21. KAPITEL
Als Sabin schließlich die Festung erreichte, erklommen die Jäger bereits den Berg. Lucien hatte Sabin in Torins Zimmer gebeamt, wo alle anderen Krieger, außer dem immer noch eingekerkerten Aeron, das Computergenie Torin umringten und auf die vielen Monitore der Hightech-Übewachungsanlage starrten. Nein, das stimmte gar nicht, stellte Sabin fest. Auch Schmerz fehlte. Wieder einmal.
„Explosion?“, fragte Torin mit unverhohlener Schadenfreude in der Stimme.
„Ja, schick sie zur Hölle“, knurrte Maddox, der ein gezähntes Messer umklammerte. „Der einzig gute Jäger ist ein toter Jäger.“
„Nein.“ Lucien zupfte an seinem Ohrläppchen. „Wenn es ihnen gelingt, die Fallgruben, Netze und Giftpfeile zu umgehen, dann lass sie reinkommen. Eine Explosion wird nur unschuldige Menschen hier zum Berg locken, und das müssen wir strikt vermeiden.“
Maddox’ Nasenflügel bebten. „Ashlyn …“
Wieder zupfte Lucien an seinem Ohr. „Ich hab die Frauen bereits in Sicherheit gebeamt, obwohl keine von ihnen freiwillig und gerne gegangen ist. Aber mit Anya an ihrer Seite wird es Ashlyn gut gehen.“
Beruhigt ließ Maddox seine Schultern sacken. „Sehr schön.“
„Wenn wir sie reinlassen, wird die Burg von innen bald rot gestrichen sein“, bemerkte Paris. „Ich für meinen Teil stehe nicht so auf Putzen, aber da Aeron noch eingesperrt ist, weiß ich jetzt schon, dass es wieder an mir hängen bleibt.“
„Ich bekämpfe die Jäger schon etwas länger als du“, meldete sich Sabin zu Wort, „und glaub mir, es ist besser, sie hier zu töten als in der Stadt, wo Unschuldige zu Schaden kommen und gegen uns instrumentalisiert werden können. Und sie würden Unschuldige benutzen. Frauen und Kinder geben herrliche Schutzschilde ab.“
„Alles für das große, übergeordnete Ziel“, spottete Cameo traurig, woraufhin Sabin sofort zusammenzuckte. Irgendjemand müsste ihr mal einen Maulkorb umlegen. Egal wie lange sie sich schon kannten, er würde sich nie an ihre Stimme gewöhnen.
„Das wird lustig“, sagte der unsterbliche William und rieb sich die Hände.
Sabin starrte ihn an und fragte sich, wer zum Teufel ihn eingeladen hatte. Neue Freunde zu gewinnen stand nicht gerade ganz oben auf seiner Prioritätenliste. „Was machst du eigentlich hier?“
Lucien kniff sich in die Nase. „Er ist uns ein willkommener Gast und kann sich in der anstehenden Schlacht durchaus als Gewinn erweisen.“ Da er dabei jedoch alles andere als erfreut klang, vermutete Sabin, dass Lucien nichts dagegen hätte, wenn der willkommene Gast in der Schlacht verstümmelt würde. „Hier geht’s um mehr, als wir uns jemals hätten träumen lassen.“
„Wovon redest du?“, fragte Sabin.
„Ich rede von unserem alten Freund Galen. Ich hab gerade erfahren, dass er der Anführer der Jäger ist.“
„Galen?“, lachte Sabin. „Das soll wohl ein Witz sein.“
Auch die anderen Krieger lachten, aber hinter der Heiterkeit war Unbehagen zu spüren.
Sabin klopfte Lucien auf die Schulter. „Wir haben seit Tausenden von Jahren nichts von ihm gehört.“
Doch Lucien schüttelte den Kopf und warf einen durchdringenden Blick aus seinen verschiedenfarbigen Augen in die Runde. „Das ist kein Scherz. Wie wir über Ashlyn herausgefunden haben, ist Danika das Allsehende Auge. Eines ihrer Bilder hat es im Übrigen bestätigt. Und die Jäger haben sie aufgefordert, aufs Dach zu klettern. Sie wollen sie uns entreißen.“
Diese so ruhig ausgesprochenen Worte überzeugten selbst den ungläubigen Sabin. Galen. Verantwortlich für all seine Qualen. Sein größter Feind. Einst ein getreuer Freund.
Galen war derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, Pandora abzulenken und diese verfluchte Büchse zu öffnen. Galen war derjenige gewesen, der dafür plädiert hatte, den Göttern ihren Fehler unter die Nase zu reiben. Galen war ihr Verbündeter gewesen – oder zumindest hatten sie das angenommen.
„Die Götter haben uns die Bewachung der Büchse nicht zugetraut“, hatte Galen gesagt. „Haben wir unsere Stärke nicht immer wieder unter Beweis gestellt? Haben wir sie nicht jahrhundertelang zuverlässig beschützt? Und trotzdem ziehen sie uns eine Frau vor! Eine Frau, nicht halb so stark wie wir!“
Cameo hatte sich durch diese Bemerkung beleidigt gefühlt und daraufhin Galens Gesicht zerkratzt. Doch der hatte nur gelacht, denn Cameo war wohl hauptsächlich deswegen beleidigt, weil Pandora und nicht sie selbst die auserwählte Frau war. Aber letztlich hatten sich alle Krieger zusammengetan, zuversichtlich, dass ihre Aktion Erfolg haben und Eindruck machen würde.
Doch Galen hatte von Angang vorgehabt, sie alle zu verraten, denn er war wegen einer Sache eifersüchtig, die überhaupt nichts mit der Büchse zu tun hatte: Es wurmte ihn, dass Lucien und nicht er selbst von den Göttern zum Chef der Leibwache gemacht worden war. Aber all das, und vor allem dass Galen sie für die schmutzige Arbeit – das Öffnen der Büchse – nur benutzt hatte, war ihnen erst sehr viel später klar geworden. Während sie jedenfalls seinen genialen Plan umsetzten, mobilisierte Galen Pandoras Soldaten, damit sie ihm halfen, seine Freunde umzulegen. Denn er wollte die Dämonen allein wieder einsammeln und sich somit als Weltenretter und würdiger Nachfolger Luciens profilieren.
Anfangs war alles glattgegangen. Paris war es gelungen, Pandora fortzulocken, denn schon damals konnte ihm keine Frau widerstehen. Die übrigen Krieger hatten sich heimlich der Büchse genähert. Aber als sie sie erreichten, stürzte sich ein Grüppchen von Soldaten – darunter Galen – auf sie.
Schnell steckten sie mitten in einer heftigen und blutigen Schlacht. Und zum Schluss stand die Büchse tatsächlich offen, und die Dämonen waren freigekommen. Aber trotz Galens eifriger Versuche – trotz ihrer aller Versuche – hatten sie sie nicht wieder einfangen können. Die Dämonen waren stärker, als sie alle es vermutet hatten. Und schlimmer noch: Die Büchse war auf einmal verschwunden wie ein Phantom, und zwar noch während die Dämonen, wie hungrige Piranhas, das Fleisch von Pandoras Soldaten verschlangen. Die Schmerzensschreie … sie verfolgten Sabin immer noch.
Obwohl sich Galen also gegen sie gestellt und Pandora „geholfen“ hatte, hatte er sehr wohl eine Rolle beim Öffnen der Büchse gespielt, und deshalb hatten ihn die Götter genauso bestraft wie alle anderen – wobei es Sabin nicht Strafe genug erschien, dass Galen einfach nur den Dämon der Hoffnung beherbergte. Allerdings war es ihm nie gelungen, sich noch persönlich an Galen zu rächen. In der turbulenten Zeit unmittelbar nach ihrer Dämonenverfluchung war Galen einfach verschwunden, was Sabin einerseits erleichtert, andererseits aber auch wütend gemacht hatte. Rache wäre schon schön gewesen. Aber vielleicht bekam er ja jetzt Gelegenheit dazu.
„Wie kann er es wagen, so etwas zu tun?“, schnauzte Strider. „Reicht ihm ein Verrat nicht?“
„Wenn er die Jäger anführt, ist es dann nicht auch möglich, dass er die Strippen zieht bei diesem jägerinfizierten Institut, für das Ashlyn früher gearbeitet hat? Sie hat irgendwann mal erwähnt, dass niemand je dessen Leiter gesehen hat, weil der sich einfach nicht in der Öffentlichkeit zeigt.“ Maddox warf einen Blick in die Runde. „Glaubst du, dass es Galen sein könnte?“
„Kann schon sein.“ Sabin zuckte die Schultern. „Schöne Ironie, dass eine Einrichtung, die die menschliche Überlegenheit so rühmt und sich auf die Fahnen schreibt, von jemandem geleitet wird, der halb unsterblich, halb Dämon ist. Wie, glaubt ihr, schafft er es, sein wahres Gesicht vor den Jägern zu verbergen? Denn es ist völlig undenkbar, dass sie Bescheid wissen, sie würden sofort einen Aufstand machen. Und überhaupt: Warum will Galen uns vernichten?“
„Warum hat er uns überredet, die Büchse zu öffnen, um uns dann in den Rücken zu fallen?“, fragte Strider. „Er war schon immer so: Er wollte immer der Erste sein, immer gewinnen, koste es, was es wolle.“
„Hört, wer das spricht: Niederlage“, bemerkte Maddox.
„Vielleicht hat er schon immer geplant, uns zu vernichten und sich über uns zu erheben – vielleicht sogar über die Götter – und den Himmel zu erobern.“
Sabin umklammerte den Dolch, der in seinem Waffengürtel steckte. „Was auch immer seine Gründe sind, wenn ihr recht habt und wir hier gleich ein gemütliches kleines Familientreffen haben, dann nehme ich seinen Kopf. Sein Schädel macht sich bestimmt gut auf meinem Nachttisch. Und ich bräuchte dann nachts nicht mehr aufstehen und ins Bad gehen.“
Paris warf ihm einen schiefen Blick zu. „Ich bin derjenige hier, der die Scherze macht. Aber egal. Ich würde meine Hoffnungen nicht zu hoch schrauben, dass er überhaupt hier auftaucht.“
Seinem Ruf als kranker Spinner gerecht werdend, grinste Torin idiotisch und klatschte aufgeregt in die Hände. „Hoffnung ist wieder da. Galen ist Hoffnung. Sehr lustig. Zu schade, dass ich glaube, dass du recht hast. Aus irgendeinem Grund hat sich Galen uns noch nicht offenbart. Er weiß nicht, dass wir wissen, dass er der Anführer der Jäger ist.“
„Dann lasst uns ihm einen warmen, herzlichen Gruß schicken und ihn zu uns einladen. Mit Gruß meine ich: alle seine Jäger in Leichensäcken.“
„Oh, das ist eine schlechte Idee.“ Sollte heißen: gute Idee. Gideon rieb sich schadenfroh die Hände. „Das ist ja absolut einschläfernd.“
„Also“, sagte Torin und ließ seine Finger flink über die Tastatur gleiten. „Haben wir jetzt beschlossen, die Jäger reinzulassen oder nicht? Sie wollen Danika, das Allsehende Auge, und sie sind sicherlich bis zum Äußersten entschlossen, denn sie hoffen, mit ihrer Hilfe Pandoras Büchse zu finden und uns auszulöschen. Wenn wir sie reinlassen, sind sie ein Stück dichter an Danika dran.“
Sabin schüttelte den Kopf. „Nein, nicht dichter. Reyes wird mit ihr verschwinden. Während die Jäger sich uns nähern, wird sich Danika von ihnen entfernen.“
„Wie kommt es überhaupt, dass sie ein Artefakt ist?“, grummelte Cameo.
„Herrje, Frau“, sagte William, „deine Stimme klingt wie der Tod. Kannst du nicht deinen Mund wenigstens so lange halten, bis ich aus dem Raum bin? Bitte. Im Ernst: Du scheinst mir die einzige Frau auf der Welt zu sein, der ich gerne widerstehen möchte.“
Sie blickte ihn finster an. „Du solltest besser deinen Mund halten“, schnauzte Torin, jetzt nicht mehr grinsend, William an. „Oder du findest dich gleich in einem von Striders Leichensäcken wieder.“
Cameos Gesichtsausdruck kam einem Lächeln so nahe, wie es bei ihr überhaupt möglich war und wie Sabin es seit Jahrhunderten bei ihr nicht gesehen hatte. „Ashlyn hat gesagt, dass die Artefakte von den Schlangen der Hydra bewacht werden, und Anya hat das später bestätigt. Aber dieses Mädchen hier wird von niemandem bewacht.“
„Vielleicht hat Hydra sie früher bewacht“, warf Sabin ein. „Das Artefakt Danika muss seit Urzeiten vorhanden sein, aber offensichtlich ist sie nicht unsterblich, muss also jedes Mal neu geboren werden. Vielleicht funktioniert es auch über Reinkarnation. Oder aber ihre Fähigkeit wird innerhalb ihrer Blutlinie vererbt. Für diese Annahme würde sprechen, dass die Götter ihre gesamte Familie auslöschen wollen. Vielleicht hat Hydra sie aber auch einfach verloren. Zum Teufel: Vielleicht ist ja Reyes Hydra. Ihr habt alle gesehen, wie er sich ihr gegenüber verhält.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann gluckste jemand: „Reyes ist Hydra.“ Dann sagte Lucien: „Lasst sie rein. Wir bekämpfen sie hier drinnen. Das ist das Sicherste.“
Torin nickte, bearbeitete die Tastatur aber weiterhin mit gleichbleibender Geschwindigkeit.
Sabin, dessen Körper vor Kampfeslust nur so kribbelte, beobachtete die acht Monitore, die den gesamten Berghang erfassten. Die Nacht war längst hereingebrochen, der Mond ließ nur eine Andeutung von Licht durch das Blätterdach sickern.
Die Jäger waren komplett schwarz gekleidet und hatten sich sogar das Gesicht eingefärbt. Doch den Wärmedetektoren entgingen sie damit nicht – und auch nicht Sabins geschultem Auge. Abgesehen von den roten Einfärbungen, die die Infrarotkameras auf die Monitore projizierten, verriet jedes Blätterrascheln und jedes aufgewirbelte Staubkörnchen die Jäger.
„Shit. Die sind wie Heuschrecken“, sagte William. „Im Ernst, wie Insekten. Die sind ja zu Hunderten gekommen.“
„Hast du Angst?“, fragte Sabin.
„Zum Teufel, nein. Ich glaube eher, dass ich gerade zur rechten Zeit gekommen bin.“
Na Prost. Solche Leute liebte Sabin.
„Wie lange noch, bis sie hier sind?“, wollte Strider wissen. Ungeduldig und erwartungsvoll trat er in seinen schweren Stiefeln von einem Fuß auf den anderen.
Torin zuckte die Achseln, seine langen weißen Haare flogen ihm um die breiten Schultern. „Vier Minuten. Vielleicht auch nur drei. Hängt davon ab, wie clever sie sind. Einige von ihnen sind bereits in unseren Fallgruben verschwunden, andere von den verborgenen Pfeilen getroffen worden.“
Solange ich noch welche abkriege, bin ich glücklich, dachte Sabin. „Sie werden nicht alle auf einen Schwung durch die Vordertür stürmen. Sie werden sich aufteilen. Da sie wissen, dass wir wissen, dass sie da draußen sind, werden sie sich keine Mühe mehr geben, leise zu sein. Einige werden auf Höhe des Erdgeschosses bleiben, andere durch die Fenster reinklettern. Wieder andere werden sich wahrscheinlich aus Hubschraubern herunterlassen, in der Hoffnung, dass Danika ihnen doch gehorcht und auf dem Dach wartet.“
„Dann teilen wir uns also auch auf“, sagte Lucien. „Meine Männer und William übernehmen den Berg. Deine Leute können die Jäger haben, die übrig bleiben.“
Sabin grinste. „Du willst also sagen, dass meine Männer und ich gegen den Großteil der Jäger kämpfen. Ich weiß schon, warum ich dich so liebe.“
Nach allgemeinem Gelächter zogen Lucien und seine Kämpfer, immer noch grinsend, nach draußen ab. Sie lebten hier seit Jahrhunderten. Sie kannten die besten Verstecke, um einem Feind aufzulauern, und jeden Durchschlupf, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Sabin kannte sich leider nicht aus. „Sollen wir Aeron rauslassen? Ihn an der Schlacht teilnehmen lassen? Einen Kerl wie ihn kann man immer gut an seiner Seite gebrauchen.“
„Um Himmels willen, nein“, sagte Torin. „Er wird uns genauso niedermetzeln wie die Jäger. Was ist los? Hast du Angst? Brauchst du nicht. Ich hab das Überwachungsgerät für alle Stockwerke der Burg scharf gestellt. Stellt eure Handys auf Vibrationsalarm, dann informiere ich euch, sobald die Jäger eindringen, und teile euch mit, wo sie sich aufhalten.“
„Wie konnte ich dich bloß jemals ziehen lassen?“, fragte Sabin.
„Du hast mich nicht ziehen lassen“, erwiderte Torin trocken. „Ich hab dich verlassen, um Lucien zu folgen.“
„Das ist reine Auslegungssache.“ Sabin wandte sich seinen Kriegern zu und deutete mit einer Bewegung des Kinns in Richtung Eingangshalle. „Lasst uns loslegen.“
Alle nickten und marschierten mit gezückten Handys aus Torins Zimmer. Sabin bildete zunächst das Schlusslicht, setzte sich aber mit langen, entschlossenen Schritten schnell an die Spitze der Gruppe.
„Ein guter Tag, um zu sterben“, meinte Kane.
Für die Jäger war es das wohl tatsächlich. Sabin steckte sein Handy zurück in die Hosentasche und griff stattdessen zu seiner 9-mm-Pistole. Er spreizte die Finger seiner freien Hand und ließ nacheinander die Gelenke knacken.
„Was glaubst du, mit was für einer Splittergruppe wir es zu tun bekommen?“, fragte Strider. „Immer noch mit Stefanos Leuten?“
„Das ist absolut entscheidend zu wissen“, sagte Gideon, während Kane gleichzeitig erwiderte: „Mit allen, ist doch völlig egal.“
„Stefano, ohne jeden Zweifel. Wenn ich an die Attacke von gestern Abend denke: übereifrige Soldaten, halb automatische Gewehre. Außerdem ist er derjenige, der Danika gekidnappt hat. Allerdings wusste er da noch nicht, dass sie das Allsehende Auge ist, sonst hätte er sie nicht laufen lassen“, sagte Sabin und fügte unmissverständlich hinzu: „Der gehört übrigens mir. Wenn ihr ihn seht, lasst ihr ihn am Leben, verstanden?“
Stefano trachtete danach, Sabin für dessen Schuld am Selbstmord seiner Frau zu bestrafen. Das war okay, sogar nachvollziehbar. Aber dass er deshalb auch Sabins Männern auf erbittertste Weise nachstellte, das war weniger okay. Wenn Sabin auch der Liebe zu Frauen ein für alle Mal abgeschworen hatte, so liebte er doch seine Kämpfer über alles und hätte sein Leben für sie gegeben. Deshalb konnte er nicht zulassen, dass ihnen derart nachgestellt wurde. „Gideon, Freizeitsalon. Du weißt, was zu tun ist.“
„Nein, weiß ich nicht.“ Mit diesen Worten trennte sich Gideon von der Gruppe.
„Kane, nördlicher Flur.“
Mit einem Nicken bog Kane an der nächsten Ecke ab. Die Glühbirnen im Kronleuchter zersplitterten, als er vorbeiging, Glasscherben flogen in alle Richtungen. Man hörte ein unwirsches Zischen und dann einen Fluch. Und natürlich zerbarst in dem Moment eine weitere Glühbirne.
Katastrophe. Nirgendwo konnte man ihn mit hinnehmen, überall ging alles zu Bruch. Armer Lucien.
„Cameo …“ Sabin warf einen Blick über die Schulter. Cameo war nicht im Gefolge seiner Krieger. Wo zum Teufel war sie? Gereizt fuhr er sich mit der Zunge über die Zähne. Die Frau verschwand in letzter Zeit immer öfter. „Amun, südlicher Flur.“
Keine Antwort. Nicht einmal ein Nicken. Aber Amun war trotzdem abgebogen.
„In zwei Minuten“, sagte Strider, „fängt der Spaß so richtig an. Ich bezweifle, dass Lucien und seine Männer sie draußen allesamt erledigen werden.“
Sabin schoss ihm einen Blick zu. „Warum zwei Minuten? Woher weißt du das?“
„Mein innerer Radar.“
Noch bevor Strider ausgesprochen hatte, dröhnte das Geräusch von berstendem Glas durchs ganze Gebäude. Sabin und Strider grinsten sich an. „Dein Radar ist Mist. Es geht jetzt schon los.“ Sabin griff sich eine zweite Pistole und genoss das solide Gewicht des Metalls in seiner Hand.
„Der westliche Flur ist für dich, mein Freund. Ich nehme den östlichen.“
Strider nickte und drehte sich auf dem Absatz um.
„Pass auf dich auf.“ Sabin huschte mit Riesenschritten vorwärts. Ein weiteres Fenster, direkt vor ihm, wurde eingeworfen. Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Bisschen spät, Torin, dachte er. Kurz darauf seilten sich drei Männer ab und ließen sich, von einer Windböe getrieben, durch die scheibenlosen Fenster ins Innere der Burg herab.
Er riss die Hände hoch, legte die Handgelenke über Kreuz und drückte die Abzüge, sodass die rechte Pistole nach links und die linke nach rechts feuerte. Ratatatata. Die Männer zuckten, schrien und sackten zusammen.
Beim Anblick ihrer sterbenden Körper erfüllte ihn Befriedigung, doch es mischte sich bereits das ungeduldige Grollen seines Dämons hinein. Zweifel wollte rein ins Gemetzel.
„Viel Spaß“, murmelte er und sah fast bildlich vor sich, wie sich sein Dämon schadenfroh die knotigen Hände rieb. Dann wurde sein Geist aufgerissen, und sein Dämon wühlte mit der Hand in seiner gedanklichen Ebene herum, auf der Suche nach schwachen Gedanken, über die er herfallen und in die er seine Zweifel einnisten könnte. Sabin, der daran gewöhnt war, verzog keine Miene dabei – zum Glück, denn die Ablenkung hätte ihn das Leben kosten können.
Denn in diesem Moment warfen sich zwei weitere Jäger durchs Fenster. Er erschoss sie ebenso schnell und mühelos wie die ersten. Das war sein Leben – war es schon immer gewesen: kämpfen, bekriegen, töten – erbarmungslos und unerbittlich. Er war zum Kämpfen, Bekriegen und Töten geschaffen worden – und damit würde er auch die letzte Minute seines Lebens verbringen.
Er hörte ein Rascheln hinter sich, wirbelte herum und ballerte drauflos. Zwei weitere Jäger sackten schreiend vor Schmerz zusammen. Einer streckte noch den Arm aus und berührte Sabins Stiefel. Eine Handgranate rollte aus der bereits leblosen Hand. Der Sicherungsstift war schon gezogen. Shit. Blitzschnell schnappte sich Sabin die Granate und schleuderte sie aus dem Fenster, inständig hoffend, dass sie nicht seine Freunde verletzte. Aber besser, sie explodierte draußen als drinnen.
„Geht in Deckung!“
Bum.
So viel zu seiner Absicht, eine Explosion zu verhindern.
Die Fundamente der Burg wackelten. Überall Feuer und Qualm, Schreie und Fußgetrappel. Eine Hitzewelle drückte in den Flur und verbrannte seine Haut. Auch Schutt und Trümmer flogen herein, und der abgerissene Ast eines Baumes schlug ihm ins Gesicht, bevor er auf den Boden krachte.
Erst als Sabin über die am Boden liegenden Körper sprang, merkte er, dass einer der Jäger noch nicht tot war. Mühsam hob der Mann den Arm mit der Pistole, brachte ein letztes Lächeln zustande und stammelte: „Keine Gnade. Das ist doch euer Motto, oder?“ Dann schoss er.
Die Kugel traf Sabin im Oberschenkel und verursachte einen stechenden Schmerz. „Hurensohn!“ Schüsse im Nahbereich waren ein absoluter Schweinkram, und Sabin wusste sofort, dass sein Muskel zerfetzt war. Mit einer Grimasse entlud er seine Pistole in den ohnehin erledigten Körper des Jägers, ballerte so laut drauflos, dass es ihm in den Ohren dröhnte. „Ja“, spuckte er aus. „Genau das ist mein Motto.“
Der Mann röchelte noch einmal, dann quoll nur noch Blut aus seinem Mund.
Du bist zu schwach, hörte Sabin Zweifel einem der draußen stehenden Jäger zuraunen. Die Herren der Unterwelt werden dich töten. Höchstwahrscheinlich wirst du nie wieder einen Sonnenaufgang erleben.
Die Antwort des Jägers hörte Sabin so deutlich, als würde der Mann neben ihm stehen. Nein, nein, nein. Ich bin stark. Ich werde sie alle umlegen.
Du machst dir doch vor Angst in die Hose. Und der Feind spürt deine Angst. Sie werden dich wie ein Tier abschlachten. Was, wenn sie dich in Stücke schneiden und die Knochen nach Hause zu deiner Familie schicken?
Sabin, der dieses Defilee der Zweifel gewöhnt war, blendete das Gewisper aus. Immer wieder nach rechts und links schauend zog er sich vorsichtig in die Ecke neben dem zerbrochenen Fenster zurück. Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster vergewisserte er sich, dass kein Jäger gerade hereinkletterte. Auch im gesamten Flur war kein Feind in Sicht.
Er holte tief Luft und betrachtete seine Wunde. Seine Hose war bereits an der Haut festgeklebt – und mittendrin ein blutiges Loch. Na großartig. Er taste vorsichtig den Rand des Loches ab und hätte fast laut aufgeschrien. Es war schlimmer als vermutet.
Als er die Rückseite des Beins betastete, spürte er ein weiteres Loch: die Austrittswunde. Zum Glück. Vielleicht war es also doch nicht so schlimm.
Er riss ein Stück seines Hemdsaumes ab und band es sich um den Oberschenkel, um den Blutfluss zu stillen.
Wie geht es deinen Männern? Du kannst nur hoffen, dass keiner von ihnen stirbt. Die Jäger sind euch zahlenmäßig überlegen, deshalb ist es möglich …
„Halt die Klappe“, befahl er seinem Dämon, der versuchte, Zweifel in ihm zu säen.
Die meisten von ihnen sind darauf trainiert, völlig unbeeindruckt und stur vor sich hin zu kämpfen, jammerte Zweifel. Nur einige von ihnen haben sich mir geöffnet und sind jetzt tot.
Der Dämon musste die Gedanken seiner Opfer hören, bevor er angreifen konnte. „Armes Hascherl“, murmelte Sabin. „Aber denk dran: Wenn du mich umbringst, musst du selbst dran glauben. Dann verlierst du alles. Du wirst verrückt – oder womöglich zurück in die Büchse gesteckt.“
Im hinteren Teil seines Schädels rüttelte es, so entsetzt tobte der Dämon darin herum. Nicht in die Büchse! Nicht in die Büchse!
„Dann sei still!“ Zum Glück gehorchte die Kreatur.
Von draußen drangen das Zischen und Knallen von Schüssen und die Schmerzensschreie und das Röcheln von Menschen herein. Sabin konnte hören, wie das Metall von Kugeln und Klingen Haut und Knochen durchschlug. Er schaute in die Nacht und hielt sich dabei so weit wie möglich im Schatten. Hin und wieder sah er ein silbernes Blitzen im Mondlicht – Messerklingen und Wurfsterne, die in einer bogenförmigen Flugbahn auf ihr Ziel zurasten.
Sein Blick blieb bei einem seiner Freunde hängen: Maddox rannte vorwärts, machte einen Hechtsprung und landete in einer Gruppe von Jägern. Einige Sekunden lang sah man nur ein Durcheinander von Armen und Beinen – und ein Messer, das sich mit schnellen und flüssigen Bewegungen durch das Knäuel bewegte. Dann regte sich nichts mehr. Hatte Maddox …
Doch schon sprang der auf, schüttelte die leblosen Körper ab, drehte sich um und ging winkend auf jemanden zu. Reyes, der seinen Arm um die Taille einer Menschenfrau gelegt hatte, trat in den Lichtkreis, war jedoch kurz darauf mit seiner Begleitung schon wieder verschwunden.
Das Allsehende Auge. Den Göttern sei Dank, dass ich sie nicht getötet habe, als ich die Gelegenheit hatte.
Das Handy in seiner Tasche vibrierte. Shit. Fußgetrappel versetzte ihn augenblicklich in Alarmbereitschaft, und er fuhr herum. Doch zu spät: Vier Jäger stürmten den Flur entlang, die Waffen auf ihn gerichtet. „Haben einen gefunden“, riefen sie.
„Der gehört mir. Wenn er sich von meinen Schlägen erholt hat, könnt ihr ihn haben.“
„Ich muss ihm nur erst eins verpassen. Das hier ist für meinen Sohn, Dämon!“
Ein Trommelfeuer von Schüssen prasselte auf ihn nieder: in die Schulter, den Bauch, den Oberschenkel, direkt neben der frischen Wunde von eben. Verdammt, er hätte sich nicht ablenken lassen dürfen. Den Schmerz verdrängend, warf er sich brüllend nach vorn und feuerte die Magazine seiner halb automatischen Pistolen leer. Dann ließ er die Waffen fallen und hob die Arme. Wieder trafen ihn Kugeln.
Er und die Jäger trafen sich in der Mitte des Flurs.
Sie warfen sich aufeinander und rollten sich auf dem Boden. Einer der Jäger knallte mit seinem Schädel so heftig auf den Marmorboden, dass er sich nicht mehr rührte. Die anderen drei zogen Messer hervor und versuchten Sabin an verschiedenen Stellen aufzuschlitzen. Aber er hatte den Angriff erwartet und noch im Fallen seine eigenen Messer gezogen.
Menschen, egal wie clever, waren der Stärke und Schnelligkeit eines Unsterblichen einfach nicht gewachsen.
Bevor sie ihm mehr als ein paar kleine Schnittwunden zufügen konnten, hatte Sabin ihnen das Genick gebrochen. Keuchend und strauchelnd kam er auf die Füße. Er fühlte sich benommen und schwindelig. Wenn das so weiterging, würde er Stefano nicht mehr lebend gegenübertreten und bekämpfen können. Und Galen noch weniger, falls der Feigling sich überhaupt blicken ließ.
Müde und geschwächt schloss Sabin die Augen, nur einen kurzen Moment.
Doch er musste ein regelrechtes Blackout gehabt haben, denn als er die Augen wieder öffnete, stand ein Mensch vor ihm, gerade noch außerhalb seiner Reichweite. Und nicht irgendein Mensch: Stefano.
Hass brandete in ihm auf, aber er hatte nicht die Kraft, aufzustehen.
„Mit dir hab ich gerechnet“, sagte Sabin. Sein Hals fühlte sich kratzig an, als hätten sich Wasser und Säure in seinem Kehlkopf vermengt.
Stefano schnalzte mit der Zunge. „Schau dich doch an, Zweifel. Du musst ziemliche Schmerzen haben. Wie bedauerlich.“
Ganz langsam bewegte Sabin seinen unverletzten Arm hinter den Rücken, wo ein Dolch an einer Kette befestigt war. Er spürte das kalte Metall auf seiner Haut.
„Oh, das würde ich an deiner Stelle nicht tun“, sagte Stefano, hob seinerseits den Arm und zielte mit seiner Waffe auf Sabins Gesicht.
Sabin hielt in seiner Bewegung inne. „Wir wissen beide, dass du mich nicht töten wirst.“
„Mag sein. Aber ich hab kein Problem damit, dich zu verletzen und an die Schwelle des Todes zu bringen. In meinem Team gibt es Ärzte, die wissen, wie man Leute rettet, die nur noch einen Herzschlag vom Tod entfernt sind.“
„Was bist du doch für ein Schlaumeier!“ Verdammt, sein Kopf war mit einem scheußlichen Nebel gefüllt. Ein Nebel, der nichts mit körperlicher Schwäche zu tun hatte, sondern mit … Drogen? Hatte Stefano ihm irgendetwas gespritzt, während er bewusstlos war? Zuzutrauen wäre es ihm, diesem Arschloch.
„Ja. Ja, das bin ich tatsächlich. Sonst hätte ich dir wohl die Glieder einzeln abgeschnitten, wie ich es eigentlich vorhatte. Und Darlas Namen hätte ich dir auch längst in die Brust eingebrannt.“
Den Namen seiner Geliebten aus dem Munde dieses Mannes zu hören war wie eine Besudelung. „Sie hat dich gehasst, wusstest du das? Du denkst, ich hätte sie von dir weggelockt, sie dir ausgespannt, aber nein, ganz im Gegenteil: Sie ist geradezu in meine Arme geflogen. Freiwillig.“
Stefanos Nasenflügel bebten. „Du Lügner! Sie hat mich geliebt! Sie hätte mich niemals betrogen. Aber du und dein Dämon, ihr habt Chaos in ihren Kopf gebracht, habt sie völlig umgekrempelt.“ Er atmete erregt ein und aus, mit der ganzen Heftigkeit seiner Wut. „Die ganzen letzten elf Jahre hab ich gebetet, dass du dir eine Geliebte zulegen würdest, die ich dir wegnehmen könnte, aber das hast du nie getan. Und ich bin es leid zu warten. Ich werde dir stattdessen deine Freunde und deine Würde nehmen. Und dann, ganz zum Schluss, dein Leben.“
„Und mit einer solchen Gewalt willst du aus der Welt einen besseren Ort machen?“, fragte Sabin trocken. „Wie steht’s mit Frieden und Harmonie?“
Stefano fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Sein Ausdruck veränderte sich, der Zorn wich einer Art Gefasstheit, als ob Sabins Frage ihn an seine Lebensaufgabe erinnerte. „Wo ist das Mädchen?“
„Vielleicht haben wir sie verkauft?“ Sabin streckte einen Finger aus und tippte auf die Spitze seines Messers. „Oder womöglich in Stücke geschnitten und zum Frühstück verspeist?“ In diesem Moment beneidete Sabin Gideon. Er hasste es, dass er selbst immer so eine schlechte Figur machte, wenn er sich im Lügen versuchte. Er hasste es, sich immer mit diesen linkischen „Vielleichts“ und „Womöglichs“ zu behelfen. Denn jeder, der ihn kannte, kannte auch seine Tricks.
Und Stefano kannte ihn. „Wo ist sie, Dämon? Sie muss hier ganz in der Nähe sein. Ihr wusstet, dass sie bei uns war, und hättet nie zugelassen, dass sie euch mehr als drei Schritte von der Seite weicht.“
Wieder wogte ein Nebelschwall durch seinen Geist und Sabin wurde schwindelig. Verlier nicht die Kontrolle. Lass Stefano nicht die Oberhand gewinnen.
Du bist verletzt. Er hat bereits die Oberhand.
Sabin biss die Zähne zusammen. Wie oft haben wir eigentlich schon darüber gesprochen? Wenn du leben willst, dann bringe die Jäger zum Zweifeln, nicht mich.
Der Typ hat sein Gehirn verschlossen. Er braucht eine Ablenkung. Gib ihm etwas zu denken.
Eine Ablenkung. „Das bringt die Erinnerung zurück, findest du nicht?“, fragte Sabin schließlich. „Wir waren schon mal in einer ähnlichen Situation, wir beide, nur dass du damals verletzt warst. Du und deine Männer, ihr seid in meine New Yorker Wohnung eingefallen, um uns im Schlaf zu überraschen. Aber du hast schnell kapiert, dass das ein Fehler war. Hast Bekanntschaft mit meinem Lieblingsmesser gemacht. Ich hab deinen Bauch erwischt, stimmt’s?“
Stefanos Nasenflügel bebten. „Ja, und du hast geglaubt, ich wäre tot. Hast deine Sachen gepackt und bist weitergezogen, hast mich dort liegen lassen. Aber meine Verletzung ist verheilt und mein Hass auf dich noch größer geworden.“
Ich hab ihn, trumpfte Zweifel auf. Schnell flüsterte er dem Jäger direkt in dessen Kopf: All dieses Planen und ewige Auflauern, der Verlust an Kämpfern, die Kosten für Waffen und Munition – und was, wenn es immer noch nicht reicht? Was, wenn die Herren der Unterwelt wieder einmal unversehrt davonkommen?
„Los, erzähl mir von dem Mädchen. Ich will die Wahrheit wissen“, bellte Stefano. „Ihr hättet sie niemals getötet. Sie ist das Auge.“
„Das was, bitte?“ Sabin wusste zwar, dass die Jäger Danikas auserwählte Fähigkeit kannten, fragte sich jedoch gerade, wer es ihnen erzählt haben könnte.
„Hast du gerade gesagt, dass sie ein Auge ist? Klar, ihre Augen sind ganz hübsch, aber sie allein darüber zu definieren …“
Während er sprach, infiltrierte Zweifel weiter Stefanos Geist: Vielleicht führt sie die Herren gerade in diesem Moment zum dritten Artefakt. Wenn sie die Büchse als Erste finden, gibt es keine Möglichkeit mehr, die Dämonen zu bändigen. Sabin wird leben, und du wirst eines Tages sterben.
Stefano kniff die Augen zusammen. Die Pistole in seiner Hand zitterte.
„Hör auf damit!“
Sabin blinzelte unschuldig, während er hinter dem Rücken seine Finger um das Messer schlang. „Womit soll ich aufhören?“
„Hör auf, mir diese vergifteten Gedanken einzuschleusen. Hast du es genau so auch mit Darla gemacht? Hast du sie so umgebracht?“
„Sie hat sich selbst umgebracht.“ Er musste vorsichtig sein. Er wollte Stefano nicht so stark provozieren, dass der ihm womöglich ins Gesicht schoss. Eine solche Wunde würde ihn bis in alle Ewigkeit zeichnen, vielleicht sogar töten. „Du siehst so aus, als würde dein Kopf gleich explodieren. Kann ich dir irgendwie helfen? Vielleicht, indem ich dir erzähle, dass ihr für einen Dämon arbeitet?“
Stefano fletschte wütend die Zähne. „Versuch ruhig, den Idioten zu spielen. Am Ende wird dir und dem Mädchen auch das nicht helfen. Und hör endlich auf, mich mit deinen dreckigen Lügen zu manipulieren. Mein Anführer ist ein Engel, und unseren Auftrag haben wir direkt aus dem Himmel erhalten.“
Sabin sah die Muskeln am Finger des Jägers zucken und wusste, dass er nur noch einen Atemzug davon entfernt war, den Abzug zu drücken. So zornig, wie er war, war es ihm womöglich egal, Sabin noch länger am Leben zu halten.
Das bestätigten Stefanos nächste Worte: „Mir ist es egal, was mit deinem Dämon passiert, wenn du tot bist. Ich will einfach nur, dass du bestraft wirst und endlich von der Bildfläche verschwindest. Ein für alle Mal.“
Nein, den kümmerte tatsächlich nichts anderes mehr. Sabin mobilisierte seine letzten Kraftreserven – in allerletzter Sekunde. Ein Knall ertönte, eine Kugel sauste an seiner Schulter vorbei, streifte und verbrannte seine Haut, drang aber glücklicherweise nicht ein. Und bevor sein Gegner Zeit hatte, einen weiteren Schuss abzufeuern, sprang Sabin auf, trat mit seinem Bein aus und traf Stefanos Knöchel. Als dieser strauchelte und schließlich mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel, trat ihm Sabin mit dem Fuß die Pistole aus der Hand.
Irgendwo im Hintergrund hörte er Schritte auf dem Marmorboden. Feind oder Freund?
Stefano wich auf allen vieren krabbelnd zurück. Sabin wäre so gern zu ihm gerannt, hätte dem Bastard die Nase eingeschlagen, die Kehle durchgeschnitten oder, oder, oder … Aber seine Kräfte hatten ihn endgültig verlassen. Er keuchte, ihm war immer noch schwindelig, und seine Muskeln waren derart verkrampft, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Er konnte nur noch abwarten und hoffen, dass es einer seiner Freunde war, der da um die Ecke kam.
„Wir sind noch nicht fertig miteinander.“ Stefano, der plötzlich wieder stand, spuckte ihm den Satz fast vor die Füße. Doch dann schaute er den Flur entlang und wurde bleich.
Den Göttern sei Dank! Das bedeutete, dass Sabins Freunde den Gang entlangkamen. Oder zumindest einer von ihnen. Aus dem Augenwinkel sah Sabin Gideon, der gerade seine Waffe hob.
„Sabin“, schrie Gideon. „Shit! Ich bin nicht wegen dir hier, Mann!“
Weil er offenbar keinen anderen Ausweg wusste, raste Stefano zum Fenster und warf sich hinaus. Ein Sprung in den sicheren Tod – wenn ihn nicht ein Sprungtuch unten erwartete. Warum hatte er so schnell aufgegeben?
Gideon blieb nicht bei Sabin stehen, um seinen Freund zu untersuchen, sondern stürzte direkt zum Fenster. Sabin grinste schwach. Ich habe ihn gut trainiert, dachte er, bevor ihm schwarz vor Augen wurde. Dann gaben seine Knie nach, und er sackte zu Boden.
„Ich glaube voll und ganz, was ich sehe! Das Arschloch wurde nicht von unserem speziellen Freund und seinen Federflügeln gefangen.“ Dann ballerte Gideon mit seiner Pistole drauflos, bis sich der Abzug nicht mehr ziehen ließ und man nur noch ein Klicken hörte. „Großartig! Hab ihn erledigt.“
Sabin blinzelte, bis sein Blick wieder etwas klarer wurde, und plötzlich sah er den Unsterblichen vor sich, der für all seine Qualen verantwortlich war: Galen schwebte mit ausgebreiteten weißen Flügeln vor dem Fenster entlang, groß, stark und gut aussehend wie immer – als wären in der Zwischenzeit nicht zigtausend Jahre vergangen.
Er grinste.
Sabin hätte gedacht, besser auf diese Begegnung vorbereitet zu sein. Oder zumindest so gut vorbereitet zu sein, wie man es nach dem Schock von Luciens Enthüllung vor ein paar Stunden überhaupt sein konnte. Aber das war er nicht.
„Jetzt weißt du’s“, rief Galen mit derselben kraftvollen, charismatischen Stimme, die Sabin in Erinnerung hatte. „Jetzt beginnt der eigentliche Spaß.“
Es waren die letzten Worte, die Sabin hörte, bevor er das Bewusstsein verlor.