16. KAPITEL
Diesmal bleibst du hier“, sagte Reyes.
Er setzte Danika in seinem Zimmer ab, schloss die Tür fest hinter sich und überließ sie sich selbst. Sie wartete einige quälend lange Augenblicke, bevor sie sich auf den Rand der Matratze setzte, den Blick starr auf die Tür gerichtet. Als sie sicher war, dass er so schnell nicht zurückkommen würde, entspannte sie sich und zog das kleine Handy aus ihrer Jeanstasche.
Obwohl Stefano sich der Gefahr durchaus bewusst war, dass die Krieger sie durchsuchen, ihr das Telefon wegnehmen und es vielleicht sogar benutzen würden, um ihn zu lokalisieren, hatte er es drauf ankommen lassen. Und auch sie hatte gefunden, dass es das Risiko wert sei. Heutzutage trug doch jeder ein Handy mit sich herum, wieso sollten die Krieger automatisch annehmen, dass sie es von den Jägern bekommen hatte? Jetzt hingegen wünschte sie fast, Stefano hätte es ihr vor ihrer Betäubung nicht in die Tasche gesteckt – oder die Krieger hätten es gefunden. Dann stünde sie jetzt nicht vor der schwierigen Entscheidung: anrufen oder nicht anrufen?
Theoretisch war es eine einfache Entscheidung. Die Familie ging vor. Immer. Doch wie sie langsam feststellte, waren die Dinge in der Praxis nicht ganz so einfach. Obwohl die Krieger den Aufenthaltsort ihrer Familie seit Langem kannten, hatten sie nicht zugeschlagen. Ein Punkt zu ihren Gunsten. Aber auch die Jäger hatten nie versucht, ihrer Familie zu schaden. Doch was, wenn sie sich entschied, den Jägern zu helfen, und es diesen nicht gelang, die Krieger unschädlich zu machen? Immerhin war es ihnen die ganzen letzten Jahrtausende nicht gelungen. Die Krieger würden nicht lange brauchen, um herauszufinden, dass sie den Feind unterstützte, und sie endgültig ausschalten.
Andererseits: Wenn es ihr jetzt nicht gelang, die Jäger zu kontaktieren, würden diese vielleicht versuchen, in die Burg einzudringen und sie zu befreien. Vielleicht würde es sogar zu einem Kampf kommen. Eine Gefahr für Ashlyn und das Baby in ihrem Bauch. Ebenso für Anya. Und für Reyes.
Danika blickte hinunter auf ihre Hände. Die Tastatur des Handys verschwamm vor ihren Augen. Reyes hatte sie so gut beschützt. Und morgen würde er sie zu ihrer Familie begleiten. Oh Gott, ihre Familie. Ihr ganzer innerer Konflikt schmolz auf einmal zusammen, und sie konnte nur noch an die Menschen denken, die sie liebte.
Sie lächelte vor Rührung und Glück. Sie lebten, und sie waren zusammen. Zwar konnte sie sich nicht erklären, warum ihre Großmutter das Haus ihrer Freunde ohne ein Wort verlassen hatte und dennoch in Oklahoma geblieben war, aber es war ihr auch egal. Auch wusste sie nicht, warum die drei zusammengeblieben waren und so das Risiko erhöht hatten, gefasst zu werden, doch auch das spielte letztlich keine Rolle. Hauptsache, sie lebten. Das war alles, was zählte!
Sie musste Stefano anrufen, um sich noch etwas mehr Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Und zwar jetzt, bevor Reyes zurückkam. Sie verdrängte einen plötzlichen Anflug von Angst, wählte die Nummer und hielt sich mit zitternder Hand das Telefon ans Ohr.
„Happy House“, meldete sich eine tiefe Stimme.
„Ich … bin’s.“
Es folgte eine spannungsgeladene Pause, dann ließ ihr Gesprächspartner seine Tarnung als überarbeiteter, leicht gestresster Angestellter fallen. „Du bist also noch am Leben.“
„Ja. Sie haben mich gut behandelt“, gab sie zu.
„Der Teufel lächelt immer, bevor er den Todesstoß versetzt.“ Es knisterte und rauschte in der Leitung. „Was hast du herausgefunden?“
„Es gibt noch einen anderen Dämon, der irgendwo da draußen herumläuft. Hoffnung. Und er ist ihr Feind. Sonst habe ich nichts herausbekommen. Sie halten mich hier isoliert und haben mich über dich und deine Gruppe ausgefragt.“
„Noch ein Dämon?“ Das Geräusch eines Stiftes war zu hören, der über Papier kratzte. „Und was hast du ihnen erzählt?“
„Dass ihr Jäger mich über die Krieger ausgefragt habt, dass ich euch jedoch keine Antworten zu geben vermochte.“ Das zumindest entsprach der Wahrheit.
„Ist es dir möglich, die Burg nach Zeitungen, Bildern und sonstigen Informationsquellen zu durchsuchen, aus denen hervorgeht, womit sie sich gerade beschäftigen und was sie planen?“
„Nein, ich bin in einem der Zimmer eingeschlossen.“
„Und du kennst dich mit Schlössern nicht aus?“
„Nein.“ Eine erneute Lüge.
„Hast du erwogen …“ Seine Stimme verstummte.
Und da diese Stimme unmissverständlich suggerierte, dass sie schnellstmöglich Antworten wollte, griff Danika seinen Satz auf: „Ich … ich …“ Aber sie brachte es einfach nicht über die Lippen.
„Denk noch mal darüber nach.“ Er machte eine Pause. „Alles, was du tust, ist für die gute Sache. Erinnere dich an das, was ich dir erzählt habe. Frieden. Harmonie. Kein Ehebruch mehr, kein Selbstmord. Und denk an das Wohl deiner Familie.“
Auf seine fanatische Weise sorgte er sich tatsächlich um die Welt und die Menschen und war offenbar bereit, alles für ihr Wohlergehen zu geben. Er war dabei nicht gänzlich altruistisch, aber er glaubte schon daran, dass die Welt perfekt und friedvoll sein würde, wenn die Herren der Unterwelt erst einmal vernichtet wären.
Danika selbst wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Reyes hatte gesagt, dass das Böse so lange regieren würde, wie die Menschen einen freien Willen hätten, um sich für das Böse zu entscheiden. Egal ob es Dämonen gab oder nicht. „Ich werde darüber nachdenken.“ Aber sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Sie würde sich nicht für ihn prostituieren, egal was auf dem Spiel stand. Wenn sie mit Reyes schlafen würde, dann nur, weil sie selbst es wollte.
„Wir haben die Burg beobachtet“, sagte Stefano, „haben im Inneren jedoch keinerlei Aktivität feststellen können. Hast du eine Ahnung, was sie treiben?“
Wenn sie ihm erzählte, dass die meisten Krieger in Rom waren, würden die Jäger glauben, leichtes Spiel mit der Burg zu haben und sich einschleusen. Torin und Cameo – und wer immer sonst noch zurückgeblieben war – würden sich gegen eine solche Übermacht nicht verteidigen können.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich. Mein Gott, bin ich jetzt vom Dämon der Lüge besessen? „Aber ich versuche es herauszufinden.“
„Hast du gehört …?“
„Warten Sie. Da kommt jemand. Ich muss auflegen.“ Schon wieder eine Lüge. Sie unterbrach die Verbindung und stopfte das Handy in ihre Hosentasche zurück. Eine Weile saß sie einfach nur da, am ganzen Körper zitternd. Dann sackten ihre Schultern nach vorn, und sie bedeckte ihre Augen mit den Händen. Sie bekam kaum Luft.
Was ist los mit mir?
Sie hatte das Gefühl, sich diese Frage schon zum tausendsten Mal zu stellen. Doch zum ersten Mal glaubte sie, die Antwort zu kennen. Sie war verliebt. Sie war in Reyes verliebt – sie war es von Anfang an gewesen.
So, jetzt hatte sie es sich eingestanden. Jetzt gab es keine Ausflüchte mehr, kein Drumherumreden. Er zog sie an. Sie wollte ihn, obwohl sie wusste, dass das schlecht für sie war. Ihr Begehren bestimmte inzwischen ihr Handeln und ihre Gedanken, kurz: das, was von ihrem gesunden Menschenverstand noch übrig war.
Danika sprang auf. Fast versagten ihr die Beine, sie konnte sich gerade noch am Bettpfosten festhalten. Mit Reyes zusammen zu sein wäre sicher kein Vergnügen. Konnte es gar nicht sein. Sie würde ihn permanent verletzen müssen. Aber vielleicht musste sie es einfach ausprobieren. Vielleicht würde es ihr dann sogar helfen, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen, ihn aus ihrer Fantasie zu verbannen.
Vielleicht könnte sie sich von ihm auf ähnliche Weise befreien, wie sie sich mithilfe ihrer Malerei von den Visionen ihrer Albträume befreite.
Allein der Gedanke daran verursachte ihr Gänsehaut. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie verspürte zugleich Begehren und Angst – positive und negative Gefühle. Sie musste lachen, doch heraus kam nur ein Krächzen.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ließ den Bettpfosten los und taumelte vorwärts. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Reyes fortbleiben würde. Sie würde sich selbst beschäftigen und ablenken müssen, um bei seiner Rückkehr nicht ein einziges Nervenbündel zu sein, unfähig, sein Bett für irgendetwas anderes zu benutzen als zum Schlafen.
Und sie kannte nur eine Beschäftigung, die sie voll und ganz ausfüllte: Malen.
Noch bevor sie die verschlossene Tür erreichte, kribbelten ihre Hände voller Vorfreude. Der Türknauf fühlte sich kalt an. Als sie die Tür öffnete, erwartete sie, eine mit Malutensilien vollgestopfte Abseite vor sich zu haben. Doch stattdessen betrat sie ein großes, luftiges, eigenständiges Zimmer, das zu einem perfekten Künstleratelier umgebaut worden war.
Es verschlug ihr fast den Atem, all diesen Luxus zu sehen. Unzählige weiße Leinwände warteten darauf, bemalt zu werden, allesamt auf Staffeleien montiert. An der gegenüberliegenden Wand war ein Tisch aufgebaut, auf dem Farbtuben und Pinsel in verschiedenen Größen standen.
Das hat er für mich gemacht. Und nicht weil er Einblick in ihre Visionen erhalten wollte, denn als er den Raum vorbereitet hatte, wusste er ja noch gar nichts von ihren Albträumen. Er hatte all die Sachen eingekauft, weil er sie glücklich machen wollte. Diese Erkenntnis war genauso umwerfend wie das Atelier selbst, und Danika merkte, wie ihre Gefühle für Reyes immer stärker wurden.
„Was mache ich nur mit dir, Reyes?“, murmelte sie.
Wie oft würde Reyes sie noch auf diese Weise überraschen? Erst die Kleidung, die er für sie ausgesucht hatte, dann sein stetes Bemühen, sie zu beruhigen und zu trösten, und jetzt dieses traumhafte Atelier. Alles, was er tat und sagte, schien ihr übersteigertes Bedürfnis nach Selbstschutz überflüssig zu machen. Danika legte eine Hand auf ihr rasendes Herz. Selbst bei sich zu Hause hatte sie keinen so gut ausgestatteten Raum zum Malen. Sie hatte es geschafft, vom Porträtzeichnen zu leben, aber große Sprünge konnte sie sich damit nicht erlauben.
Wie in Trance ging sie zu dem Zeichentisch, wog die einzelnen Pinsel in der Hand und befühlte ihre Borsten und Haare. Reyes wollte sehen, wovon sie träumte: all die Engel und Dämonen, die Götter und Göttinnen. Und plötzlich war sie bereit, ihm das zu liefern.
Aber als sie sich die vielen Öl-und Acrylfarben anguckte, wusste sie, dass nicht ihre Träume im Mittelpunkt ihrer Bilder stehen würden, sondern er.
Reyes bereitete eine weitere Mahlzeit für Danika. Zum Glück hatte Paris vor seiner Abreise nach Rom noch eingekauft, sodass es reichlich Auswahl gab.
Er trug das Tablett mit frischem Fisch und Salat zu seinem Zimmer und bekam einen Schreck, als er Danika dort nicht sofort fand. Doch nach einem kurzen Blick durch den Raum sah er sie im Atelier, wo sie mit einem Lächeln im Gesicht an einer Leinwand skizzierte. Sie war so vertieft, dass sie ihn nicht hörte, ja, sie schaute nicht einmal auf, als er sie rief.
Ihr Blick war glasig, fast so als wäre sie in Trance. Ihr Handgelenk fuhr mit eleganten Schwüngen über die Leinwand, ihr ganzer Körper bewegte sich anmutig hin und her. Im Nu schmerzte seine Brust, schwoll sein Geschlecht an. Schmerz donnerte von innen gegen seinen Schädel, um zu Danika zu gelangen. Lass das!
Da er sie nicht stören wollte, zog er sich leise zurück. Mit kontrollierter Atmung versuchte er seinen rasenden Puls unter Kontrolle zu kriegen. Ihren wunderschönen Anblick würde er damit allerdings nicht so schnell aus dem Gedächtnis bekommen, da war er sicher: die hastig zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare; die losen Haarsträhnen, die sich aus dem Gummi befreit hatten; die schwarzen Farbkleckse auf den Wangen; und diese Lippen, die glänzten und gerötet waren, weil sie so heftig auf ihnen herumgekaut hatte.
Als Reyes den Freizeitsalon erreichte, wurde er bereits von unkontrollierbaren Zuckungen geschüttelt, und sein Schwanz war hart und pulsierte. Ohne es zu merken, hielt er bereits zwei Messer fest umklammert. Süchtig nach Schmerz ließ er sich auf das dunkelrote Sofa fallen. Er allein war der Grund, weshalb sich seine Freunde weigerten, andersfarbige Polstermöbel zu kaufen – was ihm ziemlich peinlich war.
Zumindest verspürte er nicht wieder das Bedürfnis, vom Dach der Festung zu springen.
„Was muss man denn tun, damit hier ein bisschen was los ist?“ Reyes’ Kopf schnellte herum beim Klang dieser unbekannten Stimme. Eine Sekunde später sauste bereits einer seiner Dolche durch die Luft.
Ein unbekannter Krieger faulenzte mit ausgestreckten Beinen in dem plüschroten Fernsehsessel, das Inbild der Entspanntheit. Er fing Reyes’ Dolch ohne mit der Wimper zu zucken auf und besah sich sorgfältig den Griff. „Gute Arbeit. Selbst gemacht?“
Langsam dämmerte es Reyes. „William.“ Anyas Freund. Nicht viele Leute schafften es den Berg hinauf in die Festung, ohne Torins Fallen und Alarmsignale auszulösen. Aber Torin hatte sie für diesen Mann hier ausgeschaltet, und Anya hatte jeden in der Burg gewarnt, die Finger von William zu lassen oder andernfalls die Konsequenzen zu tragen.
„Yep, ich bin’s. Ich weiß, ich weiß: Du fühlst dich geehrt, dass ich hier bin, würdest mir am liebsten Rosenblütenblätter vor die Füße streuen, bla, bla, bla. Aber bloß keine Umstände. Behandle mich einfach wie einen ganz normalen Typen.“
Reyes rollte mit den Augen. Anya hatte versäumt zu erwähnen, dass ihr unsterblicher Freund ein arrogantes Arschloch war. „Ja, ich habe den Dolch selbst gemacht. Warum bist du hier?“
William runzelte die Stirn und fuhr sich mit seiner kräftigen Hand durch das nachtschwarze Haar. „Ich langweile mich, mein Freund, ich langweile mich. Alle sind abgehauen, niemand hat eine Willkommensparty oder sonst irgendwas für mich vorbereitet. Also hab ich beschlossen, ein bisschen fernzuschauen, aber ihr habt nur Pornos, und da ich seit einigen Wochen keine Frau mehr hatte, machen die mich rasend vor Eifersucht.“
„Die Filme gehören Paris“, sagte Reyes.
Ein Lachen. Dann ein Kopfschütteln. Dann sagte William: „Sag nichts mehr, ich hab den Typen kennengelernt.“
„Ich meinte nicht, warum du hier, in diesem Zimmer, bist. Warum bist du in Budapest? Warum bist du in der Burg?“
William zuckte mit seinen breiten Schultern. „Die Antwort bleibt die gleiche. Langeweile. Und, na ja …“, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, „… Anya war vor nicht allzu langer Zeit bei mir zu Besuch und hat mich in eine peinliche Lage gegenüber dem neuen König der Götter gebracht. Ich habe ihn enttäuscht, also hat er im Gegenzug mein Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt – obwohl er letztlich das, was er haben wollte, gekriegt hat. Ich habe jetzt keine Bleibe mehr, und Anya ist mir einen gewaltigen Gefallen schuldig.“
Reyes erstarrte, jeder Muskel seines Körpers war bis zum Zerreißen angespannt. „Wenn du gekommen bist, um ihr etwas anzutun, werde ich …“
„Entspann dich.“ Der Krieger hob beschwichtigend eine Hand. Seine blauen Augen blitzten, als er mit der anderen Hand sein Hemd hochzog. „Ich könnte sie gar nicht verletzen, selbst wenn ich wollte. Und glaub mir, ich wollte. Sie hat mich nämlich hier reingestochen.“
Reyes Blick wanderte nach unten zu Williams Bauch. Eine lange, dicke Narbe zog sich bis über den Bauchnabel. „Hübsch.“
„Das Mädel konnte immer schon gut mit Messern umgehen.“ William zog das Hemd wieder herunter und grinste.
Abgesehen von der Wunde war William wohl eines der schönsten, makellosesten Geschöpfe, das man sich vorstellen konnte. Seine Haut war perfekt – glatt und gebräunt. Seine Nase war perfekt – gerade, mit einem kühnen Schwung. Er hatte perfekte Zähne, perfekte Wangenknochen, einen perfekten Kiefer. Er hatte schlanke Muskeln und strotzte vor Selbstbewusstsein. Reyes wollte den Mann nicht in Danikas Nähe haben.
Beim Gedanken an Danika krampfte sich sein Magen zusammen. „Du hast gesagt, dass du scharf auf eine Frau bist?“, fragte Reyes.
William setzte sich auf, sein Gesicht strahlte in freudiger Erwartung. „Hast du eine in petto?“
„Komm zur Vordertür. In einer Viertelstunde.“
Ohne ein weiteres Wort ging Reyes aus dem Raum und zu seinem Schlafzimmer. Danika stand wie vorhin an der gleichen Stelle, immer noch ganz in ihre Skizze vertieft. Sie hatte noch nicht begonnen Farben aufzutragen, sondern war noch mit den Umrissen beschäftigt.
Reyes verstand nicht viel von der Kunst des Malens, vermutete aber, dass Danika noch einige Stunden beschäftigt sein würde. Sein Körper stand in Flammen, mehr noch als zuvor, und er brauchte Schmerzen. Die Dinge in die eigene Hand zu nehmen hatte nicht viel gebracht – eigentlich nichts, außer Danika zu schockieren und sich selbst zu beschämen.
Morgen würden sie miteinander verreisen. Dann würde er ihren süßen Duft ununterbrochen einatmen. Er würde sich verzweifelt nach ihr sehnen und sich vielleicht nicht in dem Maße ritzen können, wie er es benötigte. Wenn er seine Bedürfnisse heute nicht ausreichend befriedigte, würde er Danika morgen verletzen oder sie zumindest sehr schocken. Schmerz könnte versuchen, sie zu Dingen zu verleiten, die sie freiwillig nicht tun würde. Dinge, die sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würden. Und das wollte Reyes unter allen Umständen verhindern.
Vielleicht sollte er sich eine andere Frau nehmen.
Der Gedanke quälte ihn während des Duschens. Als er endlich wieder frisch und trocken war, befestigte er seine Waffen am Körper, zog ein sauberes Hemd an und warf sich seinen Ledermantel über. Während er seine Stiefel zuschnürte, beobachtete er Danika beim Malen. Jetzt mit einer Frau zu schlafen wäre gefährlich, möglicherweise würde es sogar in einem Desaster enden. Wie viele Leben hatte er bereits zerstört?
Vielleicht war es ja gar nicht mehr so schlimm? Vielleicht hatte der Dämon, nach so langer Zeit, ja etwas an Kraft eingebüßt und zog seine Partnerinnen nicht mehr in Mitleidenschaft? Vielleicht. Außerdem hatte Reyes selbst sich inzwischen besser unter Kontrolle. Aber der Gedanke, sich auf eine andere Frau einzulassen, machte ihn krank. Er wollte diese hier, und nur sie. Er wollte ihren Körper unter sich spüren, wollte, dass sich ihre Beine um seine Hüfte schlangen, wollte ihr lustvolles Stöhnen hören.
Aber er konnte sie nicht haben, das wusste er. Zumindest nicht jetzt. Noch nicht. Sollte die Frau, mit der er heute Abend schlief, keine Anzeichen von Blutrausch zeigen, … dann vielleicht. Alles, was er tun konnte, war, Danikas Duft tief zu inhalieren. Bei den Göttern, dieser Geruch nach Sturm über dem Meer würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Er atmete erneut tief ein, dann verließ er den Raum.
William schritt bereits ungeduldig vor der Haustür auf und ab. Als er Reyes sah, hielt er inne und grinste. „Wo gehen wir hin?“
„Club Destiny.“ Bevor Reyes es sich anders überlegen konnte und doch zu Hause blieb, marschierte er an William vorbei durch die Tür nach draußen. Es war etwas kühl, Regenwolken hingen in dem trüben Himmel, aber auch einige Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das Dach der Blätter.
„Ob da wohl schon jemand ist?“, fragte William, der jetzt an Reyes’ Seite ging. „Es ist erst Mittag.“
„Irgendjemand wird schon dort sein.“ Viele Irgendjemands. „Paris besucht den Club zu allen Tages-und Nachtzeiten, also bleiben die Frauen sicherheitshalber gleich dort und warten auf ihn.“
William rieb sich die Hände. „Menschenfrauen, stimmt’s?“
„Ja.“ Vorsichtig umrundete Reyes einen besonders dicken Baum und achtete auf die ausladenden Äste. Eine Berührung mit einem der Zweige, und auf Brusthöhe würden vergiftete Pfeile losschießen.
„Magst du nicht mit Menschenfrauen schlafen?“
Reyes warf dem Krieger einen raschen Blick zu. „Was meinst du damit?“
„Ich hab Ekel aus deiner Stimme herausgehört.“
Oh ja. Er ekelte sich. Vor sich selbst. „Ich mag Menschenfrauen. Pass auf den Fels dort auf“, fügte er übergangslos hinzu. „Dahinter befindet sich eine Fallgrube.“
Sie wichen den Hindernissen aus und waren bereits halb unten. Der Wind raschelte in den Blättern und pfiff zwischen den Felsen hindurch. „Was sollen all die Fallen hier?“, fragte William, ehrlich neugierig. „Ich meine, ich habe bereits Stolperdrähte, vergiftete Pfeile und herabhängende Felsbrocken auf dem Hinweg gesehen.“
„Die Jäger haben mal bei uns angeklopft.“
„Ah, okay, brauchst gar nichts mehr zu sagen. Lass uns zurück zu der Blondine gehen.“
Reyes ballte seine Hände zu Fäusten, er war hilflos ohne seine Waffen. Er fühlte sich, als ob Tausende von unsichtbaren Augenpaaren auf ihn gerichtet wären und seine Fehler und Schwächen unter die Lupe nahmen. Sie beurteilten. Verurteilten. Vielleicht war es die falsche Entscheidung, Danika allein zurückzulassen, aber er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Er sehnte sich so schrecklich nach ihr, dass er sie einfach haben musste. Aber das konnte er nicht, solange er nicht sicher wusste, dass sein Dämon ihr nicht schaden würde. Das aber musste er erst einmal an einer anderen Frau testen.
Nur: Würde sie ihn noch wollen, wenn er sich jetzt einer anderen Frau bediente?
„Sie hat Temperament. Das mag ich.“
„Sie steht nicht zur Debatte“, schoss Reyes zurück.
„Oops. Heikles Thema. Ich sehe, wie dein kleiner Dämon erwacht, sobald ihr Name fällt. Deine Augen leuchten neonrot, so wie die von Lucien, wenn er mich anschaut.“ Kichernd und nicht die Spur eingeschüchtert riss William seine Arme hoch, so als wollte er sich ergeben. „Ich werde dein Mädchen nie mehr auch nur mit einem Wort erwähnen, ich schwör’s.“
„Du bist schon ein komischer Vogel“, meinte Reyes. „Die meisten fangen an zu zittern, wenn die Rede auf meinen Dämon kommt. Du lachst.“
„Du vergisst eine Sache: Ich hab mit Anya gekämpft, und sie ist stürmischer und grimmiger als all ihr Dämonen zusammen.“ William legte einen Arm um Reyes’ Schulter. „Verbring zehn Minuten mit mir, und du hast die Person vergessen, deren Namen ich nicht mehr erwähnen darf. Wirst schon sehen.“
Die nächsten Minuten gingen sie schweigend nebeneinanderher und gelangten bald an den Fuß des Berges. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich, und Reyes ließ seinen Blick über das Gelände schweifen, bis hinein in die uneinsehbarsten, schattigsten Ecken. Es schien alles in Ordnung, niemand weit und breit in Sicht, der ihnen auflauerte – und trotzdem konnte er sich nicht entspannen.
„Komm, lass es uns hinter uns bringen.“