13. KAPITEL

Rom. Ein majestätischer Ort mit einer langen Geschichte, fußend auf Reichtum, Gewalt und Lust. Egal wo man in dieser großartigen Stadt stand, das Meer blies einem sein unschuldiges, ruhiges Lied herüber und der Himmel antwortete mit seiner friedlichen Melodie des Dämmerlichtes.

Doch nichts davon konnte Paris beruhigen.

Er stand am Rande des Tempels der Unaussprechlichen, verdeckt von seinen Freunden. Wartend. Der Tempel war unheimlich, Paris hätte schwören können, die Todesschreie von Gefolterten zu hören, die der Wind herüberwehte und über das friedliche Geräusch der Wellen legte. Die ganze Tempelanlage hatte sich erst vor Kurzem aus dem Meer erhoben, wo sie dem menschlichen Auge über Jahrtausende verborgen geblieben war. Jetzt wimmelte es auf dem ganzen Gelände von Arbeitern, die die bröckelnden Gänge reinigten und nach Spuren der Vergangenheit suchten. Sie wussten nicht, dass die Götter planten, den Tempel seiner ursprünglichen Funktion zuzuführen. Schon bald würden die Sterblichen an den Altären ihrer himmlischen Schöpfer wieder beten und Opfer darbringen, so wie sie es früher auch schon getan hatten.

Das Wiedererstehen des Tempels hier und seines Gegenstücks in Griechenland war jedoch nur der erste Schritt. Zumindest glaubte Paris das, der von allen Herren der Unterwelt vermutlich der menschlichste und erdverbundenste war. Seine Freunde würden wahrscheinlich lachen, wenn er ihnen seine Hypothese über ihre neuen Götter, die Titanen, kundtat. Aber Paris war überzeugt, dass sein stetiger intimer Kontakt mit den Menschen ihm half, die spirituelle Welt besser zu verstehen. Dadurch, dass er so viel Zeit mit Menschen verbrachte, kannte er sich mit ihren Gefühlen aus. Mit Gier, Eifersucht und dem Wunsch, geliebt zu werden.

Und es gab ohne Zweifel eine Schnittmenge zwischen den Gefühlen der Menschen und denen der Götter.

Was waren die Titanen denn sonst wenn nicht gierig nach der Macht, die sie ursprünglich einmal besessen hatten? Waren sie etwa nicht rasend eifersüchtig gewesen, als die Griechen die üppige Ernte einfuhren, die sie selbst noch gesät hatten? Und waren sie nicht ganz erpicht auf die Anbetung und Verehrung, die ihnen über Jahrtausende vorenthalten wurden? So viele Wünsche und Bedürfnisse der Titanen waren während ihrer langen Gefangenschaft nicht befriedigt worden, da war es nur natürlich, dass sie jetzt alles auf einmal wollten.

Und trotzdem half Paris diese Erkenntnis nicht weiter. Er konnte daraus nicht ableiten, wie er die Titanen bekämpfen sollte. Sie hatten immense Kräfte und Fähigkeiten, sie konnten sich mit bloßer Gedankenkraft von einem Ort zum anderen beamen, sie kontrollierten das Wetter und beobachteten völlig ungehindert die Welt und ihre Bewohner. Sie konnten mit einer Hand fluchen und mit der anderen segnen. Paris hingegen beherbergte einen Dämon, der fortwährend vögeln wollte. Einen Dämon, der ohne Sex anfing zu schwächeln und in einer Begegnung, die nicht mit Verführung zu tun hatte, keine große Hilfe war.

Wie sollte er mit so einem Dämon einen Kampf gewinnen?

Wenn er jedoch nichts unternahm, liefen seine Freunde Gefahr, für immer ausgelöscht zu werden, während die Jäger, ihre erbittertsten Feinde, womöglich zu Wachen über Frieden und Wohlstand gemacht wurden. Paris fragte sich sogar, ob die Spielsteine für ein solches Szenario nicht vielleicht schon gesetzt waren und womöglich ein einziger leichter Windstoß ausreichte, um das Unwetter auszulösen.

Doch was konnte er dagegen tun?

Die Büchse der Pandora finden, klar. Wenn sie in ihrem Besitz wäre, könnten er und seine Freunde nicht von ihren Dämonen getrennt werden. Denn das würde sie umbringen, jetzt, wo sie miteinander verschmolzen und unzertrennlich geworden waren. Es würde sie umbringen oder in den Wahnsinn treiben.

Paris fühlte sich so verdammt hilflos. Er fühlte, dass er ungehalten und permanent zornig war. Er fühlte sich … leer. Und um all diese negativen Gefühle war obendrein mit heißen Fäden seine Wut gewickelt. Seine Sienna war tot. Er hatte ihren Körper verbrannt und ihre Asche in alle Winde verstreut – eine Bestattung, wie sie einem Krieger geziemte. Sie würde nie wieder zurückkommen.

Aber wem sollte er die Schuld dafür geben? Den Jägern? Den Göttern?

Sich selbst?

Wen sollte er bestrafen? Wen sollte er zur Vergeltung abschlachten?

Am Tage seiner Schöpfung war ihn gelehrt worden, dass alles Auge um Auge heimgezahlt würde.

Wenn ein Krieger darin versagte, seine Feinde für ihre begangenen Verbrechen zu bestrafen, hielten diese Feinde ihn für einen Schwächling und griffen ihn immer wieder an, denn sie waren sich ihres Sieges sicher. Aber was sollte man tun, wenn man womöglich selbst dieser Feind war?

„Fertig?“, fragte Anya.

Paris sah auf. Ihre Aufgeregtheit riss ihn mit einem Schlag aus seinen Grübeleien.

Die Krieger, die um die Göttin herumstanden, nickten ihr zu, sie schienen ebenso aufgeregt wie sie selbst. Sie hielten sich im Schatten auf, wo sie von den wild umherwuselnden Arbeitern einfach übersehen wurden. Diese trugen Steine zusammen und kratzten vorsichtig die Moosschicht ab.

„Hier entlang.“

Anya ließ die Hände an ihrer perfekt gerundeten Taille hinab-und über die Diamanten auf ihrem Gürtel gleiten. Sie schüttelte ihre langen hellen Haare. „Ihr Jungs solltet euch besser mal ein bisschen beeindruckt zeigen von meinen Kräften und mir für meine elegante Kleidung Komplimente machen.“

Von allen Seiten war Gemurmel zu hören: „Ja, Anya“, „Klar, machen wir, Anya.“ Die Herren der Unterwelt hatten ausnahmslos Respekt vor ihr. Gehörigen Respekt.

Obwohl Anya einiges von ihrer Kraft verloren hatte, als sie sich für Lucien und gegen ihre ewige Freiheit entschieden und damit ihr höchstes Gut für ihren Geliebten geopfert hatte, war sie immer noch eine große Chaosstifterin, die mit nur einem einzigen Gedanken einen Sturm auslösen konnte.

Paris entdeckte fünf Jäger zwischen den Arbeitern, deutlich zu erkennen am Symbol für Unendlichkeit auf ihren Handgelenken. Für Paris war es das Symbol des Todes. Gib ihnen die Schuld an Siennas Tod. Sie haben sie rekrutiert und ihren Kopf mit ihrer Propaganda vollgestopft. Tu ihnen das an, was sie ihr angetan haben. Er stemmte seine Fäuste in die Hüfte.

„Was tue ich nicht alles für meine Männer“, murmelte Anya, bevor sie zu den Menschen hinüberschlenderte.

Paris schaute zu, wie sich diese zunächst langsamer und dann gar nicht mehr bewegten. Ihre Gespräche verstummten, bis schließlich tiefstes Schweigen herrschte. Alle hatten sich umgedreht und starrten die atemberaubende Schönheit an, die einen viel zu kurzen schwarzen Rock und ein durchsichtiges Schnürkorsett trug.

„Entschuldigung, aber wer sind Sie?“, fragte schließlich einer von ihnen. Er war klein und übergewichtig, neigte zur Glatze und hatte kein Tattoo auf dem Handgelenk. Ein Namensschild baumelte um seinen Hals. Thomas Henderson, Gesellschaft für Mythologische Studien. „Haben Sie eine Zugangsberechtigung?“

„Aber natürlich.“ Anyas sinnliche Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, während sie ihre wohlgeformten Arme hob. „Sonst wäre ich doch nicht hier, mein Zuckerschnäuzchen, oder?“

An Hendersons Stirnfalten ließ sich der Grad seiner Verwirrung ablesen. „Wie ist Ihr Name? Alle, die auf der Liste stehen, sind bereits anwesend, und ich erinnere mich nicht, jemanden hinzugefügt zu haben.“

„Es macht wohl keinen Sinn, das jetzt zu überprüfen: Ein Unwetter zieht auf.“ Plötzlich zuckte ein Blitz über den Himmel, Gold auf einer rosa-lilafarbenen Leinwand. Der Wind frischte auf und wirbelte Anyas Haare in alle Richtungen. „Sie sollten besser nach Hause gehen.“

Die Männer starrten Anya an, mit Ehrfurcht und unverhohlener Begierde.

„Meine!“, sagte Lucien, und auch seine verschiedenfarbigen Augen glühten vor Wollust.

Paris musste seine Augen einen Moment schließen. Ich will auch eine, die mir gehört!

Genau so schaute Maddox Ashlyn an und Reyes Danika. Man konnte fast meinen, Frauen wären das Wunderbarste auf der Welt. Aber wie war Reyes auf den Trichter gekommen? Wahrscheinlich vor lauter Kummer. Ihr Todesurteil folgte Danika auf Schritt und Tritt, und mehr als das: Sabin glaubte, dass sie mit den Jägern gemeinsame Sache machte und ihnen Informationen über sie, die Herren der Unterwelt, und über Pandoras Büchse lieferte.

Sabin wollte ihren Tod, das hatte man gestern gesehen. Während Reyes letzte Nacht schlief, hatte er sich sogar eine Pistole geschnappt, um Danika eine Kugel in den Kopf zu jagen und Aeron so vor einem Schicksal zu bewahren, das dieser schlimmer fand als den Tod, wie er einmal gesagt hatte. Lucien hatte ihn gestoppt. Irgendwie schien Danikas Anwesenheit Reyes’ Bedürfnis nach Schmerzen zu stillen. Seit ihrer Ankunft war er nicht mehr vom Burgdach gesprungen und hatte auch keine seiner gefährlichen Lieblingsbeschäftigungen ausgeübt. Zwar ritzte er sich immer noch, das schon, aber von seiner Todessehnsucht war nichts mehr zu spüren.

Und mehr konnte ein Herr der Unterwelt nicht verlangen.

Das war es doch letztlich, wonach sie sich alle sehnten: innerer Frieden. Frieden nach all den Kriegen, dem endlosen Blutvergießen und den immerwährenden Qualen. Wie konnten sie also einem ihrer Freunde ein solches Wunder wie Danika absichtlich entreißen? Gar nicht konnten sie das. Also hatten sie Reyes allein mit ihr zurückgelassen. Nun, nicht ganz allein. Torin, Cameo und Kane – Träger des Dämons der Katastrophe, den man nirgendwohin mitnehmen konnte, ohne dass die Glühbirnen rausflogen und der Putz von der Decke fiel – waren in der Burg geblieben, schützten sie vor ungebetenen Gästen und überwachten die Computerbildschirme. Oh, und natürlich William. Obschon der in Paris’ Augen nicht zählte, denn auf seine Fähigkeiten konnte man nichts, aber auch gar nichts geben.

Schmerz, Krankheit, Katastrophe und Elend zusammen an einem Ort. Na, das kann ja heiter werden, dachte Paris. Grinsend schüttelte er den Kopf. Sienna hätte, wenn sie davon erfahren hätte, vor Freude in ihre zarten kleinen Hände geklatscht. Sie hätte …

Doch das Grinsen verging ihm schnell und wich einer grimmigen Miene: Das Gefühl innerer Ödnis hatte wieder die Oberhand gewonnen. Er durfte einfach nicht mehr an sie denken. Sie war tot. Verbrannt. Und außerdem eine verhasste Feindin.

Dicke Regentropfen schossen wie Pfeile aus dem Himmel und platschten auf den Boden – außer dorthin, wo die Krieger standen. Manche Tropfen schlugen so hart auf, dass sie von den Steinen abprallten und auf Paris’ frisch geputzte Stiefel spritzten. Kurz darauf trommelten Hagelkörner wie kleine Fäuste herunter.

„Beeilt euch!“, rief jemand.

„Das wird noch schlimmer“, schrie ein anderer.

Überall war Fußgetrappel zu hören. Die zu ihren Booten eilenden Menschen erinnerten Paris an Hamster in einem Laufrad. Mit jeder Minute wurde der Regen stärker, wuchs die Anzahl und Größe der Hagelkörner. Goldene Blitze zuckten am Himmel wie in einem wilden Tanz. Donner dröhnte, Staub und Schutt füllten die windgepeitschte Luft.

Anyas Sturm war entfesselt. Seine magnetische Kraft ließ die feinen Härchen an Paris’ Körper hochstehen. Er schloss die Augen, ganz kurz nur, wünschte sich, dass die Elektrizität seinen Körper durchdrang, den hartgesottenen Mann in ihm tötete und den sorglosen Typen, der er früher gewesen war, wieder zum Vorschein brachte.

Als die letzten Arbeiter geflüchtet waren, wurde das Unwetter noch heftiger, bis es eine Art Kuppel rund um den Tempel formte. Niemand, der außerhalb dieser Kuppel stand, würde durch die Wand aus Regen und Hagel die Krieger sehen können, die nun anfangen konnten, den Tempel zu durchsuchen. Nicht einmal jemand, der von oben, aus dem Himmel, herabschaute.

„Ist die Luft rein?“, fragte Anya.

„Ja“, erwiderte Lucien.

Langsam senkte sie die Arme. Regen und Hagel ließen nach und beschränkten sich auf den Bereich außerhalb der Kuppel. Das Donnergrollen verklang.

Als sich das Chaos rund um den Tempel lichtete, ließ Paris seinen messerscharfen Blick über das Gelände schweifen. Er machte ein silbernes Glitzern aus, den Lauf einer Pistole, der hinter einer noch intakten Marmorwand hervorlugte. Freudige Erregung kribbelte in seinem Körper, während er seine eigene Pistole packte. Jäger.

Über Jahrtausende hinweg hatte er den Kampf Sabin und seiner Crew überlassen, während er selbst versucht hatte, ein gutes Leben zu führen, unspektakulär und reumütig. Er war überzeugt gewesen, nichts Besseres verdient zu haben, denn schließlich hatte er, als sie Pandoras Dämonen freigelassen hatten, dazu beigetragen, die Welt in Dunkelheit und Verzweiflung zu stürzen.

Doch jetzt zählten seine vergangenen Sünden nicht mehr. Er hasste die Jäger mehr als sich selbst. Und nach der Sache mit Sienna …

„Jäger“, murmelte Lucien, der sein Messer bereits gezogen hatte. „Auf elf Uhr.“

„Den nehme ich“, stellte Paris klar.

„Ich sehe ihn“, sagte Sabin. „Und ich frage mich, warum du alleine den Spaß haben sollst.“

„Der gehört mir“, beharrte Paris.

Sabin rollte mit den Augen. „Vorhin hab ich sechs gezählt, und ich wette, die sind alle noch hier und warten auf uns.“

Sechs? „Ich hab nur fünf gesehen.“

„Dann hast du dich verzählt“, war alles, was sein Freund erwiderte, während er das Patronenlager seiner .45er kontrollierte.

„ Keiner von ihnen hat eine Waffe, und ihre Waffen sind keine 9-mm-halb-automatischen Pistolen“, sagte Gideon, der Lügner.

Ausgezeichnet. Eine große Ballerei.

Radikal schnitt Paris den Erinnerungsstrom ab, der im Begriff war, sich seinen Weg durch seinen Geist zu bahnen: ohrenbetäubende Schüsse, umherzischende Kugeln, der Schmerzensschrei einer Frau. „Sie haben uns noch nicht gesehen, sonst hätten sie längst geschossen.“

Lucien antwortete nicht. Er war verschwunden, wie immer – im einen Moment noch hier, im nächsten schon woanders. Neben Anya tauchte er wieder auf und sagte etwas, das Paris nicht hören konnte. Anya nickte, und einen Moment später schien sie im Auge eines kleinen, strudelnden Orkans zu stehen. Dann verwirbelte sich der Tornado über ihr und schuf eine dicke Wand zwischen Jägern und Kriegern.

Ein erster Schuss war zu hören, die erste Kugel kam geflogen. Aber sie prallte gegen die Wand aus Wind und fiel nutzlos zu Boden.

Einen Moment später stand Lucien wieder neben ihm. Anya hingegen war nirgends zu sehen. Doch ein Echo ihres Protestgeschreis hing noch in der Luft: „… mich betrogen. Die Wand ist dazu da, euch zu schützen, nicht um mich in Sicherheit zu beamen.“ Er musste sie nach Hause geschickt haben. Oder nach außerhalb der Kuppel, um das Unwetter in Gang zu halten. Ein weiterer Schuss knallte, und einer der Jäger schrie: „Dämonen!“

„Sie sind gekommen“, sagte jemand schadenfroh. „Das muss unser Glückstag sein.“

„Du kennst die Regeln.“

Ein dritter Schuss. Die Windwand hatte sich aufgelöst. Steine barsten, und hinter Paris stieg eine Staubwolke auf, als die Kugel direkt über seiner Schulter einschlug.

„Wir umkreisen sie von beiden Seiten“, sagte Lucien, „und treffen uns in der Mitte, wenn sie alle tot sind.“

„Auf ein fröhliches Blutvergießen“, murmelte Paris, und dann begegnete sein Blick dem von Strider, dessen Augen genauso himmelblau waren wie seine eigenen. Strider war der Träger des Dämons der Niederlage. Er konnte nicht verlieren, ohne dass es für ihn ernsthafte Konsequenzen und unerträgliche Schmerzen mit sich brachte.

„Wir brauchen einen von ihnen lebend, um ihn auszufragen“, mahnte Strider.

„Du verlangst ein Wunder.“

Die Kugeln schlugen jetzt in dichter Folge rund um sie ein. Strider grinste, wobei sein Grinsen ein wildes, ungezähmtes Zähnefletschen war, das so ganz und gar nicht zu seinem Schönlingsgesicht passen wollte. Er deutete auf den ewig stillen, reservierten Amun, der in der rasch einbrechenden Nacht wie ein dünner Strich aussah und sich gerade ein Betäubungsgewehr auf die Schulter setzte.

„Seid ihr da drüben, ihr Feiglinge?“, brüllte ein Jäger.

„Komm und hol uns doch“, brüllte Strider entschieden zurück. „Wenn du kannst.“

Paris nickte in stillem Einvernehmen und steckte seine Pistole zurück ins Holster. Ja, sie sollten einen am Leben lassen. Wenn möglich. Doch er war sich nicht sicher, ob er sich mit einer Halbautomatischen in der Hand daran noch erinnern würde.

Strider setzte sich in Bewegung, hielt sich dabei dicht über dem Boden und verschwand hinter einem Busch. Ein paar Sekunden später hallte ein entsetzlicher Schmerzensschrei unter der Kuppel. Einer war erledigt. Blieben noch fünf.

Paris rückte jetzt auch vor, sein Atem dröhnte in seinen Ohren. Amun hielt mit ihm Schritt, und so huschten sie um Steine und halb zerfallene Mauern und rutschten über den moosbedeckten Boden. Paris sah seine Zielscheibe vor sich – einen Menschen, an dem er auf der Straße vorbeigegangen wäre, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Groß. Durchschnittsgesicht. Durchschnittliche Figur. Nur der drohende, hasserfüllte Blick verriet ihn.

„Ich hab immer gehofft, dir eines Tages gegenüberzustehen. Derjenige zu sein, der dich richtet.“ Lächelnd zielte er mit seiner 9-mm-Pistole auf Paris’ Beine und drückte ab. Dadurch, dass sein Gegner so tief zielte, konnte sich Paris nicht ducken, was – das ahnte er – die Absicht des Jägers war. Die meisten Menschen duckten sich reflexhaft, doch wenn er das jetzt tat, würde ihn die Kugel mitten ins Herz treffen und ihn vorübergehend außer Gefecht setzen. Also sprang er in die Luft, und zwar in einer direkten Attacke auf den Schützen zu. Die Kugel drang in sein Bein ein, was zwar schmerzhaft war, aber keinen weiteren Schaden anrichtete.

Fast im selben Moment landete er auf dem Jäger und riss ihn mit sich zu Boden. Sie klatschten auf die harten Steine und schrammten sich am herumliegenden Geröll die Haut auf. Eine Sekunde später stand Amun neben ihnen, das Betäubungsgewehr im Anschlag, und schoss dem Bastard direkt in den Hals.

Zunächst sah man dem herumstrampelnden Jäger nicht an, dass er getroffen war. Doch als Paris ihm ins Gesicht boxte und ihm dabei die Nase brach, konnte der Mann nicht einmal mehr seinen Arm heben, um den Schaden zu betasten. Schließlich blieb er reglos liegen und Paris erhob sich keuchend.

„Ich hoffe … du leidest …“, brachte der Jäger noch hervor. „Du verdienst es.“ Dann schloss er die Augen.

Um sie herum war die Schießerei noch in vollem Gange.

Strider stand plötzlich neben Paris, abermals grinsend. „Bist du bereit für den Nächsten?“

„Aber sicher.“ Paris verschwendete nicht einen Blick auf seinen pochenden Oberschenkel. Er würde schon noch genug Zeit zum Wundenlecken haben. Dann würde er auch die Kugel herausholen müssen, denn es war leider kein Durchschuss gewesen, wie ihm das Reiben des Metalls in seinem Muskelgewebe verriet.

Und natürlich musste er bald eine Frau finden und sie besinnungslos vögeln.

Früher hätte er bei dieser Aussicht fröhlich vor sich hin gegrinst. Doch mittlerweile hasste er sich immer mehr dafür, hasste die Art und Weise, wie er die Sache anging, und hasste die Frauen, die das akzeptierten. Na, besser eine Frau als ein Mann. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen. So sehr wie er vom Vögeln abhängig war, musste er sehr bald einen Sexpartner finden. Und wenn er keine Frau fand …

„Los, kommt“, knurrte er und begab sich zusammen mit Amun und Strider mitten ins Gemetzel.

Aus seiner Wunde tropfte Blut auf den Boden und hinterließ eine rote Spur, die sich mit den Pfützen von Anyas Unwetter mischte. Seine Beine zitterten so, dass er mehr stolperte als aufrecht ging.

Leider fand er keine weitere Zielscheibe, denn die Jäger waren bereits besiegt – allesamt getötet bis auf einen, und dieser eine schlief. Drei von Paris’ Freunden waren angeschossen, und Lucien musste Gideon wegen seines böse durchlöcherten Magens sogar in die Budapester Burg beamen.

Paris war so erschöpft, dass er zu Boden sank. Seine Hose war durchweicht von Wasser und Blut, was aussah, als hätte er eingenässt, aber das war ihm egal. Ich habe niemanden getötet, dachte er enttäuscht. Wie gern hätte er noch einen Jäger hinter einem Busch hervorspringen sehen und sich mit der Klinge an ihm ausgetobt, bis sich seine innere Unruhe legte.

Während Paris einen Finger auf seine pochende Wunde gepresst hielt, beamte Lucien den noch lebenden Jäger in ihren Kerker in Budapest. Dieser Kerker, jahrhundertelang nahezu ungenutzt, nahm nun fast täglich einen neuen Gefangenen auf, sodass es sich schon fast lohnte, einen roten Teppich auszurollen.

Paris fand die Kugel erst, als Lucien ein paar Minuten später zurückkehrte – blass und zitternd.

„Bist du okay?“, stieß Paris zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Verdammt, tat das weh! Die Kugel war glitschig und rutschte ihm immer wieder zwischen den Fingern durch.

„Er ist aufgewacht und hat sich selbst mit einem kleinen Messer niedergestochen, das er in seiner Tasche trug, bevor ich ihn erledigen konnte. Dabei hat er mich auch erwischt.“ Blut quoll aus einem kleinen kreisrunden Loch an Luciens Hals. „Jetzt muss ich erst einmal die anderen abtransportieren.“ Noch während er sprach, wurden seine Augen glasig, und seine Bewegungen verlangsamten sich.

Tod hatte ihn zur Arbeit gerufen. Und es war überhaupt nicht abzuschätzen, wie lange sein Geist fortbleiben würde, während er und sein Dämon die Seelen in den Himmel überführten. Oder in die Hölle. Seinen Körper hatte er diesmal hiergelassen, wahrscheinlich weil er sich nicht mit dem schmerzenden Hals herumschlagen wollte.

Paris konnte das unmittelbar nachempfinden. Herrje, wie lange würde er noch brauchen, um diese verdammte Kugel aus seinem Oberschenkel zu entfernen?

Als es ihm endlich gelang, sanken seine zitternden Arme schlaff nach unten, wobei ihm das verdichtete Metallstück aus der Hand fiel. Strider ließ sich neben ihn plumpsen und deutete mit dem Kinn auf Paris’ blutende Wunde.

„Vielleicht solltest du deine Reflexe bis zum nächsten Mal etwas trainieren.“

„Fuck you.“

Sein Freund grins te. „Das Angebot ehrt mich, doch ich muss leider ablehnen. Du weißt, dass ich eher auf Frauen stehe.“

Paris legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben in das Gewitter, das immer noch wie eine Kuppel über dem Tempel hing. „Ich bin direkt in meinen Gegner reingesprungen.“

„Macht ja nichts, kann ja nicht jeder so klug und hübsch sein wie ich.“

Da Strider immer das letzte Wort haben musste, biss sich Paris einfach auf die Zunge und verkniff sich jeden Kommentar. Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick über das Gelände schweifen und schaute, womit die anderen gerade beschäftigt waren.

Amun stand etwas abseits und beobachtete, wie üblich. Seine linke Hand war blutverschmiert. Er hatte Glück gehabt, der Bastard: Bei ihm war die Kugel wieder ausgetreten. Luciens Körper stand immer noch reglos aufrecht. Und Sabin polierte seine Messer.

Wie zu Hause.

Paris rieb sich über die Schläfen, um seine aufziehenden Kopfschmerzen zu lindern, und ließ seinen Blick weiter über das Terrain schweifen. Danika lachte …

Paris riss die Augen auf. Was zum Teufel … Danika? Hier? Erschrocken rappelte er sich auf. Sofort war ihm wieder schwindelig, aber er blieb auf den Beinen. In der Spur aus Blut und Wasser zu seinen Füßen flimmerten Bilder wie auf einem Monitor. Einem lebenden Monitor.

„Siehst du das?“

„Was? Wen?“, fragte Strider. „Lucien? Ja, der Kerl hätte seinen Körper mitnehmen sollen. Warum hat er ihn hiergelassen?“

„Nein, das meine ich nicht. Das hier.“ Mit wachsendem Entsetzen deutete Paris mit dem Finger auf den Boden.

Strider hob fragend eine Augenbraue. „Sabin? Yeah. Hässlich wie eh und je, aber deshalb brauchst du doch nicht gleich ein Gesicht ziehen, als müsstest du kotzen.“

„Nein, die Frau.“

Es folgte eine längere Pause. Dann fragte Strider: „Welche Frau?“ Er klang jetzt etwas verwirrt.

Paris war bereits hochgradig verwirrt. Die Bilder waren farbig, und verschiedene Szenen überlagerten sich, als wären mehrere Bildschirme gleichzeitig angeschaltet. Das Einzige, was die Bilder gemeinsam hatten, war die Hauptfigur: die entzückende Danika.

In allen Bildsequenzen drückte sie sich im Schatten herum und verschwendete kaum einen Blick auf ihre Umgebung. Ähnlich wie Amun. In manchen Filmchen tollten ausgelassene Engel herum. In anderen lachten Dämonen ihr schauriges Lachen. In der letzten Szene stand Danika ganz vorn in der Mitte. Ihr linker Arm war ausgestreckt – und auf ihrer Handfläche lag die Büchse der Pandora.

Seit Jahrtausenden hatte er die Büchse nicht gesehen, aber er erinnerte sich an jedes Detail, an jedes eingearbeitete Juwel, an jede einzelne Facette des Objektes, das ihren Niedergang eingeleitet hatte. Die Büchse hatte sich nicht im Geringsten verändert. Die Elfenbeinknochen der Göttin der Unterdrückung waren so miteinander verbunden, dass sie ein Quadrat formten – ein erstaunlich kleines Quadrat, in dessen Zentrum Rubine, Smaragde, Diamanten und Saphire funkelten.

Als Promiskuität bemerkte, was er da anstarrte, brüllte er auf und toste durch Paris’ Geist, so verzweifelt drängte es ihn, das Ding zu zerstören, dem er seine lange, qualvolle Gefangenschaft in Paris’ Körper zu verdanken hatte.

Zertrümmere die Büchse, zertrümmere sie!

„Kann ich nicht. Sie ist nicht real.“

Der Dämon hörte nicht auf ihn. Zertrümmere sie.

Trotz des Gebrülls im Inneren seines Kopfes humpelte Paris näher heran. In der besagten letzten Szene streckte Danika ihren Arm mit der Büchse aus, als wolle sie ihm die Büchse anbieten. Sie winkte ihm sogar zu.

Sein Kiefer klappte herunter, seine Schmerzen waren vergessen. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?