2. KAPITEL

Die Bestellung ist fertig.“

Danika Ford griff nach den zwei dampfenden Tellern, die auf die Warmhalteplatte rutschten. Auf dem einen lag ein fettiger Hamburger, reichlich bestückt mit Zwiebeln, auf dem anderen ein Chili-Hotdog mit einer Extraportion Käse. Auf beiden Tellern türmten sich deftige Pommes, deren herrlicher Duft ihr in die Nase stieg. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, ihr Magen knurrte.

Das Letzte, was sie gegessen hatte, war ein Bologna-Sandwich gestern Nacht vor dem Schlafengehen gewesen. Mit schön knusprigem Brot und gut durchgebratenem Fleisch. Was hätte sie jetzt für so ein Sandwich gegeben – wenn sie denn etwas zu geben hätte. Geld, zum Beispiel.

Noch drei Stunden bis zum Ende der Schicht – und zu ihrer nächsten Mahlzeit. Drei zermürbende Stunden noch, in denen sie sich die Füße wund laufen und das Kreuz verbiegen würde. Das packte sie einfach nicht. Sei keine Prinzessin. Kopf hoch, Brust raus, weitermachen. Du bist eine Ford, kein Weichei.

Doch sie konnte sich noch so energisch rüffeln, ihr Blick schweifte sehnsüchtig über die Teller. Unbewusst leckte sie sich die Lippen. Nur ein kleines Stück. Wem würde das schaden? Würde ja keiner merken.

Unwillkürlich hob sie den Arm und streckte die Finger aus …

„Ich hab das Gefühl, dass die sich da gerade meine Fritten klaut“, hörte sie einen Mann tuscheln.

Eine andere Flüsterstimme erwiderte: „Was erwartest du auch von einer wie der?“

Danika erstarrte. Augenblicklich war ihr Appetit verdrängt von einer ganzen Flut von Gefühlen – Traurigkeit, Frust und Verlegenheit. Das ist also aus meinem Leben geworden. Von einer behüteten Tochter zu einer Getriebenen, die sich trostlose Nächte um die Ohren schlägt. Von einer angesehenen Künstlerin zu einer Kellnerin in einem drittklassigen Diner.

„Na, ich bin nicht gerade überrascht, aber …“

„Schau auf jeden Fall nach deinem Portemonnaie, wenn wir aufbrechen.“

Die Worte erfüllten Danika mit Scham. Sie musste die Männer nicht sehen, um zu wissen, dass sie sie mit hartem, abschätzigem Blick musterten. Dreimal waren sie schon ins Enrique’s gekommen, und jedes Mal hatten sie Danikas Selbstachtung einen harten Schlag versetzt. Dabei waren sie nicht einmal unfreundlich, im Gegenteil, sie lächelten immer und bedankten sich höflich, wenn sie ihnen das Essen brachte – aber den angewiderten Ausdruck in ihren Augen konnten sie eben doch nicht ganz verbergen.

Danika nannte sie die Bird Brothers, so sehr hatte sie die beiden gefressen.

Zieh bloß nicht ihre Aufmerksamkeit auf dich, meldete sich ihre Vernunft zu Wort. Der einzige Satz, nach dem sie im Moment lebte.

„Wenn ich dich noch ein Mal beim Essenklauen erwische …“, bellte Enrique, ihr Boss, der nebenbei auch der Koch für die schnellen Gerichte war. „Und jetzt zack, zack! Das Essen wird kalt.“

„Im Gegenteil, es ist noch viel zu heiß. Die werden sich noch verbrennen und dann womöglich prozessieren.“

Die Teller wirkten über die Maßen warm auf ihrer Haut, die schon seit Wochen durchgefroren war. Sogar hier, in der Hitze des Diners, trug sie einen Sweater, den sie für 3,99 $ im Secondhandshop am Ende der Straße erstanden hatte. Doch zu ihrem Erstaunen drang die Wärme der Teller nie bis in ihr Inneres vor.

Irgendwann musste ihr doch mal wieder etwas Gutes widerfahren! Hielten sich nicht Gut und Böse immer irgendwie die Waage? Früher hatte sie das zumindest geglaubt. Da hatte sie sogar gemeint, dass hinter jeder Ecke das Glück lauern würde. Leider hatte sie seitdem einiges dazugelernt.

Hinter ihr, hinter der Fensterfront, die fast spöttisch den Blick freigab auf das nächtliche Treiben von Los Angeles, flitzten Autos und schlenderten Leute vorbei, sorglos und lachend. Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich genauso hier entlangspaziert.

Danika hatte den Job bei Enrique angenommen, weil der sie schwarz bezahlte und keine Sozialversicherungsnummer hatte sehen wollen. Sie arbeitete so viel wie möglich und wurde bar auf die Hand bezahlt, ohne Abzug von Steuern. Und: Sie konnte jederzeit verschwinden, von jetzt auf gleich.

Ob ihre Mutter und ihre Schwester wohl auch so ein Leben führten? Und ihre Großmutter, falls sie überhaupt noch am Leben war?

Vor zwei Monaten hatten sie alle vier beschlossen, eine ausgedehnte Reise nach Budapest, der Lieblingsstadt ihres Großvaters, zu machen. Magisch hatte er sie immer genannt. Nach seinem Tod wollten sie ihm mit der Reise ein Andenken setzen und sich so endgültig von ihm verabschieden.

Der größte Fehler! Aller Zeiten!

Denn schon kurz nach ihrer Ankunft waren sie entführt und gefangen gehalten worden. Von Unmenschen, im wahrsten Sinne des Wortes. Von richtigen, wahrhaftigen Monstern. Monstern, nach denen der Schwarze Mann wahrscheinlich ängstlich die dunklen Ecken seines Hauses absuchte, bevor er sich zu Bett legte. Kreaturen, die manchmal menschlich aussahen und manchmal nicht ansatzweise – zum Beispiel wenn ihnen Reißzähne und Klauen wuchsen und Totenschädel unter ihrem menschlichen Antlitz hervorleuchteten.

In einem glücklichen Moment war Danika mit ihrer Familie gerettet worden. Doch man hatte sie erneut eingefangen, nur um sie kurz darauf unversehrt wieder freizulassen. Unversehrt, aber gewarnt: Lauf, renn, versteck dich. Schon bald werden sie dich jagen. Und wenn sie dich finden, bist du tot. Genauso wie deine Familie.

Und so waren sie alle vier um ihr Leben gerannt und hatten sich getrennt, in der Hoffnung, dass sie so weniger leicht aufzuspüren wären. Danika war zunächst nach New York gereist, in die Stadt, die niemals schlief, und hatte dort versucht, in der Menschenmenge unterzutauchen. Aber irgendwie hatten die Monster sie aufgespürt. Schon wieder. Wie durch ein Wunder war es ihr abermals gelungen zu entkommen, und sie war ohne Umschweife nach L.A. getrampt, wo sie mit ihrem Job gerade so viel verdiente, dass sie über die Runden kam und ihren Selbstverteidigungskurs bezahlen konnte. Am Anfang hatten Danika und ihre Familie noch jeden Tag telefoniert oder sich zumindest gegenseitig Handynummern von vertrauenswürdigen Freunden hinterlassen. Doch dann ließ plötzlich ihre Großmutter nichts mehr von sich hören. Es kamen einfach keine Anrufe mehr.

Hatten die Monster sie gefunden? Und getötet?

Das letzte Mal, als Danika mit ihr gesprochen hatte, war sie in einer kleinen Stadt in Oklahoma gewesen. Sie hatte dort bei Freunden gewohnt, obwohl sie sich eigentlich immer davor gehütet hatte, allzu lange an vertrauten Orten zu bleiben, aber vielleicht war sie in ihrem Alter des ewigen Herumreisens auch einfach müde gewesen. Jedenfalls hatten selbst diese Freunde schon seit Wochen nichts mehr von ihr gehört. Hatten sie nicht mehr gesehen, seit sie eines Morgens zum Einkaufen aufgebrochen war.

An ihre geliebte Großmutter zu denken und an die Qualen, die sie möglicherweise erlitten hatte, erfüllte Danika mit unendlicher Trauer und unerträglichem Schmerz. Sie konnte noch nicht einmal ihre Mutter oder Schwester anrufen und fragen, ob die vielleicht etwas wüssten, denn ihre Mutter fand es sicherer, wenn sie nicht miteinander kommunizierten. Ihre Gespräche könnten zurückverfolgt werden, hatte sie bei ihrem letzten Anruf gesagt.

Danikas Augen brannten und ihr Kinn zitterte. Nein. Nein! Was ist los mit dir? Sie durfte jetzt nicht an ihre Familie denken. Diese ewige „Was, wenn …“ lähmte sie und würde sie noch verrückt machen.

„Du trödelst“, knurrte Enrique und riss sie damit endgültig aus ihren düsteren Gedanken. „Beweg deinen Arsch, aber ein bisschen plötzlich. Deine Kunden warten, und wenn sie das Essen zurückgeben, weil es kalt ist, dann bezahlst du es, klar?“

Am liebsten hätte sie ihm die Teller vor die Füße geknallt, aber sie konnte sich gerade noch bremsen, setzte ein freundliches Lächeln auf und drehte sich auf dem Absatz um, dass die Sohlen ihrer schäbigen Sneaker quietschten. Während sich in ihrem Magen ein eisiger Klumpen des Grauens zusammenballte, marschierte sie hoch erhobenen Hauptes zum Tisch der beiden Männer. Die beobachteten sie mit stechendem Blick. Mit ihrer Durchschnittskleidung und den unauffälligen Frisuren sahen sie eindeutig nach Mittelschicht aus. So gebräunt und muskulös, wie sie waren, konnten sie gut Bauarbeiter sein. Allerdings kamen sie dann wohl nicht direkt von der Arbeit, denn sie trugen blitzsaubere Jeans und T-Shirts. Einer von beiden fummelte sich mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen herum, je näher sie kam, umso hektischer. Danikas Hände zitterten vor Erschöpfung, aber es gelang ihr, die Teller vor die beiden Männer hinzustellen, ohne ihnen das Essen über den Schoß zu kippen. Eine Locke ihres tiefschwarzen Haares löste sich dabei aus dem Pferdeschwanz und fiel ihr in die Stirn.

Als sie ihre Hände endlich frei hatte, strich sie die Strähne zurück hinters Ohr. BB – bevor Budapest – hatte sie lange blonde Haare gehabt. NB – nach Budapest – hatte sie es auf Schulterlänge kürzen und färben lassen, um ihr Aussehen zu verändern. Ein weiteres Verbrechen, das aufs Konto dieser Unmenschen ging.

„Entschuldigen Sie wegen der Pommes frites.“ Obwohl die beiden Männer sie so unverhohlen verachteten, waren sie doch großzügige Trinkgeldgeber. „Ich wollte mir keinen davon nehmen, sondern lediglich verhindern, dass sie vom Teller rutschen.“ Lügnerin. Großer Gott, früher hatte sie nie gelogen.

„Kein Problem“, meinte Bird Brother Nummer eins, doch seine Stimme klang genervt.

Lasst das Essen nicht zurückgehen, bitte, lasst das Essen nicht zurückgehen. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, es aus eigener Tasche zu bezahlen. „Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?“

„Nein, danke“, antwortete Bird Brother zwei. Wieder waren die Worte höflich gewählt, aber gereizt ausgesprochen. Er griff sich eine Papierserviette, faltete sie auseinander und legte sie sich auf den Schoß.

Danika erhaschte einen Blick auf eine kleine tätowierte Acht an der Innenseite seines Handgelenks. Komisch. Sie hätte dort viel eher eine dunkelhaarige Frau mit einer blutigen Axt oder so im Rücken erwartet.

„Okay, dann rufen Sie mich bitte einfach, wenn Sie noch irgendetwas möchten.“ Danika rang sich ein Lächeln ab, auch wenn sie damit wahrscheinlich aussah wie ein grimmiger Wolf. „Lassen Sie es sich schmecken.“

Sie hatte sich schon umgedreht, als Bird Brother zwei fragte: „Wann haben Sie Pause?“

Huch, was war das jetzt? Wieso interessierte der sich für ihre Pausen? Sie bezweifelte, dass er irgendetwas Romantisches mit ihr vorhatte, denn noch immer musterte er sie mit angewidertem Blick. „Äh, ich mache keine Pause.“

Er steckte sich eine Pommes in den Mund, kaute und leckte sich dann die fettigen Lippen ab. „Wie wär’s, wenn Sie heute mal eine machen würden?“

„Tut mir leid, das kann ich nicht.“ Los komm, weiterlächeln. „Ich hab viel zu tun.“ Sie hätte hinzufügen sollen: vielleicht ein anderes Mal. Immer hübsch freundlich bleiben und ans Trinkgeld denken. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Bloß weg, weg, weg.

Sie drehte sich auf dem Absatz um. Die beiden verschwanden aus ihrem Blickfeld. Abrupt knipste sie ihr Lächeln aus. In wenigen raschen Schritten hatte sie Gilly, die einzige andere Kellnerin erreicht, die mit ihr Schicht hatte. Gilly stand am Tresen und füllte drei Plastikbecher mit verschiedenen Limonaden. Eigentlich hätte sich Danika kurz mit dem Chef, den sie eben noch als Vorwand vorgeschoben hatte, absprechen müssen, aber sie konnte nicht mehr, sie brauchte eine kleine Pause, um wieder Haltung zu gewinnen.

„Großer Gott, Hilfe“, murmelte sie. Sie legte ihre Hände flach auf den Tresen und beugte sich vor. Zum Glück schützte eine halbhohe Trennwand sie vor den Blicken der Gäste.

„Der wird kein Einsehen haben.“ Gilly, eine sechzehnjährige Ausreißerin, die sich als Achtzehnjährige ausgab, warf Danika einen müden, komplizenhaften Blick zu. Sie arbeiteten beide vierzehn Stunden am Tag. „Der hat uns längst abgeschrieben, fürchte ich.“

Ein solcher Pessimismus klang irgendwie falsch und fehl am Platz bei einem so jungen Menschen wie Gilly. „Das will ich einfach nicht glauben.“ Das Lügen war schon so etwas wie ihre zweite Natur geworden. Auch Danika war sich längst nicht mehr sicher, ob Gott sich noch um die Menschen scherte. „Möglich, dass sich schon in wenigen Tagen etwas Wunderbares ereignet.“ Ja. Genau.

„Na, mein kleines Wunder ist, dass die Bird Brothers diesmal wieder in deinem Abschnitt sitzen.“

„Soll das ein Witz sein? Die lächeln dich an, als wärst du die gute Fee, und starren mich an, als wäre ich die böse Hexe. Keine Ahnung, was ich denen getan habe und warum sie immer wiederkommen.“ Bei ihrem zweiten Besuch hatte sie tatsächlich geglaubt, die beiden würden sie geradewegs wieder in den Albtraum zurückschicken, dem sie gerade entkommen war. Aber da sie keine monströsen Züge an ihnen entdecken konnte, hatte sie sich schließlich entspannt.

Gilly lachte: „Willst du, dass ich sie für dich rauswerfe?“

„Na, das wär’s jetzt noch, Gilly. Das ist eine Straftat, und ich glaube, Handschellen stehen dir nicht so gut.“

Gillys Lächeln verschwand. „Ich weiß“, murmelte sie.

Einerseits hätte Danika Gilly am liebsten geraten, nach Hause zurückzukehren. Als behütete Tochter, die sie selbst einmal gewesen war, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass das Zusammenleben mit der eigenen Mutter so schlimm sein sollte. Andererseits hielt sie es inzwischen durchaus für möglich, dass Mütter ihren Töchtern das Leben zur Hölle machten. Dafür hatte sie in der kurzen Zeit hier zu viel Schreckliches gesehen: Frauen mit leerem Blick, die nachts auf der Straße ihren Körper verkauften. Schlägereien. Exzessiven Drogenkonsum. Was auch immer Gillys Mutter getan hatte, um ihre minderjährige Tochter auf die Straße zu treiben – es musste etwas Schlimmes gewesen sein.

Früher einmal hatte Danika sich die Welt als einen wunderschönen und sicheren Ort zum Leben vorgestellt – einen Ort voller Möglichkeiten. Jetzt war sie ernüchtert.

„Gehst du morgen zum Training?“, fragte sie, um das Gespräch in eine unverfängliche Richtung zu lenken. Seit sie hier arbeitete, seit einer Woche, war sie jeden Tag mit Gilly zusammen zu einem Selbstverteidigungskurs gegangen. Sie lernten dort zu treten, zu schlagen und, ja, gegebenenfalls auch mit Präzision zu töten. Neben ihrer Familie war der Selbstverteidigungskurs zu Danikas zweitem Lebensinhalt geworden. Denn sie wollte sich nie mehr in ihrem Leben hilflos fühlen.

Gilly seufzte und sah sie an. Wieder einmal dachte Danika, dass sie zu jung und zart war für das Hundeleben, das sie führte. Gilly hatte dunkles, kinnlanges, vollkommen glattes Haar, große braune Augen und eine honigfarbene Haut. Sie war durchschnittlich groß und hatte eine weibliche Figur. Sie war eine Mischung aus Unschuld und dunkler, verzweifelter Sinnlichkeit – und im Augenblick Danikas einzige Freundin.

„Meine Füße werden mich auf ewig hassen, aber ich gehe trotzdem hin. Und du?“

„Auf jeden Fall.“ Eigentlich war Freundschaft etwas, was sie sich zurzeit gar nicht leisten konnte, aber nach einem Blick auf dieses traurige, tapfere Mädchen hatte Danika sofort so etwas wie Seelenverwandtschaft gefühlt.

„Vielleicht werden wir ja sogar den Trainer wieder bezwingen – Mensch, war das ein Spaß.“

Sie musste kichern, zum ersten Mal seit Ewigkeiten.

„Ja, vielleicht.“

Das Schrillen einer Glocke zerriss das Stimmengewirr, das den Diner erfüllte. Eine weitere Bestellung war fertig. Trotzdem rührte sich keine von beiden vom Fleck.

„Mal ehrlich“, meinte Gilly und stemmte ihre Hand in die Hüfte, „ich bin richtig in Rage geraten, als Charles uns anwies, über ihn herzufallen. Ich hätte ihn echt umbringen können. Und hinterher hätte ich mich fast totgelacht.“

„Mir ging’s genauso.“ Und traurigerweise war das keine Lüge.

„Stellt euch vor, ich wäre euer Feind. Zeigt mir, was ihr schon draufhabt. Los, greift mich an“, hatte Charles gesagt – woraufhin sie beide auf ihn losgegangen waren. Am Ende hatte er mit neunundfünfzig Stichen genäht werden müssen, aber zum Glück war er hart im Nehmen.

Danika hatte sich einfach ihre Entführer vorgestellt, und eine ungeheure Wut hatte sie erfasst. Aeron, Lucien und Reyes – sie schluckte, Reyes! Ihre Peiniger. Männer, die sie eigentlich mit jeder Faser ihres Körpers hassen müsste. Die sie auch wirklich hasste. Bis auf einen. Reyes. Dummes Mädchen.

Von ihm träumte sie, pausenlos. Egal ob sie schlief oder wach war. Er schwirrte ihr im Kopf herum, als wäre sein Name irgendwo dort eingebrannt.

Manchmal besiegte er sogar die Geschöpfe ihrer Albträume. Er griff sie an und kämpfte mit ihnen, bis das Blut in Strömen floss. Und danach kam er mit Wunden und Schmerzen zu ihr. Ohne zu zögern nahm sie ihn in die Arme, und er küsste sie. Langsam, ganz langsam, ließ er seine Zunge über ihren Körper gleiten – und hinterließ auf jedem Zentimeter ihrer Haut Brandmale.

Jede nächtliche Sekunde, die sie mit ihm verbracht hatte, hatte ihre Sehnsucht nach ihm gesteigert, bis er schließlich alles war, was sie wollte und brauchte. Inzwischen war er für sie wichtiger als die Luft zum Atmen. Er war wie eine Droge, und sie befand sich im Zustand schlimmster Abhängigkeit.

Was stimmt nicht mit mir? Er hatte sie und ihre Familie ohne ersichtlichen Grund gekidnappt und in Geiselhaft genommen. Er verdiente ihre Begierde nicht. Warum also sehnte sie sich so verzweifelt nach ihm? Er war attraktiv, sogar gefährlich attraktiv, aber das waren andere Männer auch. Er war stark, aber er hatte seine Stärke gegen sie eingesetzt. Er war intelligent, ließ dabei aber keine Spur von Humor erkennen. Nie lächelte er. Und trotzdem hatte sie noch nie einen Mann so sehr begehrt wie Reyes.

Er hatte genauso dunkles Haar wie Gilly, dunkle Augen und honigfarbene Haut – Honig, gemischt mit geschmolzener Schokolade. Zudem besaß er dieselbe verzweifelte Sinnlichkeit, so als hätte er die schmerzhafteste Seite der Liebe bereits kennengelernt und wäre nun für immer gezeichnet.

Doch hier endeten die Parallelen auch schon. Reyes war groß und hatte die ausgeprägten Muskeln eines Kriegers. Er trug mehr Waffen am Leib als Kleidung – sie waren an seinen Handgelenken, Knöcheln und Oberschenkeln festgeschnallt und baumelten an seiner Taille. Jedes Mal wenn sie ihn gesehen hatte, war er mit Kampfspuren übersät gewesen, mit Prellungen im Gesicht und Schnitten von Kopf bis Fuß, hauptsächlich an Armen und Beinen. Er war Krieger durch und durch.

Das waren sie übrigens alle gewesen, die selbst ernannten „Herren der Unterwelt“ – oder „Herren der Albträume“, wie sie sie genannt hatte, denn ihre allerschlimmsten Träume reichten nicht an diese Männer heran.

Aeron hatte hauchdünne schwarze Flügel und konnte wie ein Vogel fliegen, oder eher wie ein heimtückischer Drache aus dem Märchenbuch. Lucien hatte verschiedenfarbige Augen, die hypnotisierend zu kreisen begannen, bevor er sich in Luft auflöste, als hätte es ihn nie gegeben. Paradoxerweise war er stets in ein Wölkchen süßen Rosendufts gehüllt.

Welche magischen Fähigkeiten Reyes besaß, wusste sie nicht.

Alles, was sie wusste, war, dass er sie einmal gerettet hatte. Dass er ihr zuliebe mit seinem Kriegerkollegen gekämpft hatte. Warum? Darüber hatte sie sich seitdem den Kopf zerbrochen. Warum hatte er seinen Freund verwundet und nicht sie? Warum hatte er sie so angesehen, als wäre sie sein einziger Lebensinhalt? Und warum hatte er sie am Ende wieder freigelassen?

Spielt das eine Rolle? Er ist einer von ihnen. Er ist ein Monster. Vergiss das nicht.

Erneut riss die schrille Klingel sie aus ihren Gedanken. „Mädels!“, brüllte Enrique.

Gilly stöhnte.

Danika massierte sich den Nacken. Ende der Verschnaufpause. Sie richtete sich auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie einer ihrer Gäste mit dem Arm winkte, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Zu Gilly gewandt sagte sie: „Ich bin morgen früh um halb fünf bei dir, okay?“

„Lass uns lieber fünf sagen. Da bin ich zwar auch noch müde, aber startklar.“ Gilly drehte sich um und griff nach den Getränkebechern.

Danika ging wieder nach vorn. Es folgten zehn Minuten, in denen sie die Servietten und Strohhalme ordnete und den Bird Brothers Kaffee holte und einschenkte. Zumindest hielt sie das davon ab, an Reyes zu denken.

Zweimal ließ Bird Brother eins seine Gabel fallen, und sie musste ihm eine neue bringen. Einmal bat Bird Brother zwei, Kaffee nachgeschenkt zu bekommen. Dann brauchte er eine neue Serviette. Als sie endlich versuchte, sich von ihrem Tisch zurückzuziehen, griff Nummer zwei sie beim Handgelenk und hielt sie fest. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Doch sie ließ sich nichts anmerken – jeder verdammte Cent zählt –, fragte nur höflich, ob er noch etwas bräuchte, und löste sich aus seinem Griff.

„Wir würden gerne mit Ihnen sprechen“, sagte er und streckte schon wieder seinen Arm nach ihr aus.

Sie trat ein paar Schritte zurück. Wenn er sie noch einmal berührte, würde sie ihn anschnauzen. Ganz sicher würde sie sich von einem Fremden nicht mehr angrapschen lassen. Um nichts in der Welt. „Worüber?“

Eine Mutter und ihr Kind brachten die Türglocke zum Läuten, als sie das Restaurant betraten.

„Worüber?“, wiederholte sie.

„Über einen Job. Geld.“

Danika riss die Augen auf. Großer Gott! Hielten sie sie etwa für eine Nutte? Das also hatten sie mit „Eine wie die“ gemeint. Komisch, dass sie sie mit Ekel und Verachtung ansahen und offenbar trotzdem ihre Dienste in Anspruch nehmen wollten. „Nein, danke. Mir geht’s gut hier in diesem Job.“ Okay, nicht wirklich gut, aber das musste sie denen ja nicht auf die Nase binden.

„Danika“, rief Enrique. „Hier warten Gäste.“

Die beiden Männer schauten zum Eingang hinüber und runzelten die Stirn. „Später“, sagte Bird Brother zwei.

Schönen Dank auch. Im Ernst. Sie – eine Nutte? Danika, die näher beim Eingang stand als Gilly, ergriff zwei Speisekarten und führte die neuen Gäste an einen Tisch. Sie sahen etwas ungepflegt und hager aus, und ihre Kleidung war fleckig und verknittert. Keine guten Trinkgeldgeber. Trotzdem schenkte sie ihnen ein herzliches Lächeln, in das sich sogar eine Spur Neid mischte.

Sie vermisste ihre Mutter so.

„Was kann ich Ihnen zu trinken holen?“

„Wasser“, sagten sie beide wie aus einem Mund.

In die blauen Augen des Jungen trat ein wehmütiger Ausdruck, als er auf einem der Nachbartische eine übrig gebliebene Limonade entdeckte. Kühle Tropfen perlten an dem Plastikbecher hinunter. Danika legte den Kopf schief, ihr Künstlerauge hatte ein herzzerreißendes Motiv für ein Porträt erkannt. Die Sehnsüchte der Menschen waren so einfach, wenn sie nicht mehr als das Nötigste zum Auskommen hatten.

Aber du wolltest doch nicht mehr malen, weißt du nicht mehr?

Das Malen war ihr in ihrer jetzigen Welt, wo der Tod hinter jeder Ecke lauerte, wie ein unzulässiger Luxus vorgekommen. Außerdem musste sie etwas fühlen, um malen zu können. Natürlich nicht nur Freude. Nein, die Malerei verlangte ein ganzes Spektrum von Emotionen, Wut, Traurigkeit, Wonne, Hass, Liebe, Kummer. Ohne diese Gefühle war das Malen, das wusste sie, ein bloßes Farbenmischen und -auftragen. Aber wenn sie diese Gefühle zuließ, würde sie den Halt verlieren, den sie zum Leben brauchte.

Sie schluckte die Traurigkeit hinunter, die sie sich gerade überhaupt nicht leisten konnte, und reichte den Gästen die Speisekarte. „Ich bin gleich mit den Getränken wieder da. Dann nehme ich Ihre Bestellung auf.“

„Danke“, sagte die Mutter.

Auf dem Weg zur Getränkebar grapschte Bird Brother zwei erneut nach ihrem Arm und umschloss ihn mit festem Griff. Danika erstarrte. Ihre Wut war so groß, dass sie das Gefühl hatte, gleich überzukochen. Und mit dieser Wut wurde sie nicht so leicht fertig wie mit ihrer Traurigkeit, sie war nicht so einfach herunterzuschlucken. Hatte sie sich den ganzen Tag wie unter einer Eisschicht gefühlt, so spürte sie jetzt flammende Hitze auf der Haut.

„Wann sind Sie hier fertig?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hören Sie, es ist nur zu Ihrem Besten. Die Welt ist verdammt schlecht, und wenn man nicht gerade selber zu den Bösen gehört, dann sollte man da draußen nicht alleine herumlaufen.“

„Wenn Sie mich noch einmal anfassen“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne näher auf seine geheuchelte Bestürzung einzugehen, „dann werden Sie es bereuen. Ich bin keine Nutte. Und ich will auch keinen Job, klar?“

Sie befreite sich aus seinem Griff, während er und sein Kumpel sie noch anglotzten, und stolzierte davon, bevor sie sich zu irgendeiner Dummheit hinreißen ließ. An der rückwärtigen Getränketheke zapfte sie mit zitternden Händen die Getränke für die Mutter und ihren Sohn. Ihr Herz trommelte in ihrem Brustkorb. Du musst dich beruhigen. Tief einatmen, tief ausatmen. Ja, richtig so. Schließlich lockerte sich der Schraubstockgriff ihrer Muskeln um ihre Knochen.

Auf dem Rückweg zu Mutter und Kind machte sie einen großen Bogen um den Tisch der Bird Brothers. Als die Mutter merkte, dass sie dem Jungen eine Cola brachte, wollte sie schon protestieren, doch Danika stoppte sie durch eine kurze Bewegung ihrer Hand, die, wie sie überrascht feststellte, immer noch zitterte. Der Schock über Bird Brothers Berührung saß offenbar tiefer als gedacht. Also noch einmal: tief einatmen, tief ausatmen.

„Die geht aufs Haus“, sagte sie leise. Da Enrique nie etwas spendierte, nicht einmal seinen Angestellten, würde er die 1,79 $ von ihrem Gehalt abziehen, wenn er es mitbekam. „Wenn es okay ist, dass er eine Cola trinkt.“

Das Gesicht des Jungen leuchtete auf. „Ist doch okay, Mom, oder? Bitte, bitte, bitte.“

Die Mutter schaute Danika dankbar an. „Ja, das ist okay. Vielen Dank.“

„Gern. Und was kann ich Ihnen zu essen bringen?“ Sie zog den Block und den Bleistift aus ihrer Schürze. Ihre Hand zitterte jetzt nicht mehr, aber ihre Muskeln waren so angespannt, dass sie den dünnen Bleistift aus Versehen abbrach. „Oh, tut mir leid.“ Vorsichtig holte sie einen Ersatzstift hervor.

Mutter und Sohn gaben ihre Bestellung auf, und während sie mitschrieb, ließ sie ihren Blick durch den Diner schweifen. Gerade war eine andere Familie hereingekommen, die sie jedoch nur kurz musterte. Sie war nicht mehr ganz so angespannt wie in ihren ersten Tagen hier. Anfangs hatte sie ständig damit gerechnet, dass Reyes hereinspaziert kam, sie über die Schulter warf und mit ihr in der Nacht verschwand.

Gilly führte die Familie zu der anderen noch freien Tischnische und fing dabei Danikas Blick auf. Müde lächelten sie sich zu. Danika fühlte sich schwach auf den Beinen, ihre Nerven lagen nach Bird Brothers Gegrapsche immer noch blank. Du weißt, dass du so nicht reagieren darfst. Du musst immer auf der Hut und auf alles vorbereitet sein.

„Haben Sie das notiert?“, hörte sie die Mutter fragen.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu. „Ja. Zwei Hamburger, einer ohne Senf und Tomate, der andere mit allem, beide mit Pommes frites.“

Die Frau nickte. „Genau. Danke schön.“

„Ich gebe die Bestellung sofort auf. Es dauert sicher nicht lange.“ Danika riss die Seite von ihrem Block und ging zu Enrique.

Diesmal fasste Bird Brother eins nach ihrem Arm. „Hören Sie, wir halten Sie doch nicht für eine Prostituierte. Wir wollen nur mit Ihnen reden. Schlimme Dinge liegen vor Ihnen.“

Bevor sie etwas dagegen tun konnte, hatte ihr Instinkt die Oberhand gewonnen. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Panik im Gesicht ihrer Schwester, als sie nachts aus ihrem Hotelzimmer herausgezerrt und als Geiseln der Monster zu der Burg verschleppt worden waren. Und sie hörte wieder die Stimme ihrer Mutter: Vielleicht ist deine Großmutter tot. Ermordet.

Sie sah plötzlich rot, die Wut hatte sie voll im Griff, verwandelte sie in eine Furie. Na los, greif an. Lass dir nichts gefallen. Schluss mit der ewigen Hilflosigkeit. Sie hieb mit ihrer freien Hand auf die Nase des Mannes und spürte, wie unter der Wucht des Schlages der Knorpel brach. Blut floss auf sein Hemd und den Teller. Er schrie auf vor Schmerz und hielt sich die Hand schützend vors Gesicht.

Auf den Schmerzensschrei folgte bleierne Stille. Dann fiel irgendwo ein Glas herunter. Klong, splash. Flüssigkeit spritzte auf den gefliesten Boden. Irgendjemand fluchte. Alle Geräusche klangen unwirklich laut, hallten wie Donner in ihrem Kopf und rissen Danika, die wie auf Autopilot geschaltet war, aus ihrer Benommenheit.

Sie öffnete den Mund.

Bird Brother zwei schnappte mit weit aufgerissenen Augen nach Luft. Er sprang auf und atmete schnaubend ein und aus. „Was erlaubst du dir hier eigentlich, du Schlampe?“

„Ich … ich …“ Ein Zucken durchlief Danikas Körper. Dann stand sie wieder wie erstarrt da und kämpfte mit der aufsteigenden Panik. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden war jetzt auf sie gerichtet. Und es war keine wohlwollende Aufmerksamkeit. „Ich … ich habe Ihnen mehrmals gesagt, dass Sie mich nicht anfassen sollen.“

„Sie haben ihn angegriffen!“ Der Unverletzte der beiden Typen kam drohend näher, legte ihr seine Hände auf die Schultern und drängte sie zurück.

Sie hätte ihn davon abhalten können, sie so zu schubsen, hätte ihm ihren Bleistift in den Hals rammen und dann davonrennen können, aber sie tat es nicht. Die erlebte Demütigung und ihr schlechtes Gewissen hatten ihre Wut vollständig verdrängt. Wo bleibt deine Abgeklärtheit?

„Weißt du was?“, knurrte er sie an. „Du bist genau so wie sie. ‚Vielleicht ist sie unschuldig‘, wurde mir gesagt, ‚deshalb sei bitte vorsichtig mit ihr. Sei freundlich.‘ Aber das konnte ich mir nicht vorstellen, nicht eine Sekunde. Trotzdem hab ich die Anweisung erst mal befolgt. Was für ein blöder Fehler: Du hast ja gerade selbst demonstriert, wie verabscheuungswürdig du bist. Vielleicht bist du ja tatsächlich eine Nutte – ihre Nutte.“

„Du bist genau so wie sie“, hatte er gesagt. Wie wer? „Es tut mir leid. Ich wollte nicht … ich …“ Aber egal, was sie sagte, sie konnte sich nicht aus der Sache herausreden. Sie räusperte sich und versuchte, ihren Pullover glatt zu ziehen. Irgendwie musste Blut auf ihre Handfläche gespritzt sein, denn überall, wo sie hinfasste, hinterließ sie dunkelrote Schlieren. „Es tut mir aufrichtig leid.“

„Kann vielleicht mal jemand die Polizei verständigen, verdammt noch mal?“

Oh Gott! Kaum hatte sie sich einigermaßen niedergelassen, musste sie schon wieder flüchten. Wenn das hier in die Zeitung kam … Oh Gott. Ihr Puls raste bereits wieder.

Enrique kam aus der Küche gestampft. Die Schwingtüren schlugen hinter ihm zusammen. Er war ein stattlicher, imposanter Mann, groß und übergewichtig. Sein schütteres Haar fiel ihm in die vor Wut zusammengekniffenen Augen, als er bellte: „Mädel, du bist gefeuert. Und das dürfte noch das kleinste deiner Probleme sein. Geh nach hinten und warte, bis die Polizei da ist.“

Natürlich war sie gefeuert. Und instinktiv wusste sie auch, dass er ihr den heutigen Tag nicht mehr bezahlen würde. „Okay,“ sagte sie, „ich gehe, sobald Sie mich bezahlt haben. Sie schulden mir noch …“

„Du verschwindest jetzt auf der Stelle nach hinten! Du verschreckst hier alle Gäste.“

Danikas Blick schweifte durch den Diner und blieb an der Mutter und ihrem Sohn hängen. Die Frau hatte einen Arm schützend um den Jungen gelegt, mit dem anderen schob sie die Cola weg, die Danika ihm gegeben hatte. Beide starrten sie angsterfüllt an. Wieso mich? Ich habe mich doch bloß gewehrt.

Ihre Augen wanderten weiter und landeten bei Gilly. Die kam mit besorgter Miene auf sie zu, wohl in der Absicht, ihr zu helfen. Aber das würde ihr nur auch noch den Job und den Tageslohn kosten, und das wollte Danika auf keinen Fall.

„Ich warte in meiner Wohnung auf die Polizei“, log sie.

„Nein, das wirst du nicht“, herrschte Enrique sie an. „Du wirst …“

Daraufhin drehte sich Danika auf dem Absatz um und stolzierte hoch erhobenen Hauptes aus dem Diner. Glücklicherweise versuchte niemand, sie aufzuhalten, nicht einmal Bird Brother zwei. Die Nacht war warm, überall waren Scharen von Menschen unterwegs, blinkten Neonreklamen. Sie fühlte sich, als würde sie sich im gebündelten Licht von Scheinwerfern bewegen, als würde ihr der gaffende Blick aller Passanten folgen.

Großer Gott, was sollte sie jetzt nur tun?

Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie fast rannte. Sie hatte vierzig Dollar in der Tasche. Genug für ein Busticket. Aber wohin? Vielleicht nach Georgia. Der Pfirsich-Staat war weit genug entfernt, und wichtiger noch: Sie würde an Oklahoma vorbeikommen. Dort könnte sie nach ihrer Großmutter suchen.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ihr etwas in den Rücken stieß und sie in eine dunkle Gasse drückte. Dort schlug sie mit einer solchen Wucht auf dem Pflaster auf, dass sämtliche Luft mit einem Schlag aus ihren Lungen zu entweichen schien. Steine bohrten sich durch den dünnen Stoff ihres Pullovers und T-Shirts in ihre Haut. Mit dem Kiefer knallte sie auf den Boden. Dann sah sie nur noch kleine weiße Sternchen vor den Augen tanzen.

„Du verdammte Hure!“, knurrte eine Männerstimme ganz dicht an ihrer Schläfe. Kleine Spucketröpfchen spritzten ihr ins Haar. Bird Brother zwei. Er hatte sie also doch nicht entkommen lassen. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich einfach so abziehen lassen? Du gehörst uns, Baby, und du wirst genauso leiden wie deine Freunde. Die darf ich leider nicht töten, aber dich … du wirst mich sogar anflehen, dass ich endlich Schluss mit dir mache.“

Wieder übernahm ihr Instinkt das Kommando. Schrei nicht lange herum, kämpfe! Warte nicht, bis du dich wehren musst, schlag gleich zu! Die Worte hatten sich ihr eingebrannt, waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Als ihr Angreifer sie an den Haaren herumriss und sie hochhob, schnellte sie automatisch herum. Sie spürte einen stechenden Schmerz auf der Kopfhaut, als sie ihre Haare seiner Umklammerung entriss, aber der hielt sie nicht auf. Pfeilschnell stieß sie ihren Arm gegen seinen Kehlkopf, um ihm den Atem zu nehmen und sich frei zu strampeln, während er nach Luft rang. Bleib dran.

Sie hörte ein Grunzen, dann einen Heulton. Seine Umklammerung lockerte sich.

Eine warme Flüssigkeit lief an ihren Händen herunter und sammelte sich in den Vertiefungen zwischen den Fingerknöcheln. Was um … plötzlich kapierte sie. Sie hielt den Bleistift immer noch umklammert und hatte ihm die Spitze tief in den Hals gerammt – genau so wie sie es sich im Diner ausgemalt hatte.

Oh mein Gott! Benommen rappelte sie sich auf. Sie schwankte und musste sich an seinen Schultern festhalten, um nicht zu fallen. Und dann wäre sie fast vor lauter Grauen zusammengeklappt, als der Mann mit einem gurgelnden Geräusch in sich zusammenfiel. Mondlicht fiel auf die umliegenden Gebäude und beleuchtete sein blasses, schmerzverzerrtes, schreckstarres Gesicht. Er versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton mehr heraus.

„Es tut mir leid!“ Sie spreizte ihre Finger und ließ ihn endgültig los. Dann hob sie die Hände, mit den Handflächen nach außen. Das Blut lief ihre Arme herab. Panik mischte sich in das Grauen. Keine Spur von Abgeklärtheit. Nicht mehr. Und keine erlösende Betäubung.

Sie trat zurück, erst einen Schritt, dann noch einen. Oh Gott, oh Gott. Mörderin, schrie es in ihrem Inneren. Du bist eine Mörderin. Der metallische Geruch von Blut mischte sich mit dem Gestank nach Urin und Körperausdünstungen.

Bird Brother zwei war jetzt endgültig zusammengesackt und lag ausgestreckt auf dem Asphalt. Sein Kopf war zur Seite gedreht, und seine Augen schienen sie zu fokussieren, während sein Brustkorb sich zu einem letzten Atemzug hob und senkte. Oh Gott. Sie stieß Magensäure auf. Du hattest keine andere Wahl. Sonst hätte er dich umgebracht.

Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, drehte sich Danika um und bahnte sich schlingernd einen Weg durch die Menschenmenge, die sich bereits am anderen Ende des Gebäudes versammelt hatte. Die Neonlichter beleuchteten jede ihre Bewegungen, ihr keuchender Atem kam ihr vor wie ein Trommelwirbel. Aber niemand versuchte sie aufzuhalten.

Zwei Wochen zuvor hatte einer ihrer Selbstverteidigungstrainer in New York gesagt, dass sie keinen Killerinstinkt hätte.

Das würde er wohl heute nicht mehr behaupten.

Ich bin genauso schlecht wie die Monster.