3. KAPITEL
Ich weiß, wo deine Frau ist.“
Reyes richtete sich auf dem Sofa auf, die Spitze seines Messers steckte in seinem Arm. Er drückte es tiefer hinein, so tief, dass er ein paar Adern durchtrennte. Aber die Wunde würde nur allzu schnell wieder verheilt und die Einstichstelle verschorft sein. Bereits jetzt war das Blut auf seiner Haut getrocknet.
Erst vor drei Tagen war er vom Dach gesprungen und doch schon wieder so weit hergestellt, dass er laufen konnte. Leider. Schmerz war lauter und fordernder denn je, er wollte irgendetwas – aber was, das wusste Reyes nicht. Der Sprung hatte ihm jedenfalls in keiner Weise weitergeholfen.
Als er sich die Klinge unsanft aus der Haut zog, fügte er sich eine weitere Verletzung zu. Er leckte sich über die Unterlippe und versuchte den Schmerz zugenießen. Aber auch diese Wunde verheilte zu schnell. Ein Stich reicht nicht. Nichts ist genug.
„Hast du mir nichts zu sagen?“
„Du bist genauso mies wie Gideon.“ Er warf einen raschen Blick zu Lucien hinüber, der in der Türöffnung stand. Die dunklen Haare des Kriegers fielen in weichen Wellen auf seine Schultern, seine verschiedenfarbigen Augen funkelten erwartungsvoll.
„Als würde ich lügen.“
Sie waren allein im Freizeitsalon. Paris, den man eigentlich immer dort antraf, weil er nonstop Pornos guckte, war ausnahmsweise nicht da, sondern in der Stadt – ein paar Frauen flachlegen. Um bei Kräften und in Form zu bleiben. Und auch Maddox und sein Mädchen, Ashlyn, lagen im Bett. Wie immer.
Sabin und die anderen Krieger waren in der Küche, die Reyes schon seit Langem nicht mehr betreten durfte, weil er immer auf den Tisch blutete. Sie waren dabei, einen Plan auszuarbeiten, wie sie den Tempel der Unaussprechlichen in Rom stürmen konnten, ohne dass die Menschen ihre Anwesenheit bemerkten.
Reyes bezweifelte, dass der Tempel ihnen den Weg zum Allsehenden Auge, zum Tarnumhang oder dem Meißel – was immer das sein mochte – weisen würde, aber er stand mit dieser Meinung allein da, also hielt er den Mund. Trotzdem wusste er, dass er recht hatte. Wenn es in diesem Tempel außer bröckelnden Felsen, Moos und Muschelschalen etwas zu finden gäbe, hätten sie es längst gefunden. Außerdem hatte ihnen der Zwangskäfig, den sie bei der Durchsuchung des Tempels aller Götter entdeckt hatten, bei ihrer Suche nach Pandoras Büchse auch nicht weitergeholfen.
Klar, es war ganz praktisch, den Käfig zu besitzen. Jeder, den man dort hineinsperrte, wurde auf wundersame Weise gezwungen, das zu tun, was der Käfigbesitzer verlangte. Aber wen sollten sie darin einsperren? So lange, bis sie hierauf eine Antwort gefunden hatten, würden Lucien und Anya mit dem Käfig spielen wie zwei unartige kleine Kinder.
„Reyes“, sagte Lucien. „Hallo, wir sprechen gerade über Danika.“
„Nein, tun wir nicht.“ Er hätte sie am liebsten für immer aus seinen Gedanken verbannt, glaubte aber langsam, dass sie zu einem festen Bestandteil von ihm geworden war. Wie sein Dämon. Nur schlimmer. Sie hatte seine kostbare innere Ruhe zerstört. Diese Ruhe wollte sich einfach nicht mehr einstellen, selbst dann nicht, wenn er verletzt im Bett lag und mit wild pochendem Herzen wundervolle Höllenqualen litt.
„Soll ich dir sagen, was ich über sie weiß?“, fragte Lucien.
Lass dich nicht ködern. Es ist besser, wenn du nichts weißt.
Wenn Reyes seinem Dämon nicht beständig körperliche Qualen lieferte, geriet dieser außer Kontrolle und forderte sein Maß an Schmerz blindlings und extrem vehement ein. Und zwar nicht nur von Reyes selbst, sondern auch von anderen – egal, von wem. Das war einer der Gründe, warum er Danika fortgeschickt hatte. Wüsste er, wo sie sich aufhielt, würde er ihr zwangsläufig irgendwann irreparablen Schaden zufügen.
„Erzähl’s mir“, hörte er sich mit heiserer Stimme sagen.
„Vor drei Tagen ist sie mit einer Waffe auf einen Mann losgegangen.“
Was? Dieser süße kleine Engel sollte einem anderen Menschen wehgetan haben? Reyes prustete los. „Also bitte, jetzt weiß ich ganz sicher, dass du lügst.“
„Wo ich dich noch nie im Leben belogen habe?“
Das stimmte, Lucien hatte ihn noch nie angelogen. Reyes schluckte die aufsteigende Magensäure herunter und fragte mit angespannter Stimme: „Woher weißt du, dass sie ihn verletzt hat?“
„Mehr als verletzt. Sie hat ihn getötet. Und es kommt noch besser: Als ich gerufen wurde, um seine Seele abzuholen, sah ich das Zeichen der Jäger auf seinem Handgelenk.“
„Was?“ Reyes war mit einem Satz auf den Füßen, rasend vor Wut. Die Jäger hatten Danika gefunden? Sie war gezwungen worden, einen von ihnen umzubringen? Seine Zweifel und seine Ungläubigkeit – ein instinktiv errichteter Schutzwall gegen die furchtbare Nachricht – waren mit einem Schlag verflogen. Die Jäger hassten ihn. Vielleicht hatten sie Danika hier, in der Burg, gesehen, waren ihr gefolgt und hatten sie gefoltert, um so an Informationen über ihn zu gelangen.
Er knirschte mit den Zähnen vor Zorn. Diese Arschlöcher! Sie waren so vernagelt zu glauben, alles Böse der Welt sei einzig und allein auf die Dämonen zurückzuführen. Und da sie die Dämonen nicht ohne die Krieger auslöschen konnten, die sie beherbergten, waren sie so fanatisch hinter ihnen her. Entsprechend würden sie sicher auch nicht lange fackeln, all diejenigen umzulegen, die sie als Freunde der Krieger ansahen.
Dass Danika gar nicht seine Freundin war, wussten die Jäger ja nicht. Vielleicht hatten sie sogar vor, sie als Köder zu benutzen, in der Hoffnung, er käme aus der Deckung, wenn sie ihn mit Danika aus der Reserve lockten.
Von daher änderte diese neue Information über Danika alles.
„Ist sie verletzt? Haben sie sie angefasst?“ Er tastete nach seinem zweiten Messer, bevor er realisierte, was er da überhaupt gerade tat: Er bereitete sich auf den Kampf, auf einen Krieg vor.
Lucien fuhr mit seiner Geschichte fort, als hätte Reyes überhaupt nichts gesagt: „Als ich die Seele des Jägers zur Hölle geleitet habe, konnte ich seine letzten Taten vor meinem inneren Auge sehen.“
„Ist … sie … verletzt?“ Reyes musste die Wörter geradezu durch seine zusammengebissenen Zähne pressen.
„Ja.“
Ein jäher Schmerz bohrte sich mit spitzen Krallen in die Innenseite seines Schädels. „Ist sie …?“ Reyes presste die Lippen aufeinander. Er brachte das Wort nicht heraus. Er konnte nicht einmal den Gedanken zu Ende denken.
„Nein“, antwortete Lucien. „Sie ist nicht tot.“
Den Göttern sei Dank. Reyes’ Wut wich einer unsagbaren Erleichterung, und er ließ seine angespannten Schultern sinken. „Waren noch andere Jäger beteiligt?“
„Ja.“
Wieder antwortete Lucien nicht ausführlicher.
„Wie viele?“
„Einer. Sie hat ihm die Nase gebrochen.“
„Vorsätzlich?“, fragte er schockiert.
„Ja.“
Die Danika, an die sich Reyes erinnerte, war sanft und weich gewesen. Was er von der Tigerfrau denken sollte, von der er jetzt hörte, wusste er noch nicht, aber er war sich sicher, dass sie furchtbar unter ihren Taten litt.
„Wo ist sie jetzt?“ Er würde sie aufsuchen, schauen, wie es ihr ging, eine Möglichkeit finden, sie vor weiteren Attacken der Jäger zu schützen, und dann würde er wieder verschwinden und sie in Ruhe lassen. Er würde es sich verbieten, bei ihr zu bleiben, ja, er würde noch nicht einmal mit ihr sprechen. Aber sehen musste er sie, er musste sich einfach davon überzeugen, dass sie lebte und dass es ihr gut ging.
Danach würde er den anderen Jäger, der für ihre Qualen verantwortlich war, aufspüren und töten. Eine gebrochene Nase reichte als Vergeltung nicht aus.
Lucien gab keine Antwort. „In weniger als einer Woche reisen wir nach Rom, um den Tempel noch einmal zu durchsuchen. Wir brauchen diese Artefakte.“
So stellten sie sich das also vor. „Ich weiß.“
„Und ich will, dass Aeron hierher gebracht wird, bevor wir aufbrechen.“
„Dann willst du also unser gesamtes Leben hier in Gefahr bringen. Du willst Aerons Wünsche ignorieren, damit sich deine eigenen Vorstellungen erfüllen.“
„Er ist einer von uns. Er braucht uns jetzt mehr denn je.“
Reyes ging an Lucien vorbei aus dem Raum. Seit Anya und Ashlyn bei ihnen eingezogen waren, war aus der alten bröckelnden Festung ein Zuhause geworden. Aus bunten Blumenvasen quollen üppige Sträuße, und die Wände waren mit Gemälden und Drucken (hauptsächlich von nackten Männern) bestückt, die Anya – mit ihrem Sinn für schwarzen Humor –gestohlen hatte. Auch die Möbel waren neu: Willkürlich zusammengewürfelte Sofas waren durch vornehme Ledergarnituren ausgetauscht worden. Aufwendig geschnitzte und polierte Truhen, metalleingefasste Sitzbänke und jede Menge Clubsessel mit weichen Kissen füllten die Räume und zierten die Gänge. Anfangs hatte er die beiden Frauen argwöhnisch beäugt, doch jetzt konnte er sich ein Leben ohne sie kaum noch vorstellen. Sie kamen ihm wie Anker in einem schrecklichen Sturm vor.
Die Schritte seiner schweren Stiefel hämmerten durch das Treppenhaus. Er stürmte um die Ecke im dritten Stock – und blieb abrupt stehen. Lucien wartete an der Tür zu seinem Zimmer – mit entschlossenem Gesichtsausdruck.
Tod musste nur an einen Ort denken, um sich umgehend dorthin zu beamen.
„So schnell gebe ich nicht auf“, sagte Lucien. „Und eigentlich müsste dir das gefallen: Denn ich würde auch im umgekehrten Fall, wenn es um dein Leben ginge, nicht aufgeben.“
Mit finsterem Blick setzte sich Reyes wieder in Bewegung. Er drängte Lucien mit der Schulter zur Seite und stieß die Tür zu seinem Zimmer auf. Dort marschierte er geradewegs zu dem Versteck mit seinen Lieblingswaffen.
„Die anderen denken genauso wie ich und ärgern sich über deine Weigerung, das Thema Aeron auch nur anzusprechen. Ich hab sie gebeten, mir noch ein paar Tage zu geben, um dich zur Besinnung zu bringen. Danach …“
Danach würden sie ihm an die Gurgel gehen. Sie glaubten, er hätte Aeron zugunsten von Danika fallen lassen, wo doch das ungeschriebene Gesetz lautete, dass ein Krieger das Wohl einer Frau nicht über das eines anderen Kriegers stellen durfte. Niemals. Reyes verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass auch Maddox sich für Ashlyn und Lucien sich für Anya entschieden hatte. Und er wollte auch nicht noch einmal daran erinnern, dass Aeron den Tod ganz bewusst einem Leben in Unwürde vorziehen würde – einem Leben als Monster, zu dem er mutiert war – und dass er, zurück auf der Burg, nur leiden würde. Reyes schwieg, weil es nichts bringen würde, darauf herumzureiten, aber auch – und das war vielleicht noch schlimmer –, weil ein Teil von ihm genauso fühlte wie Lucien.
Reyes nahm seine Sig Sauer und überprüfte das chromüberzogene 20-Patronen-Magazin. Voll. Sehr gut.
„Du willst sie also auf Biegen und Brechen finden?“
„Ja.“ Reyes steckte drei weitere noch verpackte Magazine und eine Schachtel .45er-Patronen ein. An seinen Fußgelenken waren bereits Dolche und an seinem Gürtel Wurfsterne befestigt.
„Du weißt nicht, wo du suchen sollst.“
„Das hält mich nicht auf. Ich werde sie finden.“
Lucien seufzte vernehmlich. „Ich könnte dich zu ihr bringen. Du könntest innerhalb weniger Sekunden bei ihr sein und sie retten.“
Sie retten. War das das Eingeständnis, dass sie in Gefahr war, oder bloß ein Trick? Reyes schnallte sich die Pistole auf den Rücken und ließ seine Handflächen über die samtbezogene Tischplatte gleiten. Lange schwieg er, den Kopf gesenkt, und überdachte seine Möglichkeiten. Sollte er seine Zeit mit der Suche nach Danika verschwenden oder Aeron befreien, der vielleicht schon längst ihr Blut auf der Zunge schmeckte?
Keine der beiden Alternativen kam ihm sonderlich verlockend vor.
Reyes stöhnte, und es klang wie ein Echo zu Luciens Seufzern. Sein Kingsize-Bett stand auf der linken Seite des Zimmers, riesig groß, mit zerknitterten Laken. Seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich Danika jede Nacht in dieses Bett geträumt, mit ihrem wallenden blonden Haar und einem Körper, der vor Begierde glitzerte. Ihre perlmuttfarbenen Brustwarzen streckten sich sehnsüchtig seiner Zunge entgegen. Zwischen den gespreizten Beinen war sie feucht.
Manchmal wurden seine Fantasien jedoch von seiner größten Angst überlagert, von blutigen Bildern des Todes. Danika mit durchgeschnittener Kehle, ihr nackter Körper blutverschmiert, regungslos. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Albtraum Wirklichkeit wurde, würde mit Aerons Freilassung wachsen. Du weißt, dass du ihn nicht ewig eingesperrt halten kannst. Lass ihn frei und dann rette und beschütze sie.
Sie zu beschützen hieße jedoch, in ihrer Nähe zu bleiben, anstatt sich, wie geplant, möglichst weit von ihr zu entfernen. Das wiederum hieße, dass Danika zwangsläufig auch in engen Kontakt zu dem blutrünstigen Aeron geraten würde. Ein gefährlicher, aber auch ein süßer, berauschender Gedanke – zart wie die Berührung eines Lovers, wenn Reyes denn Gefallen an Zartheit hätte finden können.
Danika hierzuhaben … sie im Arm zu halten … Er sah ihr engelhaftes Gesicht vor sich. Die großen grünen Augen, in denen sich eine ganze Bandbreite von Gefühlen spiegelte, wenn sie ihn ansah: Angst, Hoffnung, Hass … und Begierde? Ihre kleine freche Nase. Die vollen rosigen Lippen, die ihn zu ewigem Schmoren in der Hölle verfluchten, während sie gleichzeitig die süßeste Verzückung versprachen. Der zarte, wohlgeformte Körper, der sich nach der Berührung eines Mannes sehnte.
Er schloss die Augen und hatte plötzlich ihren Duft in der Nase, diesen Duft nach stürmischen Nächten und Unschuld, versetzt mit der Süße des Zuckers und etwas Dunklem, Gefährlichem. Er zog die Augenbrauen hoch. Dunkel? Gefährlich? Beides war sie vorher nicht gewesen.
„Gib mir deine Hand“, bat Lucien, der plötzlich vor ihm stand und seinen warmen Atem über Reyes’ Wange blies.
Reyes blinzelte überrascht, als er seinem Freund so plötzlich gegenüberstand. Er vertraute diesem Mann und respektierte ihn, und trotzdem hatte er ihn in den letzten Tagen so bitter enttäuscht. Obwohl er nicht wusste, was Lucien vorhatte, streckte er ihm seine Hand entgegen. Vorbehaltlos.
Ohne seinen hypnotisierenden Blick von Reyes zu lösen, schlang Lucien seine Finger um die Hand seines Freundes.
Im Moment des Kontakts schoss eine Art Blitz durch Reyes’ Körper. Jeder noch so kleine Muskel zuckte, als wäre er an einen Stromgenerator angeschlossen. Um Reyes herum breitete sich Wärme aus und zog sich immer enger um ihn, wie ein Python, bis er am Ende kaum noch atmen konnte. Herrlich, dieser Schmerz! Er presste die Augenlider zusammen und genoss einfach nur. Sein Dämon schnurrte vor Behagen.
Ein paar Herzschläge lang setzte sein Verstand aus, als wäre er in ein dunkles Tuch gehüllt. Dann erschienen plötzlich nadelstichgroße Lichtpunkte, die sich immer weiter ausdehnten, bis sich schließlich ein unscharfes Bild, eine vage Silhouette abzeichnete. Und dann plötzlich konnte er Danika sehen. Sie lag auf einem Bett, so wie er sie sich die ganzen letzten Wochen vorgestellt hatte. Außer dass sie nicht als laszive Schönheit dalag und auf erotische Vergnügungen wartete. Sie war an das Bett gefesselt, und ihre ehemals blonden Haare waren abgeschnitten und gefärbt.
Sie zitterte. Tränenspuren zeichneten sich auf ihren Wangen ab, und ihre Unterlippe blutete, vermutlich, weil sie sich heftig daraufgebissen hatte. In diesem Moment gebärdete sich seine Wut wie ein weiterer innerer Dämon. Danika war eine Frau, die für das Licht und die Freude gemacht war, nicht für Dunkelheit und Angst.
„Sie sieht nicht gut aus.“ Lucien ließ Reyes los und trat ein paar Schritte zurück. Die Vision von Danika nahm er mit sich. „Je länger sie in ihren Händen ist, desto mehr Schaden können sie ihr zufügen. Ich bin dem Körper des toten Jägers zu einem Bestattungsinstitut gefolgt, habe meinen Geist dort verweilen lassen und mir die Jäger angeschaut, die den Toten aufgesucht haben. Ahnungslos haben die mich dann zu Danika geführt. Sie wissen, dass sie ihren Freund getötet hat. Offensichtlich haben sie sie seit der Nacht, in der sie zugestochen hat, in ihrer Gewalt. Sie haben sie an ein Bett gekettet und in tiefen Schlaf versetzt. In ihrem jetzigen Zustand ist sie nicht in der Lage, sich zu wehren, sie ist vollkommen hilflos und verletzlich, sie ist eine …“
„Ja!“ Reyes ließ seine Waffe fallen. „Ja“, keuchte er. Er musste nicht länger darüber nachdenken, was er zu tun hatte. „Du gibst mir Danika, und ich gebe dir Aeron.“ Vielleicht war das ein Ausweg aus seinen inneren Qualen: Er konnte Danika retten, sie beschützen und gleichzeitig Aeron helfen, zu seinem früheren Ich zurückzufinden, indem er ihm vor Augen hielt, wie er früher einmal gewesen war. Wie er Letzteres anstellen sollte, war ihm momentan allerdings noch nicht klar. „Du musst mir aber dein Wort geben, dass Aeron, wenn er erst einmal wieder hier ist, die Ruhe und Abgeschiedenheit bekommt, nach der er sich so sehnt.“
„Das verspreche ich dir.“ Lucien nickte grimmig. „Du solltest noch wissen, dass ich mich auf das Ganze nur deshalb einlasse, weil Anya glaubt, Danika könnte uns zu einem der Artefakte führen. Wenn die Frau erst einmal hier ist, werde ich sie benutzen, um die Artefakte zu finden, das kannst du mir glauben.“
„Und du solltest noch wissen, dass ich nicht weiß, wie ich reagiere, wenn du sie in Gefahr bringst. Ich bin nämlich nicht ich selbst, wenn sie in meiner Nähe ist.“ Schon jetzt ließ ihn der Gedanke daran wild werden. „Und nun führe mich zu ihr.“
„Aber erst musst du mir versichern, dass du eines verstanden hast: Vielleicht retten wir sie nur, um sie später zu verlieren. Nicht dass du mir dann Vorwürfe machst …“
„Sie wird nicht sterben.“ Nicht wenn er sich ihrer annahm. „Und jetzt kein langes Gerede mehr. Bring mich zu ihr.“
Habe ich etwa um mein Leben gekämpft, nur um es jetzt so zu verlieren? Danika lachte bitter auf. Sie war gerade erst aufgewacht und hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war und was sie mit ihr angestellt hatten. Aber sie wollte es sich auch gar nicht ausmalen – sie hätte sich sonst wohl direkt übergeben.
Nach der … der … der Attacke – oh Gott, bitte nicht daran denken – war sie zu ihrer schäbigen kleinen Wohnung gerannt, um ihre Sachen zusammenzuraffen. Ein Fehler. Sie hätte die Pistole und ihre Klamotten einfach zurücklassen sollen, aber sie wusste, dass sie es sich ohne ihren Tageslohn nicht leisten konnte, neue Sachen zu kaufen. Und da sie die Kunst des Diebstahls noch nicht risikolos beherrschte, hatte sie geglaubt, keine andere Wahl zu haben.
Doch zu Hause wartete bereits eine Gruppe von Männern auf sie. Sie standen im Schatten neben der Feuerleiter, so als wüssten sie genau, welchen Weg sie meistens wählte. So als hätten sie sie bereits tagelang beobachtet und ihre Gewohnheiten ausgekundschaftet.
Einen oder zwei von ihnen hätte sie vielleicht überwältigen können. Womöglich sogar drei. Aber sie waren zu sechst gewesen, alle mit derselben eintätowierten Acht am Handgelenk – so wie der Mann, den sie … den sie … nicht einmal jetzt mochte sie den Gedanken zu Ende denken. Sie hatten dasselbe Tattoo wie der Mann, der in der schmutzigen Gasse ums Leben gekommen war. Sie hatten sie überwältigt und dann bewusstlos geschlagen.
Nie wieder hilflos, hm?
Als sie vorhin zum ersten Mal ihre Augen aufgeschlagen hatte, hatte sich ihre Hoffnung, dass die Männer Polizisten seien und sie vielleicht auf Kaution freikäme, sofort in Luft aufgelöst. Polizisten ketteten Frauen nicht an fremde Betten. Aber wer waren diese Männer? Und was wollten sie von ihr?
Nichts Gutes, so viel war wohl klar. Panik erfasste sie und ließ ihr das Blut gefrieren. In ihren Ohren schrillten tausend Alarmglocken. Ihr Kiefer tat weh von dem Schlag, den sie ihr verpasst hatten. Ihre antrainierte Kraft war auf ein Nichts zusammengeschrumpft, und ein schrecklicher Hunger nagte an ihr. Und sie hatte Probleme, Luft zu bekommen, denn ihr Hals war wie zugeschnürt.
Gib bloß keinen Laut von dir. Die Ketten waren kalt und schwer und scheuerten. Sie zerrte an ihnen, während sie hektisch durch den Raum blickte. Er war hübsch eingerichtet, mit dick gepolsterten Stühlen, bunten Kissen und einem Mahagoni-Waschtisch, über dem ein eckiger Spiegel mit vergoldetem Rahmen hing.
Hat Reyes wohl etwas damit zu tun?, fragte sie sich und wusste nicht recht, was sie von diesem Gedanken halten sollte. Er jedenfalls hatte es ihr auch immer hübsch und komfortabel eingerichtet.
Nein, Reyes hat nichts hiermit zu tun, sagte sie sich im nächsten Moment. Er war nicht der Typ Mann, der andere vorschickte, um die Drecksarbeit zu erledigen. Er wäre selbst dabei gewesen, hätte sie selbst überwältigt. Aber wer steckt dann dahinter?, fragte sie sich wieder. Offenbar Freunde des Typen, den sie … verletzt hatte. Diese Tattoos …
Wollten die Männer sie dafür bestrafen, dass sie ihren Freund verletzt hatte? Hatten sie vor, sie zu vergewaltigen? Sie zu foltern? Oh Gott. Hielten sie sie vielleicht auch für eine Nutte und wollten sie jetzt für sich anschaffen lassen?
Tränen brannten ihr in den Augen. Sie war ganz allein, vollkommen auf sich gestellt. Wieder begann sie an den Ketten zu zerren, minutenlang machte sie sich an ihnen zu schaffen. Sie schwitzte, und der Schweiß durchfeuchtete das Laken unter ihr. Je mehr sie sich bewegte, umso stärker verrutschten ihre Kleider, sodass sie sie nicht mehr vor den Metallketten schützten. An ihren Hand-und Fußgelenken zeigten sich bereits erste blutende Scheuerstellen.
Plötzlich klopfte es.
Kurz setzte ihr Herzschlag aus. Sie biss sich auf die Lippen, um ein Wimmern zu unterdrücken, zwang sich zu absoluter Ruhe. Sollte sie sich schlafend stellen?
Dann wurde die Tür knarrend aufgestoßen, und ein großer, durchschnittlich aussehender Mann stand in der Türöffnung. Es gelang ihr nicht, ihre Augen geschlossen zu halten. Es ging nicht anders – sie musste ihn einfach anstarren, ihn von Kopf bis Fuß taxieren. Er trug ein weißes Hemd mit Knopfleiste und eine schwarze Hose. Er wirkte wie Ende dreißig, hatte braune, zurückgekämmte Haare und große Augen, die so grün waren wie ihre. Er sah eindeutig eher nach einem Geschäftsmann als nach einem Mörder aus. Ruhig, fast sogar freundlich.
Doch das minderte ihre Panik nicht.
Hektisch schluckte sie den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Gib bloß keinen Laut von dir. Sie biss sich von innen in die Wange, bis sie Blut schmeckte. Zeig deine Angst nicht. Langsam und bewusst atmete sie ein und aus.
„Gut. Du bist wach.“ Und fast nahtlos fügte der Mann hinzu: „Entspann dich, Kleine, ich habe nicht vor, dir wehzutun.“
„Dann nehmen Sie mir die Ketten ab.“ Ihr flehender Ton machte all ihre Anstrengungen zunichte, stark und gefasst zu wirken.
„Tut mir leid.“ Er klang aufrichtig bekümmert. „Die Ketten sind notwendig.“
„Lassen Sie mich einfach gehen und …“
Er hob eine Hand zum Zeichen, dass sie still sein sollte.
„Es tut mir leid, aber wir haben nicht viel Zeit. Mein Name ist Dean Stefano. Meine Freunde nennen mich einfach nur Stefano, und ich hoffe, dass du das auch tust. Du bist also Danika Ford.“
„Bitte, lassen Sie mich gehen.“
„Das werde ich, aber jetzt noch nicht.“ Er zog seine Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch. „Sollen wir nicht endlich zum Kern kommen? Was weißt du über die Herren der Unterwelt?“
Die Herren der Unterwelt? Ging es hier um ihre erste Entführung? Sie stieß ein irres Lachen aus. In was für eine Scheiße hatten Reyes und seine Kollegen sie jetzt wieder geritten?
„Na los, erzähl.“
„Nichts“, sagte sie, weil sie nicht wusste, welche Art Antwort er erwartete. „Ich weiß gar nichts über irgendwelche Herren.“
Seine Augen verrieten seine Gereiztheit. „Wenn du lügst, bringst du dich nur selbst in Schwierigkeiten, Kleine. Also, wir versuchen es noch einmal. Du warst in Budapest mit einer Gruppe von Männern zusammen. Und zwar nicht mit irgendwelchen Männern, sondern zweifellos mit den gewalttätigsten Männern, die die Welt je gesehen hat. Trotzdem haben sie dir nichts angetan. Was bedeutet, dass sie dich als Freundin betrachtet haben.“
„Sie sind Monster“, sagte Danika, in der verzweifelten Hoffnung, dass das genau die Antwort war, die der Mann hören wollte. „Ich hasse sie. Ich weiß weder, warum sie mich entführt haben, noch, warum sie mich wieder haben laufen lassen. Vielleicht einfach aus Spaß.“ Aus jedem ihrer Worte sprach der blanke Hass, es bestand kein Zweifel, dass sie die Wahrheit sagte. „Lassen Sie mich gehen. Bitte. Ich wollte niemanden verletzen … Es war ein Unfall, und ich …“ Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen.
Stefano seufzte. „Wir haben dich mit Drogen vollgepumpt und außer Gefecht gesetzt, solange wir noch nicht wussten, was wir mit dir machen sollten. Du hast uns einen starken Soldaten genommen, Danika, einen unserer besten. Wir vermissen Kevin schrecklich. Seine Frau ist fast besinnungslos vor Schmerz und Trauer. Sie weigert sich zu essen und betet darum, selbst sterben zu dürfen, um wieder mit ihrem Mann vereint zu sein. Findest du nicht, dass du uns etwas schuldest?“
Seine Worte zeigten prompt die gewünschte Wirkung: Danika wurde von Schuldgefühlen überfallen, die sie mehr schmerzten als die Handschellen. „Bitte, ich will einfach nur nach Hause.“ Nicht dass sie noch ein Zuhause gehabt hätte. Sie lachte wieder, fühlte sich ein bisschen wirr im Kopf und zittrig am ganzen Körper. Benommen. „Bitte.“
Doch Stefanos Gesichtszüge wurden keinen Deut weicher. „Die Herren der Unterwelt – Maddox, Lucien, Reyes, Sabin und Gideon –, so nennen sie sich selbst. Soll ich fortfahren? Sie sind Dämonen, Geschöpfe des Himmels und gleichzeitig eine Ausgeburt der Hölle. Wusstest du das?“
Danika blinzelte, der Atem stockte ihr. „Dä…Dämonen?“ Vor ein paar Monaten hätte sie nur mit den Augen gerollt. Jetzt nickte sie. Das erklärte so vieles. Sie hatte gesehen, wie sich die Gesichter ihrer Entführer in Totenschädel verwandelten, wie ihnen Eckzähne wuchsen und ihre Fingernägel zu Klauen wurden. Sie war in den Armen eines geflügelten Mannes durch die Stadt geflogen. Und sie hatte immer wieder Knurrlaute und Schmerzensschreie vernommen.
Dämonen. Wie die in ihren Träumen, ihren inneren Bildern. Hatte sie womöglich immer schon geahnt, vielleicht bereits als junges Mädchen, dass sie irgendwann in Budapest mit Reyes und seinen Freunden zu tun bekommen würde? Und danach mit diesem Mann hier und dessen Freunden? Waren die Albträume, die sie zeitlebens gequält hatten, etwa eine Art Vorbereitung auf das hier gewesen?
„Ja. Oh ja. Du glaubst mir, du erkennst die Wahrheit.“ Mit hasserfülltem Blick kam Stefano auf sie zu. Dieser Hass machte aus dem freundlichen, ruhigen Mann im Nu eine Bestie. „Tod ist ein Dämon. Zerstörung ist ein Dämon. Krankheit ist ein Dämon. Du kannst jede Untat, die jemals auf der Welt begangen wurde, alles Böse, das jemals passiert ist, bis zur Türschwelle dieser Dämonen zurückverfolgen.“
Je näher er kam, desto mehr schrumpfte Danika auf ihrer Matratze zusammen. „Was … was hat das alles mit mir zu tun?“
„Hast du denn noch nie erlebt, dass jemand, den du geliebt hast, gestorben ist? Dass etwas, was du besessen hast, zerstört wurde? Bist du noch nie angelogen worden? Nie krank gewesen?“
„Ich … ich …“ Sie wusste nichts darauf zu erwidern.
„Erkennst du denn noch immer nicht, wie heimtückisch sie sind? Einer dieser Dämonen hat meine Frau verführt. Dabei war sie der aufrechteste, ehrlichste, treueste Mensch, den man sich vorstellen kann, niemals hätte sie mich von sich aus betrogen. Und doch ist es diesem verdorbenen Dämon gelungen, sie in sein Bett zu locken und auch noch davon zu überzeugen, dass sie böse ist und deshalb sterben muss. Also hat sie sich umgebracht, hat sich an einem Balken in unserer Garage erhängt. Ich hab sie dort gefunden.“ Mit jedem Wort wurde seine Stimme schärfer. Sein angespannter Kiefer schien wie aus Stein gemeißelt.
Danika kannte den Schmerz, der einen schier umwarf, wenn man einen geliebten Menschen tot auffand. Sie war diejenige gewesen, die ihren Großvater nach seinem Herzinfarkt entdeckt hatte, und der Anblick seines bleichen, leblosen Körpers verfolgte sie immer noch und überlagerte ihre Erinnerungen an den vitalen Menschen, der er vorher gewesen war. „Der Tod Ihrer Frau tut mir schrecklich leid.“
Stefano schluckte und schien einige Mühe zu haben, sich wieder zu sammeln. „Ihr Verlust hat meinem Leben einen neuen Sinn gegeben – ein Lebensziel, das ich mit Tausenden von anderen Menschen rund um den Globus teile. Die Herren der Unterwelt verkörpern die Dunkelheit – und wir das Licht. Und wir sind nicht dafür geschaffen, das Böse zu ertragen, das sie in der Welt verbreiten. In unserer Welt“, fügte er hinzu. Dann schloss er die Augen, als würde er den süßen Geschmack seiner Hoffnung genießen. „Sobald wir die Herren erst einmal gefangen und das Böse, das sie beherbergen, ein für alle Mal weggesperrt haben, wird die Welt wieder sein wie in ihren Anfängen: wunderschön … und friedlich. Einfach perfekt.“
Lass ihn reden. Das lenkt ihn von dir ab. „Warum sie nur fangen, warum nicht töten?“
Ganz langsam öffnete er die Augen, und der verklärte Ausdruck verflüchtigte sich. Er starrte sie an, als wolle er ihre Seele auf die Probe stellen. Ein gruseliges Gefühl. „Wenn man sie tötet, setzt man ihre Dämonen frei, die dann ungehindert in die Welt ausschwärmen und dort wüten können. Die Herren der Unterwelt und ihre Dämonen müssen miteinander verbunden bleiben.“ Er zuckte mit den Achseln, als wäre das kein großes Ding, aber seine Augen hatten sich zu Schlitzen so schmal wie Rasierklingen verengt. „Zumindest bis wir die Büchse finden.“
„Die Büchse?“ Danika versuchte entspannt zu wirken, während sie möglichst unauffällig ihr Handgelenk an den Eisenfesseln rieb. Sie waren immer noch zu eng, aber ihre Haut darunter war schon schweißnass. Wenn sie doch nur mit den Händen hinausschlüpfen könnte. Dann könnte sie … Was könnte sie dann? Wegrennen? Ihre Familie wurde von Dämonen gejagt, nicht von Menschen. Würden die, die sie liebte, wirklich jemals wieder in Sicherheit sein?
„Pandoras Büchse“, erklärte Stefano und musterte sie immer noch aufmerksam.
Sie riss die Augen auf und sagte gar nichts. Ist das hier vielleicht auch nur ein Traum? Ein weiterer Albtraum? „Sie machen Witze, oder?“ Ihre Großmutter hatte ihr immer wieder Geschichten über Pandora und deren berüchtigte Büchse erzählt. „Das ist Mythologie. Eine Legende.“
Er verschränkte die Arme über der Brust, wobei sich der Stoff seines T-Shirts so dehnte, dass die Muskeln darunter sichtbar wurden. Offenbar trainierte er genauso wie die Herren der Unterwelt mit Gewichten und Waffen. „Ja, Kleine, und Dämonen gibt’s auch nicht auf der Erde, stimmt’s?“
Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen.
„Ich werde dir jetzt mal eine Geschichte erzählen, okay? Hör gut zu.“
Er machte eine Pause und wartete auf ihre Reaktion. Sie nickte, in der Hoffnung, dass es das war, was er sehen wollte.
Offensichtlich ja, denn er fuhr fort: „Ein paar Hundert Jahre nach Erschaffung der Erde entkam eine Horde von Dämonen aus der Hölle. Es waren die miesesten Kreaturen, die Hades und sein Bruder Luzifer jemals erschaffen hatten. Lebende Albträume, absolut unkontrollierbar. In der Hoffnung, ihre schöne Welt zu retten, fertigten die Götter aus den Knochen der Göttin der Unterdrückung besagte Büchse. Mit List und Beharrlichkeit gelang es ihnen schließlich, die Dämonen einzufangen und in die Büchse zu sperren.“
„Den Rest kenne ich“, flüsterte Danika. Das beengte Gefühl in ihrer Brust war abwärts gewandert und hatte sich in Übelkeit verwandelt.
Stefano zog eine Augenbraue hoch. „Na, dann erzähl mal.“
„Die Götter baten Pandora, die Büchse zu bewachen.“
Er nickte. „Ja.“
„Doch Pandora öffnete sie“, fuhr sie fort, denn so lautete die bekannteste Version der Geschichte. Und dennoch war es nicht die Version, die sie von ihrer Großmutter kannte.
„Nein, hier irrt die Überlieferung.“ Stefano fuhr sich mit der Fingerspitze über das Tattoo auf seinem Handgelenk. „Pandora war eine Kriegerin, die beste weibliche Kriegerin ihrer Zeit. Sie hatte den Auftrag, die Büchse zu bewachen. Um nichts in der Welt, selbst nicht unter Todesandrohung, hätte sie sie geöffnet.“
Wieder zerrte Danika an der Eisenkette, diesmal jedoch nicht ganz so heftig. Wider Willen war sie fasziniert von der Geschichte und lauschte, obwohl sie doch eigentlich nur eines wollte: fliehen. Stefano war gerade dabei, die Version ihrer Großmutter zu bestätigen – eine Version, die sich beträchtlich von der gängigen Legende unterschied. „Und?“
„Die Elitesoldaten der Götter waren sauer, dass nicht sie selbst als Wachposten für die Büchse ausgewählt worden waren. Sie fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt. Und deshalb beschlossen sie, die Götter auf ihren Fehler aufmerksam zu machen. Während der Krieger Paris Pandora verführte, kämpften die anderen ihre Wachen nieder. Am Ende hatten die Krieger gewonnen. Ihr Anführer Lucien öffnete die Büchse und ließ die furchtbaren Dämonen erneut auf die unschuldige Welt los. Wieder regierten Tod und Dunkelheit.“
Danika sackte auf ihrer Matratze zusammen. Sie starrte an die Decke und versuchte sich den schroffen, brutalen Reyes gemäß Stefanos Schilderung auszumalen. Als stolzen und eifersüchtigen Krieger. Komisch, als Danika mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass Reyes sich groß darum scherte, was andere von ihm dachten. Er hatte Befehle gebellt, war griesgrämig und grüblerisch gewesen. „Und weiter?“
„Die Büchse verschwand. Niemand weiß, wohin, und wer sie an sich genommen hat. Die Götter fingen die Dämonen wieder ein und steckten sie mangels Alternative ins Innere der Krieger, die für den ganzen Schlamassel verantwortlich waren. Und dann verbannten sie sie auf die Erde. Die Krieger verloren dabei ihre menschlichen Züge. Sie verschmolzen mit den Dämonen, die sie beherbergten, und begannen unsere Erde in Blut zu tränken. Sie sind unser Fluch, und solange sie frei herumlaufen, wird niemand vor ihnen sicher sein.“ Stefano fuhr sich über den Hals, dann neigte er den Kopf zur Seite und blickte Danika durchdringend an. „Ich hab dich bereits gefragt, aber ich frage dich noch einmal: Kannst du dir eine Welt ohne Zorn, Schmerz, Lügen und Elend vorstellen?“
„Nein.“ Das konnte sie tatsächlich nicht. Seit zwei Monaten kannte sie sogar gar nichts anderes mehr als Elend.
„Die Herren der Unterwelt haben deine Großmutter getötet, Danika. Ist dir das klar?“
„Das können Sie doch gar nicht wissen!“, schrie sie. Wieder versuchte sie die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. „Vielleicht lebt sie noch.“
„Nein, tut sie nicht.“
„Wie können Sie das einfach so behaupten?“ Danikas Stimme war nur mehr ein heiseres Krächzen. „Sie können das doch gar nicht wissen … oder haben Sie etwa … haben Sie …“
„… sie gesehen.“
Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Nein, verdammt noch mal, nein! „Haben Sie?“ Sie hatte so leise gesprochen, dass sie ihre Worte selbst fast nicht hörte, doch sie traute sich nicht, die Frage zu wiederholen.
„Ja und nein“, gab er zu. „Einer meiner Leute hat gesehen, wie der Kerl, der sich Aeron nennt, ihren schlaffen Körper geschultert hatte. Beide sind im Inneren eines Gebäudes verschwunden, ansonsten wäre mein Agent ihnen noch weiter gefolgt.“
Bedauernd kniff sich Stefano in den Nasenrücken. „Anfangs hatten wir geplant, dich zu beschatten und darauf zu warten, dass dich die Herren holen. Wir vermuteten, dass du vorhattest, künftig ihrer Sache zu dienen, und wollten euch eigentlich alle zusammen gefangen nehmen. Aber du warst die ganze Zeit so hektisch auf der Flucht – als ob du versuchtest, sie abzuschütteln. Das hat mich dann doch neugierig gemacht.“
Als wenn sie Interesse an seinen Plänen hätte! War ihre Großmutter wirklich tot? Ein schlaffer Körper war nicht zwangsläufig ein toter Körper. Durchaus möglich, dass Grandma Mallory noch lebte, lachte und munter ihre Lieblingssuppe aß. Sie malte sich das aus und hätte vor lauter Sehnsucht fast laut aufgeschrien.
Doch schon wandelte sich das innere Bild, und plötzlich ragte ein Dolch aus der Brust ihrer Großmutter. Nein! Nein! Sie hätte am liebsten losgeschrien, laut geflucht. Zu heftige Gefühle tun dir nicht gut. Das weißt du. Kein Schwelgen in Erinnerungen mehr, sonst gehst du unter.
Ist doch egal, wenn ich untergehe, dachte sie, nun schon am Rande der Hysterie. Ich komm doch eh nicht hier weg.
„Du kannst uns helfen, sie zu schnappen, Danika. Du kannst dazu beitragen, dass sie anderen Menschen nie mehr das antun können, was sie dir und mir angetan haben. Du kannst sie für das Leid bestrafen, das sie deiner Familie zugefügt haben. Deine Familie müsste nicht mehr rund um den Erdball fliehen. Ihr könntet endlich wieder alle zusammen sein.“
Ohne Grandma Mallory?
Sie konnte ihr Schluchzen nicht länger unterdrücken. Ihr Kinn zitterte und ihre Kiefernknochen schmerzten. Heiße Tränen liefen ihr die Wangen herunter.
„Hilf mir“, sagte Stefano mit ernstem Gesicht, „und im Gegenzug werde ich dir helfen. Ich werde über dich und deine Familie wachen, bis jedes einzelne dieser Monster tot ist. Die Dämonen werden dir nie wieder etwas anhaben können. Ich gebe dir mein Wort darauf.“
Für die Sicherheit und das Wohl ihrer Familie hätte sie ihre Seele zur Not auch dem Teufel verkauft – ohne sich um die Bedingungen des Deals zu scheren. Die Hoffnung, dass Stefano ihrer Mutter und ihrer Schwester helfen könnte, war einfach zu stark. Und ihre Rachsucht zu groß.
„Was soll ich tun?“