9. KAPITEL

Während seiner Zeit als göttlicher Krieger hatte Reyes himmlische Geschöpfe bekämpft, von denen jetzt nur noch in Sagen und Märchen die Rede war: Zerberus, den dreiköpfigen Hund, der die Pforte der Hölle bewachte; Chimären, menschlich-tierische Hybridwesen; Harpyien, Kreaturen, die halb Frau, halb wahnsinniger Vogel waren. Er hatte diese Kämpfe nur schwer angeschlagen überstanden, heftig blutend und halb tot – und damals waren Schmerzen noch keine Wonne für ihn gewesen.

In seinen ersten Jahren im alten Griechenland hatte sich der Dämon in seinem Innern noch wie verrückt gebärdet, hatte alle Register gezogen und ihn dazu gebracht, zu schlachten und zu verstümmeln. Als die Menschen dann zurückschlugen, herrschte überall nur noch Krieg und Zerstörung. Reyes verlor haufenweise Gliedmaßen, die zwar schnell nachwuchsen, aber sofort wieder abgehackt wurden. Mehrmals wäre er fast geköpft worden. Und trotzdem hatte er niemals solche Angst gehabt wie jetzt in diesem Augenblick.

Danika würde Aeron gleich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – einem Mann, dessen Dämon ihn mit unerbittlicher Energie drängte, sie zu töten. Einem Mann, der zuvor in der Höhle ganz offensichtlich versucht hatte, sich die eigenen Handgelenke abzubeißen, um sich von seinen Ketten zu befreien. Zum Glück hatte er erst die oberste Muskelschicht durchtrennt, als Reyes und Lucien vorhin kamen, um ihn in die Burg zu beamen.

Aber was, wenn es Aeron gelang, sich zu befreien, während Danika vor ihm stand? Was, wenn er übermäßige Kräfte aufbrachte, sein Handgelenk im Bruchteil einer Sekunde abbiss und sich mit gebleckten Zähnen auf sie stürzte … Stopp!

Reyes hätte sich Danika am liebsten geschnappt und sie aus der Burg gebracht, in Sicherheit. Aber sie wollte Gewissheit, also würde er ihr Gewissheit verschaffen.

So einfach war das. Ihre Wünsche hatten Vorrang.

Er stieg, gefolgt von Danika und Lucien, die Treppen bis zum untersten Stockwerk des Kerkers hinab. Die Stockwerke veränderten sich von gemütlich über gepflegt bis hin zu vollkommen vernachlässigt. Die Steinwände waren bröckelig, einzelne Felsklümpchen bedeckten den Boden und bohrten sich in das Profil seiner Stiefel. Irgendwann hätte Reyes nicht mehr sagen können, ob er über Holzbohlen oder über Marmor lief, so hoch lagen Staub und Steine. Seine Schuldgefühle kehrten zurück. Wie kann ich meinem Freund nur so etwas zumuten?

Dass Aeron, der wahre Aeron, die Frauen eigentlich nicht töten wollte, hatte Reyes am Ende gar nicht mehr berücksichtigt. Auch nicht, dass Aeron selbst sich aus Verzweiflung den Tod herbeisehnte. Schande! Nein, Aeron verdiente es einfach nicht, so zu leiden, er verdiente es nicht, wie ein Haufen Abfall in dieser dunklen Ecke der Burg zu verrotten. An einem Ort, den Anya als noch übler bezeichnet hatte als Tartaros, das göttliche Gefängnis der Unterwelt.

Was waren das für miese, durchtriebene Götter, die Aeron zum Mörder und ihn, Reyes, zum Kerkermeister gemacht hatten!

Zum Glück trieb sich hier gerade keiner der anderen Krieger herum. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen und sich für die anstehende Reise nach Rom zu bevorraten. Eine Reise, von der Reyes noch nicht wusste, ob er daran teilnehmen würde. Natürlich wollte er die Büchse der Pandora finden und die Jäger ein für alle Mal unschädlich machen, aber er wollte Danika nicht um den halben Globus mitschleppen.

Vielleicht würde sie dann wieder abhauen. Vielleicht würde er sie nicht wiederfinden. Vielleicht würden die Jäger auch auf die Idee kommen, dass sie Danika lieber tot als lebendig sähen, und sich ihr an die Fersen heften.

Je mehr Reyes darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihm, dass sein Leben von Danika abhing. Er verstand das nicht, und es gefiel ihm auch nicht, aber es war so. Es verblüffte ihn einfach immer wieder, wie sehr er und sein Dämon in Danikas Nähe zur Ruhe kamen.

Danika hustete.

Er bog um eine Ecke und warf einen Blick zurück über die Schulter. Danika wedelte sich mit der Hand vor dem Gesicht herum. Eine Staubwolke schwebte wie ein Heiligenschein um ihren Kopf. Aus einigen Haarsträhnen hatte sich die dunkle Farbe herausgewaschen, zum Vorschein kam ein betörendes Blond. Das erste Mal, als er sie gesehen hatte, war ihm ihr Haar so strahlend und leuchtend wie die Sonne vorgekommen. „Möchtest du zurück in mein Zimmer?“, fragte er. „Ich will nicht, dass du krank wirst.“

Sie warf ihm einen gespielt finsteren Blick zu, ihre Art des trockenen Humors. „Ich hab nur gehustet, ich wird’s überleben. Geh weiter!“

Das gereizte Grummeln einer Männerstimme hallte von den Wänden wider. „Ich will nicht länger ‚Blutige Handgelenke‘ spielen. Ich hab dir gesagt, dass du aufhören sollst.“

Zumindest schrie und brüllte Aeron nicht.

Reyes bog um eine weitere Ecke, hinter der vergitterte Verliese zum Vorschein kamen. Er hielt abrupt an und streckte seinen Arm aus, damit auch Danika stehen blieb. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er ihre Brüste, die weich und schwer gegen seinen Unterarm prallten, und ihr Haar, das seine Haut streifte. Ihr Duft nach Gewitter und Unschuld stieg ihm in die Nase. Und obwohl sie sofort zurückwich, stand sein Körper im Nu in Flammen.

„Bleib hier stehen.“ Es war ihm peinlich, dass seine Stimme so rau und kratzig klang. Dabei war es ihm egal, ob die anderen – und sogar Danika – merkten, dass er sie begehrte. Das konnte er ohnehin nicht verbergen. Aber die Intensität seiner Lust, die wollte er nicht preisgeben, denn dieses Wissen konnte gegen ihn verwendet werden.

„Warum darf ich nicht weiter gehen?“, fragte sie.

Er freute sich, dass auch ihre Stimme zitterte.

„Ich möchte zuerst allein zu ihm und schauen, ob sich seine Stimmung etwas gebessert hat.“ Und überprüfen, ob seine Handgelenke inzwischen verheilt sind, sodass er sie nicht mehr so leicht durchbeißen kann, fügte er im Geiste hinzu. „Wenn er relativ ruhig ist, kannst du dich den Gitterstäben nähern. Aber das Verlies wirst du auf keinen Fall betreten, hörst du?“

„Ja.“

„Du kannst ihm Fragen stellen, aber beleidige ihn nicht. Und errege vor allem nicht seinen … Zorn.“

„Okay, kapiert. Halte Abstand und sei höflich. Nun geh schon.“

Aber er blieb stehen. „Hab keine Angst bei seinem Anblick. Ich passe auf, dass dir nichts passiert.“

„Yeah. Und morgen zähle ich bis unendlich. Zweimal. Wenn du dich jetzt nicht schleunigst bewegst, dann vergesse ich mich.“

Reyes blickte zu Lucien, der ihn mit unerbittlicher Miene ansah. „Bleib bitte hier bei ihr.“

Bei diesen Worten stöhnte Danika entnervt auf. Nicht deswegen, glaubte er, weil sie ihm seine Fürsorge verübelte oder diese übertrieben fand, sondern weil sie bis zum Zerreißen gespannt war: Sie brauchte Antworten.

Lucien nickte.

Reyes drehte sich auf dem Absatz um und ging. Mehr als sein nächster Atemzug lag ihm Danika am Herzen, lag ihm daran, sie zu beruhigen und zu trösten, für sie zu sorgen und sie zu stützen. Und er wusste: Wenn er sich noch ein einziges Mal zu ihr umdrehte, würde er sich nicht mehr davon abbringen können, all dies für sie zu tun. Er würde sich keinen Schritt mehr von ihr entfernen.

Mit der einen Hand umschloss er sein Messer, mit der anderen steckte er den Schlüssel ins Schloss. Die Gittertür quietschte in den Angeln, als er sie öffnete und hinter sich wieder schloss. In Schatten getaucht, kauerte Aeron an der hinteren Wand. Als er Reyes erblickte, hörte er augenblicklich mit seinem Gemurmel auf.

Reyes musterte seinen Freund in der Hoffnung, Spuren des Kriegers, der er einmal gewesen war, in ihm zu erkennen, und bemüht, Hinweise auf das Monster, zu dem er geworden war, zu übersehen. Leider waren Aerons Augen immer noch riesengroß und hungrig und seine Zähne unverändert scharf und gebleckt. Also immer noch ein Monster. Und trotzdem ein Mann, den Reyes liebte. Die Tattoos, die Aeron vom Scheitel bis zur Fußsohle bedeckten, waren etwas wohltuend Vertrautes.

Reyes wusste nicht, warum Aeron seinen Körper mit farbigen Abbildungen von Dingen überzogen hatte, vor denen ihm im Grunde seines Herzens sicherlich grauste: Bilder vom Morden, Verstümmeln, Zerstören. Reyes hatte nie danach gefragt, und Aeron hatte nie freiwillig darüber gesprochen. Manche Sachen waren einfach zu schmerzhaft, um sie auszusprechen. Das kannte Reyes von sich selbst.

„Hau ab“, schnauzte Aeron.

Aerons Aussprache war klar und deutlich, nicht genuschelt, wie wenn die Stimme des Dämons mitsprach. Reyes blinzelte überrascht. War der Blutrausch des Kriegers bereits am Abklingen?

„Du bist bei Verstand, wie ich sehe.“ Ein Blick auf die gefesselten Handgelenke seines Freundes zeigte Reyes, dass sie fast vollständig verheilt waren. „Vorhin, als Lucien und ich in der Höhle aufgetaucht sind, warst du ganz außer dir. Tut mir leid, wenn wir dich beim Transfer hier in die Burg verletzt haben.“

„Binde mich los. Ich hab einen Auftrag zu erledigen.“

„Vor zwei Wochen warst du froh, angekettet zu werden. Du hast deinen Auftrag verflucht und mich angefleht, dich umzubringen.“

„Zum Glück denke ich jetzt anders darüber.“ Aeron verlagerte sein Gewicht und zog die Beine noch enger an seine Brust. „Die Frauen müssen sterben.“

Nein, sein Blutdurst war längst nicht gestillt. „Also leben sie immer noch? Alle vier?“ Reyes konnte Danikas glühende Anspannung über die räumliche Distanz hinweg spüren.

Schuldgefühle blitzten in Aerons Augen auf. Schuldgefühle – das war großartig und schrecklich zugleich. Großartig, weil es bedeutete, dass der alte Aeron noch nicht ganz tot war, dass er noch kämpfte. Schrecklich, weil es vermutlich hieß, dass eine oder mehrere der Frauen bereits tot waren.

Reyes spürte, wie sich seine Haut über den Knochen spannte, und stieß einen Seufzer der Enttäuschung aus. Er hatte so verzweifelt auf gute Nachrichten gehofft. Jetzt konnte er nur hoffen, dass überhaupt noch jemand aus Danikas Familie lebte. „Aeron, erzähl mir von den Frauen.“

Stille.

„Bitte.“ Er war sogar bereit, Aeron auf Knien um eine Antwort anzuflehen.

Erneute Stille.

Nein, es war nicht komplett still, wie Reyes einen Moment später feststellte. Im Hintergrund hörte er ein gedämpftes, drohendes Knurren.

„Antworte ihm!“, brüllte Danika.

Aeron erstarrte, er hörte sogar auf zu atmen. Seine Augen wurden glasig und glühten rot vor Rage. Die Schuldgefühle waren wie weggeblasen. Dann sprang er ohne jede Vorwarnung nach vorn. Seine Flügel schossen aus den Schlitzen in seinem Rücken hervor, ein schwarzes Gespinst, das die letzten Fetzen seines Hemdes zerriss und sich im ganzen Verlies ausbreitete. Ihre rasiermesserscharfen Ränder kratzten an den Wänden entlang.

Reyes wich nicht von der Stelle. Aeron wollte kämpfen, also würde er ihm die Stirn bieten. Besser es traf ihn als Danika.

Die Kette um Aerons Hals ruckte und spannte sich, bis der Krieger nur noch ein paar Zentimeter von Reyes’ Gesicht entfernt war. Er stand jetzt so nahe, dass Reyes von einer schwefeligen Brise eingehüllt wurde. Aeron war der Hölle so nahe gewesen, dass er ihren Geruch noch tagelang ausdünsten würde. Fast wünschte Reyes sich, sein Dämon hätte sich nicht erinnert, wie man dorthin kam, und ihm stattdessen erlaubt, Aeron am erstbesten Ort unter die Erde zu bringen.

„Mädchen“, rief Aeron. Er hatte seine Hände um Reyes’ Hals geschlungen und begann zuzudrücken. „Her mit dir.“

„Sie gehört mir“, quetschte Reyes zwischen den Lippen hervor. „Erzähl mir von ihrer Familie.“

„Sterben!“

„Los, erzähl schon.“

Er vernahm Danikas Keuchen und meinte, einen kurzen Warnruf von Lucien zu hören.

„Sag’s mir.“ Die Bitte war kaum noch zu hören. Reyes ließ sein Messer fallen, weil er es nicht gegen seinen Freund einsetzen wollte, um sich selbst zu retten, und packte Aerons Handgelenke. Wenn es denn unbedingt nötig war, würde er eben mit seinen Händen versuchen, eine Antwort aus seinem Freund herauszubekommen.

Aber schon nach wenigen Augenblicken empfand Reyes den immer enger werdenden Schraubstockgriff um seinen Hals als überaus angenehm. Der Schmerz wurde immer berauschender. Sein Dämon schnurrte genüsslich.

Mehr.

„Sie wird sterben“, fauchte Aeron. „Sie ist … unschuldig.“

„Egal.“

„Früher war dir das nicht egal.“ Doch bevor Reyes noch irgendetwas hinzufügen konnte, tauchten seine Gedanken in Nebel, und ein Schwindel erfasste ihn mit der Wucht einer Ozeanwelle.

Du musst Danika beschützen. Als er sich schließlich aus Aerons Würgegriff befreite, schienen sich tausend Nadeln in seinen Hals zu bohren, dann brach seine Luftröhre entzwei. In seinen Körper gelangte kein Sauerstoff mehr. Blut mischte sich mit Knochensplittern und spülte diese in seinen Magen. Auf dem Weg dorthin zerschnitten sie alles, was ihnen in die Quere kam.

Diesmal würde er sterben. Zumindest für eine gewisse Zeit. Genüsslich schloss er die Augen, doch sein Geist weigerte sich laut schreiend zu sterben.

„Hilf ihm!“, rief Danika Lucien zu und umklammerte die Gitterstäbe. Ihr war kalt bis auf den Grund ihrer Seele. Kälter als je zuvor. Sie sah Reyes nicht, konnte nicht einmal einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschen. Aeron, der Bastard, hatte ihn in diese tödlichen schwarzen Flügel gewickelt. „Hilf ihm.“ Keiner ihrer Selbstverteidigungstrainer hatte sie auf eine Situation vorbereitet, in der sich Dämonen gegenseitig attackierten. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. „Bitte.“

„Er wird’s überleben.“ Lucien zog eine Pistole aus der Hüfttasche seiner Hose und überprüfte das Magazin.

„Niemand überlebt so etwas“, sagte sie und beäugte die Waffe. Ihr erster Gedanke war, dass er sie jetzt erschießen würde. Ihr zweiter, dass er das längst getan hätte, wenn er gewollt hätte.

„Aeron, lass ihn gehen!“, brüllte Lucien.

„Nein!“, tobte der Krieger.

Ein Augenblick verstrich. Lucien erstarrte und murmelte:

„Was ist das bloß für ein Ding dort drüben?“ Dann zog er eine Pistolenkugel aus seiner Tasche und schob sie ins Patronenlager seiner Waffe.

Danika bebte am ganzen Körper, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. „Was, wenn du aus Versehen Reyes triffst?“ Sie wollte, dass Reyes … was? … am Leben blieb? Ja. Unverletzt. Definitiv. Er hatte sie vor zwei Wochen beschützt, hatte eben die Wucht von Aerons Raserei ertragen, und jetzt wollte sie ihn beschützen. In diesem Augenblick war er ihr einziger Rettungsanker. Zumindest redete sie sich das ein. Das musste der Grund sein, warum sie sich auf einmal um ihn sorgte.

„Wie ich schon sagte: Er wird’s überleben.“

Würde er das tatsächlich? Immerhin war er unsterblich, war ein Dämon. Aber war er deshalb vollkommen immun gegen Strangulierungen und Pistolenkugeln? Immer wenn sie Reyes gesehen hatte, blutete er aus irgendwelchen Schnittwunden. Verletzt sein konnte er also. Aber was, wenn Aeron versuchte, ihn zu köpfen, solange er kampfunfähig war? Stefano hatte ihr erzählt, dass eine Enthauptung das sicherste Mittel sei, um einen Unsterblichen definitiv zu töten. Und diese Bemerkung implizierte, dass es auch noch andere, wenn auch vielleicht nicht ganz so wirksame Mittel des Tötens gab.

Mit panischem Blick fixierte sie Aeron, der Reyes wahrscheinlich immer noch in tödlicher Umklammerung hielt. Der aufgebrachte Krieger saß inzwischen bewegungslos und mit gesenktem Kopf da und gab keinen Mucks von sich. Oh Gott! Was hatte das zu bedeuten? „Lass mich … lass mich Aeron ein wenig ablenken. Dann rückt er von Reyes ab, und du kannst ihn erschießen.“

Die vergitterte Tür quietschte in den Angeln, als sie sie öffnete.

Lucien hielt sie am Arm zurück. „Die Pistole ist nicht für Aeron.“ Mit seinem Kinn deutete er auf eine Ecke des Verlieses.

Danika folgte seinem Blick. Dort in der Ecke hockte ein dünnes, hüfthohes … Ding. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie es an. Grüne Schuppen bedeckten seinen nackten Körper. Seine Zähne, von denen Speichel tropfte, waren so lang wie Säbel, und die Ohren liefen spitz zu. Seine hellroten Augen glühten genau so wie Aerons, bevor er Reyes angegriffen hatte.

„Soweit ich mich erinnern kann, hab ich diese Kreatur nicht mit hierher gebeamt“, sagte Lucien. „Auf jeden Fall ist sie nicht unser Freund.“

Aber was war es dann? Und warum hatte Danika das Gefühl, dieses Wesen schon einmal gesehen zu haben? Es beobachtet zu haben? Sich über seine Späße gewundert zu haben?

„Ein Dämon“, kommentierte Lucien, als hätte sie ihre Fragen laut gestellt. Aber vielleicht hatte sie das auch. Lucien zielte mit der Pistole.

„Schieß nicht in Reyes’ Nähe“, sagte sie hastig.

Lucien schaute sie an, überrascht, dass sie sich auf einmal so um ihren Kidnapper sorgte. „Ich pass auf.“

Aerons Körper begann erneut zu beben, fast schon zu zucken. Und wieder brüllte er wie ein Raubtier kurz vor der Fütterung. Was machte er da? Sie ließ die Gitterstäbe los, ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handballen. Ihr Rücken war schweißnass, obwohl sie vor Kälte zitterte.

Sie stand einfach nur tatenlos da und fühlte sich vollkommen hilflos.

Bum.

In Danikas Ohren dröhnte es. Doch hinter diesem Dröhnen konnte sie ein gespenstisches Lachen ausmachen. Beunruhigt verfolgte sie, wie die kleine Kreatur an den Wänden des Verlieses entlanghüpfte und sogar kopfüber an der Decke krabbelte.

„Ssspiel mit, ssspiel mit, issst lussstig.“

Ich habe dieses Wesen schon einmal gesehen, dachte sie erneut. Aber wo? In ihren Albträumen? Sie riss die Augen auf. Ja, natürlich. Sie träumte doch andauernd von Dämonen und der Hölle, naheliegend also, dass sie sich ein solches Wesen bereits ausgemalt hatte.

Lucien lud nach und feuerte eine weitere Kugel ab.

Noch mehr Gelächter.

Aeron richtete sich auf. Blut strömte aus seinem Mund und tropfte auf seine Hände. Als Danika endlich einen Blick auf den erwürgten Reyes erhaschen konnte, schlug sie sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. Reyes lag vollkommen reglos auf dem Boden ausgestreckt, und sein Hals war … platt.

Ich sollte mich freuen, ich sollte mich freuen.

Aber das tat sie nicht. Tränen brannten ihr in den Augen.

Sie sollte diesen Mann eigentlich hassen für all das, was er ihr angetan hatte. Sollte, sollte, sollte. Dieses Wort war für sie momentan vollkommen bedeutungslos. Sie beugte sich vor und schlang ihre Finger um eines der Messer, die sie entwendet hatte. Dass ihr Diebstahl jetzt womöglich aufflog, war ihr egal.

Aeron musste sterben, notfalls eben durch ihre Hand. So einfach war das. Er war ein vollkommen entfesselter, durchgeknallter Mörder. Er hatte Reyes schwer verletzt – nicht getötet, denn töten konnte man Reyes nicht –, und nun wollte er sich auf sie stürzen. Und ihre Großmutter hatte er vermutlich ebenfalls auf dem Gewissen. Völlig klar: Solange er am Leben war, war ihre Familie in Gefahr. Deshalb musste er sterben, daran führte kein Weg vorbei. Jetzt oder nie.

Wild entschlossen betrat sie das Verlies. Lucien war zu sehr damit beschäftigt, dem Dämon mit seinem Pistolenlauf zu folgen, um es zu bemerken. Zögernd bewegte sie sich vorwärts. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Aeron jede ihrer Bewegungen.

„Legion“, sagte Aeron, „ich brauche dich.“

Die geschuppte Kreatur hüpfte auf seine Schultern und klammerte sich fest. „Bin hier.“ Knochige Fingerchen streichelten Aerons Kopf. Worte, die Danika nicht verstand, wurden in sein Ohr geflüstert. Zärtliche, weiche Worte.

Aerons Körper entkrampfte sich, seine Muskeln, bereits in Angriffsstellung, lockerten sich. Das rote Glühen in seinen Augen wurde schwächer.

Lucien blieb außerhalb des Verlieses stehen. „Danika“, sagte er.

„Hol Reyes hier raus. Sein Körper darf nicht noch mehr Schaden nehmen.“ Danika arbeitete sich zentimeterweise weiter vor. Als sie Reyes erreichte, kniete sie neben ihm nieder. Während sie ihm einen Finger auf den Hals legte, um den Puls zu fühlen, ließ sie Aeron keine Sekunde aus den Augen. Sie fühlte nichts.

Keine Panik. Er war zu vital, zu stark, um jetzt hier so einfach zu sterben, oder etwa nicht? Aber er brauchte dringend medizinische Versorgung. „Lucien, um Himmels willen, komm und hol ihn raus.“

„Er ist okay, und ich werde diesen frei umherflatternden Dämon jetzt bestimmt nicht aus den Augen lassen.“

Verdammt! Sie konnte ihn doch nicht hierlassen. Wenn seinem Körper jetzt noch der kleinste zusätzliche Schaden zugefügt würde, dann wäre nichts mehr von ihm übrig. Sollte sie Reyes retten oder Aeron nach ihrer Familie ausfragen – oder ihn womöglich angreifen? Sie musste nicht lange nachdenken. Sie zog Reyes an den Schultern hoch – das Messer griffbereit, das würde sie nicht loslassen – und versuchte ihn aus dem Verlies zu ziehen. Wenn Reyes erst einmal draußen war, konnte sie sich Aeron immer noch vornehmen. Doch Reyes’ großer, kräftiger Körper war zu schwer für sie, schon nach wenigen Zentimetern musste sie anhalten und verschnaufen.

Aeron richtete sich auf, stabilisierte seinen Körper und ballte kampfbereit die Hände zu Fäusten. Jeden Moment konnte er angreifen.

„Er war dein Freund“, sagte Danika und versuchte erneut, Reyes ein paar Zentimeter zu bewegen.

„Aber du nicht“, konterte Aeron.

„Nein, ich nicht.“

Er grinste, boshaft und unheimlich. „Willst du mir etwa wehtun, du kleines Menschlein?“

„Ja.“ Warum sollte sie lügen? Ihre Absicht war ihr wahrscheinlich eh von den Augen abzulesen. „Mehr als das, ich werde dich umbringen.“

„Na, dann versuch’s mal.“

„Damit du ohne schlechtes Gewissen und mit einer schönen Rechtfertigung mir etwas antun kannst? Nein, danke. Nicht solange Reyes meine Hilfe braucht. Aber sobald er aus dem Verlies raus ist, knöpf ich mir dich vor.“

Aus irgendeinem Grund schien ihn das Gespräch ebenso zu beruhigen wie die kleine Kreatur, die immer noch in sein Ohr flüsterte. „Mache ich dir Angst?“

„Du? Mir Angst machen? Die Zeiten sind vorbei.“ Wieder ein paar Zentimeter geschafft. Noch ein kleines Stück, dann wären Reyes’ Schultern draußen.

„Warum stürzt du dich dann nicht auf mich?“

„Der Unterschied zwischen uns ist, dass mir die Bedürfnisse eines anderen Menschen wichtiger sind als meine eigenen. Und dass ich mich entsprechend um ihn kümmere, wenn es nötig ist.“

Sein Grinsen verschwand. „Du kannst dich nicht um Reyes kümmern.“

Das wollte sie auch gar nicht oder vielmehr: Sie wusste, dass sie es tunlichst bleiben lassen sollte. Aber … Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich, die es ihr ersparten, weiter über eine passende Antwort nachzugrübeln.

„Die anderen kommen.“ Endlich entschied sich Lucien, ihr zu helfen. Er näherte sich ihr und fasste ihr an den Hals, bevor sie protestieren konnte. In der nächsten Sekunde befand sie sich in Reyes’ Schlafzimmer.

Ihr war so schwindelig, dass sie sich nicht eigenständig auf den Beinen halten konnte, als Lucien sie losließ. Sie schwankte und fiel auf die Knie, war aber zu benebelt, um den Aufprall richtig zu spüren. „Was zum Teufel hast du mit mir gemacht?“

„Bleib hier“, befahl Lucien.

Sie versuchte sich aufzurappeln und funkelte ihn zornig an. „Ganz sicher nicht …“

Doch da war er schon ohne ein weiteres Wort verschwunden, hatte sie mit offenem Mund stehen lassen. Dieser Bastard! Sie konnte, sie wollte Reyes nicht dort unten lassen … bei diesem … bei diesem Tier. Du hättest den Kerl töten sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest. Wild entschlossen, nach unten zurückzukehren, schwankte sie zur Tür. Dabei stolperte sie über ein Paar Stiefel und konnte sich gerade eben auf den Beinen halten.

„Ich hatte dir gesagt, dass du hierbleiben sollst.“

Keuchend fuhr Danika herum, wobei ihr erneut schwindelig wurde. Lucien war schon wieder da, stoisch und unerbittlich. Er hielt Reyes in den Armen und schleppte ihn zu seinem Bett. Vorsichtig legte er den immer noch reglosen Körper auf die Matratze. Die Bettfedern quietschten.

Wie der Blitz stand Danika an der Bettkante.

„Kümmere dich um ihn“, sagte Lucien mit warnendem Unterton.

„Ja … mach ich.“ Die Worte entwichen ihr wie ein langer, gequälter Seufzer – und verklangen ungehört, denn Lucien war schon wieder verschwunden.

Sie hatte Angst vor dem, was sie zu sehen bekam, drehte aber trotzdem ganz langsam ihren Kopf zum Bett. Bei Reyes’ Anblick krampfte sich ihr der Magen zusammen. Er hatte so viele verschiedene Facetten, dass er immer noch ein einziges Rätsel für sie war: Er war zugleich Kidnapper und Retter, Dämon und Mensch, er hatte ihr Leben bedroht und es gerettet. Und jetzt lag er hier, besiegt. Sein Hals war zerschmettert, sein Adamsapfel eingedrückt und verfärbt.

Sein Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr.

Endlich ließ sie den Tränen, die an diesem Tag schon so oft in ihren Augen gebrannt hatten, freien Lauf. Wie konnte jemand, der so stark war … Doch plötzlich meinte sie, durch den Tränenschleier eine unmerkliche Bewegung seines Brustkorbs und eine leichte Straffung des eingedrückten Halses zu sehen. Bitte! Lass es keine Täuschung sein.

Ihre Hand flatterte zu seinem Herzen, und sie spürte einen unregelmäßigen, hektischen Puls unter ihrer Handfläche. Dann drang ein Stöhnen an ihr Ohr. Was für ein herrliches Geräusch!

Er lebte!

Sie schrie laut auf und fiel auf die Knie, umklammerte seine Hand und spürte, wie seine Finger mit einem ganz leichten Druck reagierten. Das Ausmaß ihrer Erleichterung war nicht zu beschreiben. Und absolut unerwünscht. Denn es bedeutete, dass sie diesen Mann – diesen Dämon – niemals würde verraten können. Weder jetzt noch später. Bei Aeron war das etwas anderes. Bei Sabin auch. Aber Reyes nicht, niemals. Nicht einmal, um ihre Familie zu retten. „Ich bin hier, Reyes.“

Er schlug die Augen auf.

„Sag nichts, streng dich nicht an. Du sollst einfach nur wissen, dass ich hier bin. Ich pflege dich gesund.“ Das einzige Problem war, dass sie sich medizinisch nicht wirklich auskannte. Sie unterdrückte ein gequältes Lachen. Sie war schon einmal in so einer Situation gewesen. Als Ashlyn krank war. Um das Leben ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihrer Schwester freizupressen, hatte sie Reyes gegenüber behauptet, eine Heilerin zu sein, und so gut es ging an Ashlyn herumgedoktert.

Und tatsächlich war Ashlyn genesen. Würde es bei Reyes auch so sein?

Seine dunklen Augen öffneten sich erneut. In ihnen lag kein Schmerz, im Gegenteil, sie glänzten vor … Freude? Nein, ganz sicher nicht. Ihre Blicke trafen sich kurz, bevor er die Augen wieder schloss. Wieder entfuhr ihr ein Seufzer der Erleichterung.

Reyes bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton hervor.

„Du quälst dich nur unnötig“, sagte Danika. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht sprechen. Wir …“

„Geh nicht ohne mich zu Aeron zurück“, brachte er gerade noch hervor. „Versprich’s!“ Seine Hand umklammerte ihre. „Ich beschütze dich.“

Schon wieder wollte er sie beschützen. Kein Wunder, dass ihr Widerstand gegen ihn zusammengeschmolzen war wie Butter in der Sonne. Und dass sie ihm nun ergeben war wie ein kleines Hündchen. „Ich verspreche es.“