beweis gestellt: als du zusahst, wie Zorn sie erdolchte.“
Reyes wurde rot vor Scham und Schuldgefühlen. „Jedes Mal wenn ich an die Schmerzen denke, die sie erlitten hat, bringt es mich fast um. Ich werde nicht zulassen, dass so etwas noch einmal geschieht.“ Er ballte die Fäuste und stemmte sie in die Hüften. „Ich hab heute etwas gesehen, auf einem von Danikas frühen Bildern. Ihr … Ihr wart darauf abgebildet.“
Der Gott legte seinen Kopf schief und setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Ich höre.“
„Auf dem Bild hielt einer Eurer Feinde Euren Kopf in Händen.“
Mit jedem Wort, das Reyes sagte, wurde das Gesicht des Gottes dunkler vor Zorn. „Wie kannst du dich erdreisten, eine solche Gotteslästerung zu betreiben! Niemand ist stark genug, um so etwas zu tun. Ich sollte dich für die bloße Erwähnung dieser absurden Szene niederstrecken.“
Reyes wusste, dass er sich auf gefährlichem Grund bewegte, fuhr aber trotzdem fort: „Es ist wahr. Bei all dem, was auf dem Spiel steht, würde ich niemals lügen.“
„Wo ist das Bild? Du wirst es mir zeigen. Sofort!“ Die ganze Festung bebte, Steine rieben aneinander, einige zerbröckelten sogar.
Reyes schüttelte den Kopf. „Nur im Austausch gegen Danika.“
„Das Bild. Sofort!“
„Erst wenn Ihr in meinen Handel einwilligt.“
Kronos holte tief Luft, hielt sie an und atmete schließlich langsam wieder aus. Der Atem war heiß wie ein Schürhaken. Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern. „Sie gehört mir, und im Gegensatz zu dir treibe ich mit meinem Eigentum keine Tausch-und Handelsgeschäfte.“
Sein Eigentum? Wohl kaum. „Dann könnt Ihr Euch schon mal von Eurem Kopf verabschieden. Ich bezweifle nämlich, dass Euer Allsehendes Auge sich jemals irrt.“
Reyes rechnete durchaus damit, dass der Gott ihn für seine Unverschämtheit schlagen würde, doch der schwieg. Erst nach einer ganzen Weile sagte er: „Wenn du beweisen kannst, dass du stark genug bist, um sie zu beschützen, rufe mich erneut. Dann werden wir reden.“ Und mit diesen Worten war der Gott verschwunden.
„Du warst mal eine Göttin. Sag mir, wie ich Kronos beweisen kann, dass ich in der Lage bin, Danika zu beschützen.“
Anya hatte gerade ihren Kleiderschrank durchsucht, während William auf ihrem Bett saß und sie um das wertvolle Prophezeiungsbuch anbettelte, das sie ihm gestohlen hatte, als Reyes in den Raum geplatzt war. Ohne anzuklopfen, hätte sie sicherlich noch erwähnt. Bastard. Immerhin, sie war froh, dass sie mehr als ein Lächeln und eine rosafarbene Federboa trug. Tatsächlich war der einzige Grund, aus dem sie bekleidet war, der, dass Lucien draußen am Berghang war und die Fallen überprüfte. Und natürlich, dass William bei ihr war – der war zu sehr wie ein Bruder für sie, als dass sie ihn mit ihrer Lieblingsboa beeindrucken musste.
„Das Wichtigste zuerst, Freundchen. Ich bin eine Göttin“, sagte Anya zu Reyes. Und zu William gewandt fügte sie hinzu: „Diese Bettlerattitüde steht dir nicht.“ Daraufhin fuhr sie fort, sich durch ihren Kleiderschrank zu wühlen.
„Du hast mir das Buch versprochen“, sagte der Krieger.
„Ja, aber ich hab nicht gesagt, wann.“
„Ich bleibe einfach so lange hier, bis ich es kriege.“
„Ein Grund mehr für mich, es zu behalten. Es ist lustig, dich hierzuhaben.“
William ließ den Kopf in seine Hände sinken.
„Ich wollte nicht stören“, sagte Reyes, „aber …“
„Immer hübsch der Reihe nach, ich war noch nicht fertig: William, was hältst du von diesem Kleid?“ Sie hielt etwas hoch, das nicht viel mehr war als ein perlenbesetzter Faden.
„Ich liebe es“, sagte der Krieger mit einem breiten Grinsen. „Anya, bitte“, drängte Reyes.
„Fein. Ich hoffe nur, dass du gewappnet bist für meine Verärgerung.“ Sie drehte sich um, ging mit hoch erhobenem Zeigefinger auf ihn zu und sagte: „Jetzt hör mir mal zu, mein süßes Pfläumchen! Ich hab den Todesschwur gebrochen, der dich an Maddox band, und was machst du? Du machst mich ein paar Wochen später bei Lucien schlecht. Das war sehr unartig von dir.“
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern.
Doch sie hielt einen zweiten Finger in die Höhe, zog eine Augenbraue hoch und machte ihm so wortlos klar, was passieren würde, wenn er auch nur einen Ton von sich gab. Also presste er die Lippen aufeinander.
William lachte, sein eigener Kummer war verflogen. „Du steckst in Schwierigkeiten“, trällerte er.
„Dann“, fuhr sie fort und nickte zufrieden, „hast du Lucien tagelang warten lassen, bevor du ihm von Aeron erzählt hast. Und außerdem habe ich dir mit Danika bereits zu helfen versucht. Allerdings hast du nicht einmal Danke gesagt. Nächster Punkt: Ich kenne die Titanen nicht sonderlich gut. Sie waren bereits in Gefangenschaft, als ich geboren wurde. Und last but not least: Du müffelst. Hast du schon mal was von Duschen gehört, Herzchen-Schmerzchen?“
„Ich entschuldige mich für jedes Mal, das ich dir unrecht getan habe, Anya“, beeilte sich Reyes zu sagen. „Du musst mir nur sagen, was ich tun soll, um für meine Sünden zu büßen, und ich werde es tun. Aber bitte hilf mir zuerst. Kronos will mir Danika erst zurückgeben, wenn ich ihm beweisen kann, dass ich sie zu beschützen vermag.“
Götter im Himmel, bin ich ein Liebestrottel. Anya musterte Reyes eingehend. Er hatte abgenommen, vielleicht weil er nichts mehr aß, sondern nur noch mit Ambrosia vermischte Alkoholika in sich hineinkippte, und er hatte offenbar vor Urzeiten aufgehört, zu duschen und seine Wäsche zu wechseln. Darüber hinaus war er blass, und seine ungewaschenen Haare standen wüst zu Berge – vermutlich vom vielen Zerraufen.
Ehrlich gesagt sah er ziemlich kaputt aus.
Aber am meisten fiel ihr auf, dass er – zum ersten Mal überhaupt – nicht mit Schnittwunden übersät war. „Hey, warum ritzt du dich nicht mehr?“
Er schaute an seinen Armen hinunter und hielt sie ins Licht, um sie besser begutachten zu können, so als hätte er selbst gar nicht bemerkt, dass er sich keine Verletzungen mehr zufügte. „Ich leide jeden einzelnen Tag, Minute für Minute. Ich brauche mir nicht mehr wehzutun.“
„Aber was, wenn sie zurückkommt, dein Leiden ein Ende hat und du dich wieder ritzen musst? Würdest du sie immer noch wollen?“
„Ich würde mich freiwillig in Stücke schneiden, wenn ich sie nur wiederhaben könnte.“
„Interessant.“ Sie lehnte sich mit der Hüfte gegen den Waschtisch und schnitt sich auf der marmornen Tischplatte die Fingernägel. Klick, klick, klick. „Offensichtlich hast du mit König Arschgesicht gesprochen. Was genau hat er zu dir gesagt?“
William lehnte sich vor, um besser mithören zu können.
Reyes gab das Gespräch wortgetreu wieder, unbeeindruckt von seinen andächtigen, entzückten Zuhörern.
„Und wie hat er die Nachricht von Danikas Bildern aufgenommen?“
„Mit Wut. Und Angst. Glaube ich. Was, wenn er sie mir nie mehr zurückgibt?“ Plötzlich gaben seine Knie nach, und er sackte zu Boden. Dort blieb er abwartend sitzen. „Verdammt, ich glaube, ich war noch nie so klapprig.“
„Na, in dieser Verfassung wirst du Kronos nichts als Schwäche unter Beweis stellen.“ Anya hob ihre Hand und klopfte sich mit den Fingernägeln gegen das Kinn. „Er hat gesagt, dass Horden von Dämonen hinter Danika her sind. Vielleicht solltest du sie bekämpfen, sie töten.“
„Sie zu bekämpfen würde Jahrhunderte dauern“, gab William zu bedenken.
„Ja, aber Reyes hat doch massenhaft Zeit, er hat eigentlich nichts anderes als Zeit. Herrje“, sie rollte mit den Augen, „jetzt fahr mir doch nicht andauernd in die Parade. Warum machst du das nicht? Wenn du diesen Weg nicht gehen willst …“, fügte sie zu Reyes gewandt hinzu.
„Will ich nicht.“
„Na schön, egal. Dann lasst mich mal schauen. Es muss doch auch noch eine andere Möglichkeit geben. Denk nach, Anya, denk nach. Und du auch, William. Streng ruhig mal deinen dicken Kopf ein bisschen an.“
Schweigen. Stundenlanges Schweigen.
„Du könntest dich ein bisschen mit Kronos prügeln“, schlug William schließlich vor. „Mich zumindest würde das von deiner Stärke überzeugen.“
Anya klatschte vergnügt in die Hände. „Das ist es! Kämpfe mit Kronos und besiege ihn, damit beendest du nicht nur euer kleines Spielchen im Handumdrehen, sondern befreist die Welt auch noch von seiner Garstigkeit.“
Reyes riss die Augen auf. „Du machst Witze. Wie soll ich denn Kronos besiegen?“
Diese Worte dämpften ihre Begeisterung. „Du hast recht. Wahrscheinlich ist das unmöglich. Leider ist er das mächtigste lebende Wesen, während du, na ja … das nicht bist.“
„Aber ich bin ein verliebter Mann.“ In Reyes’ Augen lag jetzt ein wildes, fast irres Leuchten, ein Flackern, das ihr Angst machte. Wenn Reyes sich mit dem König der Götter anlegte, würde Lucien ausflippen. Und sie mochte es nicht, wenn Lucien ausflippte.
„Äh, Reyes, Baby, jetzt lass uns noch mal nach einer vernünftigen Lösung suchen. Irgendetwas …“
Falls Reyes ihr zuhörte, so war ihm das zumindest nicht anzumerken. Er war schwerfällig aufgestanden und humpelte aus dem Zimmer. Anya wünschte, sie hätte ihren vorlauten Mund gehalten.
Nachdem er so viel Essen in sich hineingestopft hatte, wie sein Magen gerade noch aufnehmen konnte, hatte sich Reyes von Lucien zu dem Lagerhaus beamen lassen, in dem Danika ihre Bilder aufbewahrte. Ihre Mutter, Schwester und Großmutter hatten ihn begleitet, was ihn sehr aufmunterte und tröstete.
Je länger er die Leinwandstapel durchsah, desto größer wurde seine Entschlossenheit, sich Danika zurückzuholen. Obwohl Kronos ihm nicht wieder erschienen war, spürte Reyes die stechenden Augen des Gottes auf sich ruhen, merkte, wie sie ihn beobachteten, in der Hoffnung, einen Blick auf das erwähnte mysteriöse Bild zu erhaschen.
Aber diesen Blick gewährte Reyes ihm nicht. Noch nicht. Obwohl es ihm schwerfiel, hatte er sich Danikas Kindheitsvideos seit jener Nacht auf dem Dach nicht mehr angeschaut. Er wusste, dass es sicherer war, darauf zu verzichten.
„Es dauert nicht mehr lange, mein Engel, dann sind wir wieder zusammen. Ich verspreche es dir.“ Er hatte dieses Versprechen schon mindestens hundertmal abgegeben. Für sie. Und für sich. So oft hatte er die Worte vor sich hin gemurmelt, dass Danikas Familie sich nicht mehr weiter darüber wunderte.
Ginger klopfte sich den Staub von den Händen. „Ich kann gar nicht glauben, mit was für Albträumen meine kleine Schwester da zu tun hatte.“
Tinka legte ihr einen Arm um die Taille. Sie sahen wunderschön aus, wie sie da beieinanderstanden, mit ihren glänzenden sandfarbenen Haaren und den rosigen Wangen. Danika müsste hier bei ihnen sein.
Schmerz grunzte seine Zustimmung.
„Sie ist stärker, als ich jemals gedacht hätte“, fuhr Ginger fort und warf einen Blick auf die Bilderstapel. „Und auch eine bessere Malerin, als ich vermutet hätte. Ich meine, ich wusste, dass sie gut ist, aber trotzdem hatte ich keine Ahnung.“
Tränen quollen aus Tinkas grünen Augen – Augen, die denen von Danika so ähnlich waren, dass Reyes schier zu platzen meinte, wenn er sie ansah. „Ich kann nicht glauben, dass ich meine Tochter dazu gebracht habe, sich so zu schämen, dass sie ihre Bilder hier versteckt hat. Dabei müssten sie eigentlich in einer Galerie hängen. Sie sind auf sehr eindringliche Weise schön, oder?“
Wie Danika selbst. „Ja, das sind sie.“
Mallory zog eine Plastiktüte aus ihrer Tasche, öffnete sie und bot ihm ein halbes Sandwich mit Erdnussbutter an. „Bevor wir aufgebrochen sind, hat uns deine Freundin Anya gesagt, dass wir dir helfen sollen, bei Kräften zu bleiben.“
Er nahm das Sandwich dankbar entgegen und verschlang es in zwei Bissen, gerührt von der Fürsorge seiner Freundin. Danikas Familie – und Anya selbst – schienen ihm das, was er ihnen angetan hatte, offenbar verziehen zu haben. „Wenn Danika wieder bei uns ist, wird sie nur noch zur Freude malen. Das verspreche ich euch.“
„Ich würde dich so gerne hassen“, sagte Ginger seufzend.
Seine Lippen kräuselten sich. Ihre scharfe Zunge amüsierte ihn und erinnerte ihn an Danika.
Würde ihn eigentlich alles an Danika erinnern?, fragte er sich. Er hatte nichts gegen diese Erinnerungen, er mochte sie, aber viel mehr davon würde er nicht verkraften, ohne zusammenzubrechen und sich seinem Schmerz über Danikas Verlust hilflos auszuliefern.
„Wonach genau suchen wir?“, fragte Tinka, die plötzlich neben ihm stand.
„Frag Mallory“, war alles, was er sagte, weil er seine Suche nicht für lange Erklärungen unterbrechen wollte. Er würde nicht aufgeben. Wenn nötig, würde er bis zu seinem letzten Atemzug nach Danika suchen.
„Schaut nach allen Bildern, auf denen Kronos, der König der Titanen, vorkommt, und legt sie raus, damit Reyes sie genauer analysieren kann. Und bevor ihr weiter fragt: Kronos ist groß, hat dichtes silbernes Haar und einen Bart und trägt eine weiße Toga.“
Eines der Porträts stach Reyes besonders ins Auge. Es war eine farbige Darstellung von Engeln und Dämonen, Leben und Tod, Blut und Lächeln. Wie Ginger war auch Reyes überrascht darüber, was Danika in ihren jungen Jahren schon alles gesehen hatte. Überrascht auch darüber, dass sie trotz dieser Bürde so gut gediehen war und sich zu so einer entschlossenen, aber doch weichen und zarten Frau entwickelt hatte.
Er blätterte weiter und stieß kurz darauf gleich auf vier Bilder von Kronos. Sein Puls fing an zu rasen. Auf einem dieser Bilder schritt der Gott in einer Gefängniszelle auf und ab, die mit Rauch gefüllt war und an deren Wänden Flammen hochleckten. Auf einem anderen kämpfte er sich seinen Weg frei, tötete präzise und effizient, mit einer Sense von gewaltiger Überlänge, um möglichst viele Feinde gleichzeitig zu erwischen.
Warum hatte Kronos seine Sense nicht dabeigehabt, als er Reyes besuchte? Hatte er Angst, er könne sie benutzen und es im Nachhinein bereuen? Wenn das der Fall war – was Reyes allerdings ernsthaft bezweifelte –, dann hieße das, dass Kronos ihn lebend wollte. Vielleicht hatte der Götterkönig seine Sense aber auch gegen irgendetwas eingetauscht oder gehandelt? Gegen Danikas Leben? Anya hatte irgendwann einmal erwähnt, dass selbst die Götter an die Gesetze des Gebens und Nehmens und des Säens und Erntens gebunden waren.
Reyes runzelte die Stirn und schob diese Gedanken beiseite. Fürs Erste. Sie waren nicht so wichtig wie die Suche nach Danika. Er ging zu einem anderen Bilderstapel. Auf dem ersten Bild war Kronos zu sehen, wie er eine Gruppe zitternder Götter in die Ecke trieb und sie langsam in die Zelle drängte, der er selbst gerade entkommen war. Es waren die Götter, die Reyes früher beschützt hatte. Als er sie jetzt plötzlich sah, fühlte er mit leichtem Schmerz so etwas wie vergessene Loyalität. Auf Kronos’ Gesicht lag kalte Entschlossenheit. Es war offensichtlich, dass er sie liebend gern getötet hätte, dass es ihm aber noch wichtiger war, sie mindestens ebenso leiden zu sehen, wie er selbst zuvor gelitten hatte.
Noch viele weitere Stunden arbeitete sich Reyes durch den Bilderfundus hindurch. Die Frauen brachten ihm Wasser und Snacks und verhielten sich ansonsten ruhig, so als wüssten sie, dass er seine volle Konzentration brauchte. Und dann, endlich, hatte er jedes einzelne Bild begutachtet.
Doch das, was er suchte, hatte er nicht gefunden. Hatte Danika es vernichtet? Anderswo versteckt? Na, immerhin hatte er ein paar wertvolle Hinweise erhalten und versuchte jetzt, diese zu deuten und für sich auszuwerten.
Erstens: Kronos hasste es, eingesperrt zu sein. Er würde alles tun, um das zu vermeiden.
Zweitens: Er rächte sich lieber, anstatt sich abzusichern. Andernfalls hätte er die griechischen Götter umgebracht, damit sie ihm den Himmelsthron nicht mehr streitig machen konnten. Doch er hatte sie eingesperrt und dafür Anyas größten Schatz benutzt, um sie sicher hinter Schloss und Riegel zu halten.
Drittens: Seine Sense konnte sich, genau so wie Reyes’ Fingernägel, verlängern.
Und zu alledem hatte Reyes im oberen Teil des ersten Bildes gesehen … sein Kiefer klappte herunter, als der Groschen endlich fiel. Er sprang auf und bekam vor lauter Aufregung kaum Luft. Das erste Mal seit Tagen lächelte er.
„Was ist?“, fragten die Frauen wie aus einem Mund.
„Ich weiß, was ich tun muss.“ Er war so nahe dran. Er musste nur noch einen Weg in den Himmel finden.