11. KAPITEL
Herr im Himmel. Wie habe ich bisher ohne das hier leben können?
Danika fuhr mit den Fingern durch Reyes’ seidiges Haar, hielt ihn fest an sich gepresst und grub ihre Fingernägel in seine Kopfhaut. Seine Zunge war heiß, schmeckte würzig nach Leidenschaft und Glut. Sein Körper lag auf ihrem, fest und hart.
Aber dann stemmte er sich aus irgendeinem Grund mit seinen Handflächen von der Matratze hoch, sodass sich nur noch ihre Münder berührten. Nein, nein, nein, nein. Sie wollte sein Gewicht auf sich spüren, seine Hitze, seine Stärke und seine harten Muskeln.
Dabei war das absolut tabu, das wusste sie. Außer ihrer Familie und ihrer Freiheit durfte eigentlich nichts anderes für sie von Bedeutung sein. Doch seit dem Moment, wo sie Reyes bewusstlos und halb tot hatte daliegen sehen, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an ihn. Ein Fehler, ein Riesenfehler. Doch wie konnte es falsch sein, wenn sie sich doch das erste Mal seit Monaten wohlfühlte? Wie konnte es falsch sein, wenn sie sich lebendig fühlte wie lange nicht mehr?
Nur noch ein bisschen, dachte sie. Wenn die Neugier erst einmal befriedigt war, wenn sie erst einmal wusste, wie Reyes schmeckte und sich anfühlte – oh Gott, dieser Geschmack! –, dann würde er sie nicht stärker anziehen als andere Männer. Und dann könnte sie ihn immer noch abweisen.
Dann würde sie sich genau wie die kluge Frau verhalten, zu der ihre wunderbare Mutter sie eigentlich erzogen hatte. Sie würde ihre Verantwortung tragen und einen Weg finden, um Aeron die entscheidenden Antworten zu entlocken. Sie würde diese Burg verlassen und niemals wiederkehren.
„Danika“, flüsterte Reyes. „Engel.“
Engel. „Hör nicht auf.“
Seine Lippen waren weich, sein leichter dunkler Bart kratzte ihr über die Wangen. Jedes Mal wenn er seinen Kopf neigte und mit seiner Zunge tiefer und fordernder in sie eindrang und sie dabei noch ein wenig mehr kratzte, spürte sie eine Welle der Lust in ihren Brustwarzen und zwischen ihren Beinen.
Sie stöhnte, sie konnte einfach nicht anders.
„Magst du meine Küsse?“, fragte er. „Tue ich dir nicht weh?“
„Ich mag sie, und, nein, du tust mir nicht weh.“ Als sie ihm in seine angespannten Schultermuskeln zwickte, dachte sie, dass sie gegen ein bisschen Schmerzen gar nichts einzuwenden hätte. Sie sehnte sich geradezu danach, dass er mit seinen Zähnen an ihr knabberte und seinen Körper tief in sie hineinstieß.
„Da bin ich aber froh.“ Seine Zunge fuhr über ihre Zähne und massierte ihren oberen Gaumen.
Wie herrlich, dachte sie, aber sie wollte noch mehr. Vielleicht wollte sie ja alles, was er zu geben bereit war. Auf jeden Fall wollte sie, dass er seinen Körper an ihrem rieb. Warum tat er das nicht? Ihre Lust ließ ein wenig nach. Warum klang er so beherrscht? So … distanziert?
Die Unsicherheit kühlte ihre Glut merklich ab. Und jetzt fielen ihr auch noch andere Dinge auf: Sie hatte die Beine gespreizt, aber er reagierte überhaupt nicht auf diese Verlockung. Sie hatte sich begierig an ihm festgeklammert, doch er hatte sich von ihr gelöst und berührte sie nur noch mit seiner Zunge. Sie hatte immer wieder lustvoll gestöhnt, doch seine Atmung hatte sich nicht einmal beschleunigt.
Danika befreite sich von Reyes’ Lippen und drückte ihren Kopf in die Kissen. Sie keuchte immer noch, während er ganz entspannt atmete. Verunsichert blickte sie zu ihm hoch.
„Du hast doch angefangen“, sagte sie, während langsam die Wut in ihr hochkochte. Er hatte angefangen, war dann aber nicht mit dem Herzen dabei gewesen. „Warum? Und erzähl mir jetzt nicht, dass dir auf einmal aufgegangen ist, es wäre klüger, aufzuhören. Völlig klar: Du begehrst mich nicht.“ Es auszusprechen brachte ihre Wut zum Überkochen.
Er schlug die Augen auf. Normalerweise waren sie so dunkel, dass die Pupillen mit der Iris zu verschwimmen schienen. Jetzt wirbelten und strudelten die Emotionen darin umher wie in einem tosenden Meer. Und: Ein blutroter Rand umrahmte das Schwarz.
Die Augen eines Dämons.
Sie schluckte. Es war schrecklich, an das Böse erinnert zu werden, das in seinem Innern schlummerte. Und trotzdem verlangte sie weiter nach ihm. Trotzdem verzehrte sich ihr Körper nach ihm. Nach ihm, nur nach ihm. Warum bloß?
Sosehr sie sich auch davon zu überzeugen versuchte, dass er nicht besser war als jeder x-beliebige Mann, so sehr sprach ihr Körper eine andere Sprache. Er war Reyes, eine Mischung aus Mann und Dämon, anziehend und abstoßend zugleich. Gutes und Böses wohnten in ein und demselben Körper – einem Körper, dessen Küsse sie in den siebten Himmel und zugleich in die hinterste Ecke der Hölle versetzten.
Ihren schlimmsten Albträumen entspringend, hatte er sich in eine Art erotische Fantasie verwandelt, die mit hauchzarten Flügeln bis in die letzten Winkel ihres Körpers vordrang. Er war alles, was sie wollte, und gleichzeitig das Einzige, das sie sich versagen musste. Sie hätte ihn blind in einem Riesenaufgebot an Männern erkannt – allein an seinem betörenden Geruch nach Sandelholz, der auf sie wirkte wie ein unsichtbares Band.
Aber was wusste sie eigentlich über ihn, außer dass er von einem Dämon besessen war? Sie wusste, dass jeder andere Mann im Vergleich zu ihm blass und schwächlich wirkte, wie welke Nelken, die eine einsame dornige Rose umringten. Sie wusste, dass noch nie zuvor ein Mann sie so entflammt hatte. Und sie wusste, dass sie sehr lange Zeit gefroren hatte und dass er – und nur er – es geschafft hatte, sie aufzuwärmen.
Ihr war klar, dass diese Wärme wie eine Droge auf sie wirkte und sie immer weiter trieb auf dem Pfad der Versuchung. Es war gar nicht mal Reyes selbst. Ja, sie wusste, dass im Grunde alles nur an der Wärme lag. Jedenfalls redete sie sich das fürs Erste ein. Die Alternative war einfach zu beunruhigend.
„Geh von mir herunter“, sagte sie und war selbst erstaunt über ihren ruhigen Ton.
„Ich will nicht“, antwortete er und klang so gequält, als würde ihm jemand Messerspitzen unter die Fingernägel bohren.
„Du lügst“, wiederholte sie seinen Vorwurf von vorhin und stemmte ihre Arme gegen seine Schultern.
Er rührte sich nicht. Er schaute nur finster drein. „Stopp, mein Engel. Du willst nicht wirklich, dass ich runtergehe.“
Engel. Er nannte sie schon wieder Engel. Unten im Verlies hatte er sie sogar laut so gerufen. Sie versuchte hart zu bleiben. Schon öfter hatten Männer sie mit Kosenamen bedacht, aber keiner hatte ihn je mit einem solchen Du-gehörst-zu-mir-Ton ausgesprochen.
„Du kannst überhaupt nicht wissen, was ich will“, blaffte sie, „und ganz offensichtlich begehrst du mich auch nicht.“ Freu dich darüber, du Idiotin.
Scham spiegelte sich jetzt in seinem markanten Gesicht. Scham und Traurigkeit. Sein Blick fiel auf ihre Schulter, wo das T-Shirt etwas verrutscht und ein Stück Haut zu sehen war. „Ich begehre dich, bei allen Göttern, ich will dich.“
Während er das sagte, streifte er ihren Körper mit seinem Unterleib. Er war nicht erregt. Sie errötete. Als er vor einigen Minuten auf sie zugekommen war, war sein Schwanz so steif und geschwollen gewesen, dass er fast oben aus seiner Hose herausgeschaut hatte. Aber sobald er sie geküsst hatte, war er zusammengeschrumpft. Küsse ich so schlecht?
„Lass mich nicht noch einmal wiederholen, dass du runtergehen sollst“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was für ein Spielchen du gerade spielst, aber ich kann dir nur eines sagen, dass es ziemlich blöde ist. Ich muss …“
„Ich spiele kein Spielchen“, unterbrach er sie hitzig.
Sie fuhr fort, als hätte er nichts gesagt: „Ich muss zurück in den Kerker, und zwar sofort, das hier ist nur Zeitverschwendung. Ich muss mit Aeron reden.“
„Zuerst hörst du mir zu!“
„Reyes. Geh. Sofort. Runter!“
„Erst reden wir, Danika.“
Sie funkelte ihn böse an. „Wenn du es erzwingen willst, dann tue ich dir weh!“
Er schloss die Augen, um seine Emotionen zu verbergen. Seine Wimpern waren wie lockende Finger, die sie tiefer in die dunkle Welt der Verführung hineinzogen. „Ich kann nicht … ich bin nicht …“
„Kerker. Aeron. Nichts anderes zählt. Die Redezeit ist abgelaufen. Die Zeit der Küsse ebenfalls. So wie wir es ausgemacht haben: vorbei und erledigt. Und ich werde mich auch nie wieder fragen, wie du schmeckst.“ Doch leider wusste sie nur allzu gut, dass sie zeitlebens von diesem Kuss träumen würde, dass sie sich zeitlebens ausmalen würde, was hätte passieren können, wenn er sie wirklich begehrt hätte.
„Danika, ich …“
Wieder hielt er inne. Sie wartete so begierig auf seine Worte, dass es fast wehtat. „Was?“ Ihr Herz trommelte. „Nun sag schon, damit ich endlich gehen kann!“
Er schlug die Augen auf, und in seinen Pupillen loderte Feuer. Er näherte sich ihrem Gesicht und drückte seine Nase gegen ihre. Glühend heißer Atem brannte auf ihrer Haut. „Du sagst jetzt kein Wort mehr. Jetzt muss ich dir etwas erzählen.“
In den letzten Monaten hatte ihr eigener Wille rein gar nicht gezählt. Ihr wundervolles altes Leben war ihr genommen und ihre Existenz auf das bloße Überleben reduziert worden. Alle Menschen, die sie liebte, waren verschwunden. Die Malerei, ihr ein und alles, war nur noch eine blasse Erinnerung.
Sie würde jetzt nicht schon wieder klein beigeben.
„Schsch, kein Wort mehr, ja?“
Du bist zum Kämpfen ausgebildet. Du weißt, was du zu tun hast. Mit klopfendem Herzen legte sie ihre Hände flach auf die kühle Matratze. Sie war schweißgebadet. Das letzte Mal, als sie sich selbst verteidigt hatte, hatte sie getötet. Pass diesmal auf. Sie wollte Reyes nicht so stark verletzen, dass er nicht mehr genesen konnte. Sie wollte ihm nur ein bisschen wehtun.
„Ich hatte eigentlich nicht vor, es dir zu erzählen, weil ich gehofft hatte, mit dir würde es anders sein. Aber ich ertrage es nicht, dass du denkst, ich würde dich nicht begehren.“
Beende dieses bittersüße Gerede. Tu endlich etwas!
„Ich …“
Danika schlug zu.
Mit aller Kraft hieb sie ihm mit der flachen Hand auf die Nase. Krach, wums. Sein warmes Blut bespritzte sie. Reyes stöhnte. Doch nicht vor Schmerz, wie sie feststellte, sondern vor Lust. Es war genau die Art von Stöhnen, die sie gern gehört hätte, als er seine Zunge in ihrem Mund hatte.
Das Entsetzen über dieses Stöhnen ließ sie erstarren. Was zum Teufel war das?
Langsam wandte Reyes ihr sein Gesicht zu. Das Blut war bereits getrocknet und seine Nase dabei, sich wieder zu richten. Sie riss die Augen auf. Er war ein unsterblicher Krieger, ja, das wusste sie bereits. Seine Wunden verheilten schnell. Auch das hatte sie nach Reyes’ Erdrosselung vergangene Nacht schon geahnt. Aber wie hätte sie vorhersehen können, dass ein Nasenbeinbruch eine so stürmische Lust bei ihm hervorief?
Sein Schwanz war im Nu steif, genau so wie sie es sich vorhin noch gewünscht hatte. Eine beachtliche Wölbung in seiner Jeans. Wie würde sie sich jetzt fühlen, wenn sie beide nackt wären? Sie schluckte, während Reyes sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, als könne er sie dort schmecken.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Körper berührten sich, ihre Brustwarzen streiften seinen muskulösen Brustkorb, ihre Zartheit seine Kriegerstärke – und zwischen ihnen schienen Funken zu sprühen, schien sich Elektrizität zu entladen. Für einen kurzen Moment schmerzte sie diese Empfindung, und gleichzeitig beglückte sie dieser Schmerz tief in ihrem Innern.
Reyes rückte abrupt von ihr ab und sprang auf, was den dunklen Energiestrom zwischen ihnen sofort unterbrach. Er stand jetzt an der gegenüberliegenden Wand, die glänzende Spitze seiner Erektion schaute oben aus seiner Jeans, die mit einem Mal viel zu klein wirkte.
„Reyes“, murmelte sie unsicher – immer noch erregt, ängstlich und verwirrt.
„Ich begehre dich, aber ich kann dich nur genießen, wenn du mir wehtust.“ Nur mühsam brachte er dieses brutale Bekenntnis hervor. Die Scham war zurückgekehrt. Und das Schuldgefühl. Und auch Hoffnung? „Ich kann Lust nur bei Schmerzen empfinden.“
Langsam setzte sie sich auf. Sie war zu benommen, um sich einen Reim auf seine Worte machen zu können. „Das verstehe ich nicht.“
„Gestern hast du mich gefragt, welchen Dämon ich in mir trage. Nun, mein Dämon ist Schmerz. Er bewirkt, dass ich mich nach körperlichen Schmerzen sehne, je qualvoller, desto besser. Körperliche Schmerzen sind meine einzige Lustquelle.“
So wie es eben, in diesem kurzen Moment, auch ihr Lust bereitet hatte.
Nein, es war nicht nur dieser kurze Moment gewesen. Die Erkenntnis überrumpelte sie wie ein eisiger Schauer an einem Sonnentag. Sie hatte das schon vorher einmal gespürt. Gestern, als sie in Reyes’ Bett erwacht war. Sie hatte ihn gebissen, und es hatte ihr gefallen. „Kann dein Dämon auch mich befallen?“ Ihr Magen krampfte sich zusammen. Das war doch möglich, oder nicht?
„Nein“, sagte er, doch sein Blick war hart geworden.
Denk jetzt nicht weiter darüber nach. Du wirst sonst panisch, verlierst die Kontrolle. „Du willst mir also gerade sagen, dass ich dich quälen muss, wenn ich mit dir zusammen sein will?“ Immer wieder aufs Neue?
Er nickte.
Ihr Mund wurde trocken und pelzig. Wenn sie sich tatsächlich etwas aus ihm machte und sich ihm hingab, was würde er dann von ihr erwarten? Würde sie ihn kratzen, kneifen und beißen müssen? „Haben andere Frauen dir … wehgetan?“
Wieder nickte er mit düsterer Miene.
Danika ballte die Fäuste, ihre Fingernägel gruben sich ins Bettlaken. In diesem Augenblick hätte sie ohne Probleme den Mut aufgebracht, jemanden zu verletzen. Beim Gedanken an Reyes mit einer anderen Frau kochte eine derart rasende Eifersucht in ihr hoch, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte. „Und, hat es funktioniert?“
„Für eine Weile. Schmerz ist Schmerz, egal warum und von wem er einem zugefügt wird.“
„Und begehrst du …“ diese kleinen Nutten immer noch?, vollendete sie ihren Satz im Geiste. „Und begehrst du diese Art von Frauen immer noch?“
„Schon seit vielen Jahren nicht mehr.“
Ihre Eifersucht ließ etwas nach. „Willst du, dass ich dir wehtue?“ Könnte sie das überhaupt?
Zu ihrer Überraschung schüttelte er den Kopf. Seine dunklen Haare strichen ihm über die Schläfen. „Ich verzehre mich vor Sehnsucht nach Schmerzen, das kann ich nicht leugnen, und ich fände es herrlich, wenn gerade du diejenige wärst, die mir den Schmerz zufügt, aber …“ Er schaute weg und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
„Aber was?“
„Ich würde es niemals zulassen.“
„Warum nicht?“, brach es aus ihr heraus. Da sie fürchtete, gleich einen Ausdruck des Erbarmens auf seinem Gesicht zu sehen, wandte sie sich ab – und entdeckte dabei frische Schnittwunden an seinem Arm. Während sie sprachen, hatte er sich also die ganze Zeit geritzt.
Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Das war es also, was er brauchte. Messerklingen in seinen Adern. Und sie hatte ihn einfach nur für ungeschickt und verlegen gehalten. Sie lachte ein freudloses Lachen. Er war alles andere als ungeschickt. Wie naiv sie doch war.
„Weil es dich verändern würde“, sagte er, „und zwar nicht zum Guten. Und du bist nun einmal perfekt, so wie du bist.“
Reagier nicht, ignorier ihn einfach. Das Gespräch entwickelte sich in eine gefährliche Richtung, und das, was sie am Ende erwartete, konnte nichts Gutes sein. Entweder würde sie ihren Verstand verlieren und darum betteln, ihm das geben zu dürfen, wonach er sich sehnte, wobei sie sich vor sich selbst ekeln würde, oder aber er würde sie weiterhin zurückweisen und demütigen. Halte dich fern von ihm.
„Jetzt hast du gesagt, was du sagen wolltest. Ich … ich muss jetzt mit Aeron sprechen. Ich habe hier schon viel zu viel Zeit vertan. Ich muss meine Familie suchen.“
Eine ausdruckslose Maske schien sich vor Reyes’ Gesicht zu schieben.
Sie spürte ein Ziehen in der Brust. Wegen ihm? Wegen ihr? Wegen dem, was alles hätte sein können? Sie wusste es nicht. „Was wäre ich für ein elender Mensch, wenn ich weiterhin meine persönlichen Belange über das Wohl meiner Mutter, Schwester und Großmutter stellen würde. Sie sind vielleicht in größten Schwierigkeiten und verrückt vor Angst oder vor Sorge um mich.“
„Ich werde noch einmal mit ihm sprechen, und du kannst zuhören“, entgegnete Reyes.
„Aber …“
„Du hast gesehen, wie Aeron beim bloßen Klang deiner Stimme durchgedreht ist. Ich werde mit ihm sprechen. Keine Widerrede.“
Widerstrebend nickte sie. Die Informationen, die Aeron hatte, waren zu wertvoll, um die Zeit hier mit Wortklaubereien zu vertun. „Erlaubst du mir, meine Familie zu suchen, wenn Aeron uns sagt, wo die drei sich aufhalten?“
„Ich fürchte, ich werde dich niemals gehen lassen können.“ Das sagte er ihr nun schon zum zweiten Mal, aber diesmal hatte er geflüstert, und sie musste sich anstrengen, um ihn überhaupt zu verstehen. Als die Bedeutung seiner Worte endlich zu ihr durchgedrungen war, wäre sie fast aus dem Bett gesprungen und hätte sich auf ihn gestürzt. Nur der Gedanke, dass er sich darüber freuen würde, hielt sie zurück. „Na, dann versuch mal, mich aufzuhalten“, fauchte sie. „Schauen wir mal, was dann passiert.“
„Du hast mich falsch verstanden. Ich werde dir helfen, deine Familie zu finden“, sagte er. „Ich werde dich begleiten – dahin, wo auch immer sie sich verstecken.“ Wenn sie überhaupt noch leben. Dieser unausgesprochene Satz hallte wie ein Echo zwischen ihnen hin und her. „Im Gegenzug wirst du meine Freunde nicht an die Jäger verraten. Nicht einmal Aeron.“
Jedes Fünkchen Wärme verließ ihren Körper. Fröstelnd hockte sie auf dem Bett. Er wusste Bescheid. Wahrscheinlich schon die ganze Zeit. „Ich … ich …“
„Du musst mir nicht verraten, was sie dir erzählt oder von dir verlangt haben, oder was du ihnen versprochen hast. Das spielt keine Rolle. Vielleicht würde es dich sogar das Leben kosten, wenn ich davon erführe.“ Er drehte ihr jetzt den Rücken zu. „Bist du einverstanden mit diesem Deal?“
Die Jäger hatten gelobt, ihr zu helfen, ihre Familie zu finden und diese zu beschützen. Aber sie waren Menschen, sterblich wie sie selbst. Sie hassten die Herren der Unterwelt, trachteten nach Rache und würden für deren Untergang alles geben. Wahrscheinlich würden sie auch sie, Danika, niedermähen, wenn sie ihnen irgendwie in die Quere kam.
Sie hatten sie um ihre Mitarbeit gebeten und sie in die Burg eingeschleust, um Informationen zu sammeln. Bislang hatte sie ihr Versprechen, die Jäger zu unterstützen, jedoch noch nicht eingehalten. Aus Mangel an Zeit – und Lust. Reyes hatte sie von ihrem Vorhaben abgelenkt.
Und nun bat er sie, endgültig die Seiten zu wechseln und sich ihm, dem Feind, anzuvertrauen.
„Bist du einverstanden?“, hakte er nach.
„Ja, bin ich“, antwortete sie, aber sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich ernst meinte. Sie hatte mit Stefano einen Telefontermin für den Abend vereinbart, und sie würde alles Menschenmögliche unternehmen, um ihre Familie zu finden. Dafür würde sie jeden, wirklich jeden, der sich anbot, einspannen. Und um ihre Lieben danach in Sicherheit zu bringen, würde sie, falls nötig, jeden einzelnen von Reyes’ Freunden umbringen.
Und damit Ashlyns Leben zerstören. Und Anyas ebenso. Ihr wurde übel. Oh Gott, die Gleichung wurde mit jeder Stunde, die verstrich, komplizierter.
Es hatte sich bereits gezeigt, dass sie es nicht über sich brachte, Reyes Schaden zuzufügen. Und das war okay. Schließlich würde er ihr und ihrer Familie auch nichts antun. Oder doch? Wenn sie gegen seine Freunde vorging, war es sehr gut möglich, dass er sich vom süßen Beschützer in einen mörderischen Dämon verwandelte. Das aber bedeutete, dass er auch sterben musste.
Verdammt!
„Du wirst uns nicht verraten, selbst wenn deine Familie nicht mehr existiert?“, drängte er.
Konnte man ihr die Gedanken, die sie quälten, so leicht vom Gesicht ablesen? Sie schloss die Augen. „Ich bin mit dem Deal einverstanden, okay?“, wiederholte sie, doch sie brachte die Worte nur mit größter Anstrengung über die Lippen. Gut möglich, dass ihr die schwersten Tage ihres Lebens bevorstanden, weil sie ihre Hoffnung und ihre Familie verlieren würde … und vielleicht auch diesen Mann hier, den sie gleichermaßen begehrte und fürchtete.
Reyes nickte nur kurz: „Dann lass es uns so machen.“