20. KAPITEL
Danika kuschelte sich an Reyes’ warmen Körper. Seit Stunden schon war sie in einem köstlichen Dämmerzustand, eingelullt von der berauschenden Befriedigung, die sie immer noch am ganzen Körper spürte. Reyes schlief wie ein Stein, nicht ein Mal war er zwischenzeitlich aufgewacht. Er hatte sich weder bewegt, noch irgendein Geräusch von sich gegeben. Zweimal schon hatte sie ihr Ohr auf seine Brust gelegt, um sich zu vergewissern, dass sein Herz noch schlug.
Jetzt war sie wach, warm und satt. Nur ihr Geist war aufgewühlt, weigerte sich, zur Ruhe zu kommen. Mit Reyes zusammen zu sein war … alles, was sie niemals gewollt hatte. Perfekt, grandios, überraschend, außergewöhnlich. Noch nie hatte ein Mann ihr so gefallen.
Jede Berührung seiner glühenden Haut hatte bei ihr einen Funkenschlag der Begierde ausgelöst. Die Wellen der Lust hatten sich so wunderbar in die Länge gezogen und sie von einer Ekstase zur nächsten getragen. Und dass er ihr nicht erlaubt hatte, emotional auf Distanz zu bleiben … Noch jetzt lief ihr ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken. Sie hatten sich vereinigt, mit Körper und Seele – und sie hatte es genossen.
Doch eine Frage quälte sie – neben der Tatsache, dass er zum Ende hin verschwunden war, aber gedacht hatte, sie hätte es sich nur eingebildet. Nun, vielleicht hatte sie das auch. Ihr Höhepunkt war so intensiv gewesen, dass sie vielleicht ein Blackout gehabt hatte; womöglich hatte sie nur geträumt, er wäre gegangen, und war dann kurz darauf unter ihm aufgewacht. Nein, was sie mehr als alles andere interessierte, war, ob er Lust verspürt hatte.
Wenn er nicht simuliert hatte, war er zum Höhepunkt gekommen. Obwohl er ihr nicht erlaubt hatte, ihm wehzutun. Dabei war es doch genau das, was er brauchte, um Lust zu empfinden. Und sie war ja auch bereit gewesen, es zu tun. Und zwar gar nicht mal nur, um ihn dadurch zu ihrer schlimmsten Bettkatastrophe zu machen und anschließend leichter aus dem Kopf zu kriegen, sondern vielmehr, um ihm alles zu geben, was er wollte und brauchte. Inklusive Schmerzen. Sie hatte ihm genauso intensiv in Erinnerung bleiben wollen, wie sie ihn in Erinnerung behalten würde.
Er hatte behauptet, sie nicht mit der Gewalt in Berührung bringen zu wollen, die sein Leben beherrschte. Und sie hatte ihrerseits geglaubt, nichts mit dieser Gewalt zu tun haben zu wollen. Aber als er sie gestreichelt, als sein Mund sie liebkost hatte, da hatte es sie aus tiefstem Herzen gedrängt, ihm jeden einzelnen seiner Wünsche zu erfüllen.
Andere Frauen hatten ihm auf Wunsch doch auch wehgetan. Warum hatte sie das nicht gekonnt?
Danika wandte den Kopf und betrachtete den schlafenden Reyes. Weich und entspannt lag er da, die harten Linien seiner inneren Anspannung waren nicht mehr zu sehen. Seine vollen Lippen schimmerten rosig, etwas, was sie nie bemerkte, wenn seine intensiven Augen sie ansahen.
Vorsichtig strich sie ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Er atmete einmal tief ein, zeigte aber ansonsten keine Reaktion. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es wachsen, als würde es sich ausdehnen und ihren Brustkorb sprengen.
Ich hab mich in ihn verliebt. Sie konnte es nicht mehr leugnen, egal wie sehr sie sich bislang dagegen gewehrt hatte.
Er hatte sich um sie gekümmert, hatte sie mit Essen und Kleidung versorgt und ihr Unterschlupf gewährt. Nicht ein einziges Mal hatte er ihr wehgetan, selbst dann nicht, als es ihm befohlen worden war. Er hatte Malutensilien für sie gekauft und ihr für ihren Zeitvertreib ein Atelier eingerichtet. Und er hatte in einer Weise mit ihr geschlafen, als wäre sie ihm wichtiger als sein nächster Atemzug.
Seine Stärke und sein Mut überraschten sie immer wieder aufs Neue, und seine Vergangenheit faszinierte sie. Allein schon, dass er sich freiwillig hatte einsperren lassen, weil er anderen Menschen nicht länger wehtun wollte. Er hatte Selbstbeherrschung gelernt. Mitgefühl. Und Entschlossenheit. Er war von einem Dämon besessen und hatte trotzdem das Herz eines Engels. Dieser Widerspruch entzückte sie. Wahrscheinlich könnte sie ihr ganzes restliches Leben an seiner Seite verbringen und würde trotzdem nie aufhören, neue Facetten an ihm zu entdecken und zu bestaunen.
Oh ja, sie war verliebt! Aber was zum Teufel war das für ein summendes Geräusch?
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und berührte dabei mit ihrer Wange Reyes’ glühende Haut. Sofort beschleunigte sich sein Puls. Es dauerte eine Weile, bis sie die Geräuschquelle des merkwürdigen Summens, das in Intervallen ertönte, ausmachen konnte: ihre Hose. Das bedeutete …
Entsetzen machte sich in ihr breit. Sie bekam gerade einen Anruf auf ihrem Handy. Und nur eine Person hatte die Nummer: Stefano. Sie schluckte. Einen Moment wünschte sie, er wäre tatsächlich vorhin im Nachtclub gewesen – als einer von denen, mit denen Reyes gekämpft hatte. Dann wäre ihr innerer Konflikt jetzt vorbei, und sie müsste sich nicht mehr fragen, zu wem sie halten und was sie tun sollte. Doch sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie schon Schuldgefühle überfielen.
Danika rutschte vorsichtig vom Bett herunter und schaute dabei ängstlich, ob Reyes sich regte. Aber er lag immer noch entspannt und ruhig da. Ein Teil von ihr hoffte fast, dass er die Augen aufschlagen, das Telefon entdecken und sie vor sich selbst beschützen würde. Der andere Teil hoffte, dass er einfach genau so liegen blieb wie die letzten Stunden. Sie war nackt. Ihre Brustwarzen waren wieder hart, diesmal von der kühlen Luft. Ein intensiver Blick aus seinen dunklen Augen, und sie würde sofort dahinschmelzen, ohne auch noch eine Sekunde an die Jäger zu denken. Sie würde Reyes anflehen, sie wieder mit seinem Mund zu berühren und mit seiner Hitze ihre Kälte zu vertreiben.
Auf zittrigen Beinen stolperte sie zu ihrer Jeans und wäre fast umgekippt, als sie sich bückte, um das Telefon aus der Tasche zu ziehen.
Das Summen ging weiter.
Noch ein Blick auf Reyes – er schlief immer noch tief und fest. Was machst du da? Bitte nicht!
Ich muss, es ist die einzige Möglichkeit, um Reyes zu retten.
Sie tappte ins Badezimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Erst dann nahm sie ab. Mit trockenem Mund flüsterte sie: „Hallo.“
Wie schon beim letzten Mal hielt sich Stefano nicht lange mit Höflichkeiten auf. „Du hast die Burg verlassen.“ Das war eine Feststellung, keine Frage.
Gestern war sie froh gewesen, ihn irgendwo dort draußen zu wissen, erleichtert, dass er sie im Auge hatte. Jetzt hingegen … „Ja.“
„Offenbar haben sie dich freigelassen.“
„Ja“, wiederholte sie, und ihr fiel ein, dass sie ihn das letzte Mal angelogen hatte, als sie ihm erzählte, sie wäre in einem Schlafzimmer eingesperrt.
„Wo bist du jetzt?“
„In einem Badezimmer.“
„Allein?“
„Ja.“
„Arbeitest du für uns, Danika? Oder für sie? Hast du alles vergessen, was ich dir gesagt habe? Herrgott noch mal, sie wollen deine Familie töten!“
Gnadenlos wie eine Schlinge hing seine Frage über ihr, bereit, sich um ihren Hals zu legen und zuzuziehen – egal wie sie antwortete. „Sie wissen, dass ich …“ Was?
„Sobald sich die Gelegenheit ergibt, werden sie deine Mutter vergewaltigen und verstümmeln. Und danach deine Schwester. Deine Großmutter haben sie ja bereits umgebracht.“
Mit aller Macht wehrte sich Danika dagegen, das zu glauben. Heftig schüttelte sie den Kopf.
„Wir holen dich da raus“, fuhr er ohne Umschweife fort. „Zu deinem eigenen Schutz. Meine Informationsquellen sagen mir, dass derjenige, der sich Aeron nennt, kurz vor dem Wahnsinn steht vor lauter Mordlust. Lust, dich zu ermorden. Aber wir wollen nicht, dass dir etwas geschieht. Anders als die Herren der Unterwelt wollen wir dich beschützen.“
Sie herausholen? „Warten Sie. Sie wollen mich aus der Burg herausholen?“
„So schnell wie möglich.“
Nein. Am nächsten Morgen würden sie und Reyes nach Oklahoma reisen. „Nein, ich kann nicht. Sie können nicht. Ich …“
„Du hast keine andere Wahl, Danika. Wir richten uns sogar darauf ein, noch heute in die Burg einzudringen. Anders als bei ihnen hat bei uns das menschliche Leben sehr wohl einen Wert. Wir wollen dich in Sicherheit bringen.“
Was? Sie wollten in die Festung einbrechen? Zweifellos würde es dann zu einem Kampf, zu Blutvergießen und Todesopfern kommen. Sie versuchte, nicht sofort in Panik auszubrechen, doch das Blut in ihren Adern schien bereits schockgefroren, und in ihren Ohren schrillte es. „Wenn Sie glauben, dass ich für die andere Seite arbeite, warum haben Sie dann angerufen? Warum warnen Sie mich? Warum wollen Sie mir helfen?“
„Jeder kann einen Fehler machen. Wahrscheinlich haben sie dich angelogen, haben dir weisgemacht, sie würden deine Familie in Ruhe lassen, wenn du nur bei ihnen bleibst und ihnen in der einen oder anderen Sache hilfst. Vielleicht sogar dabei, uns auszuschalten.“
Mehrmals öffnete und schloss sie den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Alles, was er sagte, ergab Sinn.
„Wirst du dich bereithalten?“
Sie konnte es nicht länger hinauszögern, konnte nicht länger im Spagat zwischen beiden Optionen stehen, musste sich endlich darüber klar werden, wem sie helfen und wen sie bekämpfen wollte. Und zu ihrer Überraschung musste sie plötzlich nicht mehr darüber nachgrübeln. Was Stefano sagte, ergab Sinn, aber es fühlte sich nicht richtig an. Irgendwann in den vergangenen Tagen war ihr Hass auf Reyes verschwunden und durch … etwas anderes ersetzt worden. Sie hatte keine Ahnung, was für Gefühle in ihr schlummerten, sie wusste nur, dass sie zugleich zärtlich sanft und stürmisch leidenschaftlich waren. Sie würde sich Reyes bei der Suche nach ihrer Familie anvertrauen – und sich von der Sicherheit, die die Jäger ihr versprachen, verabschieden.
„Ja“, log sie.
„Kluges Mädchen.“ Stefanos Erleichterung war fast greifbar. „Wie viele Krieger sind in der Burg?“
„Alle“, log sie erneut. Am Morgen waren die meisten von ihnen aufgebrochen. Hatte Stefano ihren Aufbruch beobachtet? Oder hatten sich die Krieger einfach in Luft aufgelöst, so wie Lucien es öfter tat?
Wenn Stefano die Wahrheit kannte, würde er die Erstürmung der Burg als Kinderspiel betrachten. Lüge weiter. Vielleicht hat er keine Ahnung. Sie ließ sich auf den Toilettendeckel fallen, weil ihre Beine sie plötzlich nicht mehr tragen wollten. Dann beugte sie sich vor und stützte ihre Ellbogen auf die Knie. Mit einer Hand hielt sie sich das Telefon ans Ohr, mit der anderen rieb sie sich über die Schläfen, um die plötzlich aufziehenden Kopfschmerzen zu vertreiben. „Sie sind schwer bewaffnet. Sie sollten es nicht riskieren, die Burg zu stürmen. Ist es nicht besser, wenn ich mich herausschleiche und zu Ihnen komme?“ Sie könnte Reyes sagen, wo die Jäger auf der Lauer lagen, und er würde … sich um alles Weitere kümmern.
„Du bist für so etwas nicht ausgebildet. Es ist besser, wenn wir uns um deine Rettung kümmern.“
Was konnte sie noch tun? Was sollte sie sagen, um Stefano aufzuhalten?
„Glaubst du, dass du das Dach erreichen kannst, ohne entdeckt zu werden?“
„Ich … ich …“ Shit! „Vielleicht. Wann soll ich da sein?“
„In einer Stunde.“
Oh mein Gott. Eine Stunde. Würde Reyes Lucien in dieser Zeit kontaktieren können? Könnte Lucien die anderen so schnell herbeischaffen? Danika wurde übel. „Ich tue mein Bestes“, sagte sie und versuchte verzweifelt, ihn nicht misstrauisch zu machen. Ihre Stimme war schwach, kaum zu hören.
„Enttäusche mich nicht, Danika. Oder muss ich dich daran erinnern, was auf dem Spiel steht?“ Stefano legte auf, und Danika steckte das Handy weg.
Sie richtete sich nicht wieder auf, dazu war sie gar nicht in der Lage. Das Luftholen war schon beschwerlich genug. Herrje, es gab so viel zu tun, und schon der kleinste Fehler ihrerseits konnte Reyes die Freiheit kosten – oder das Leben.
„Interessantes Gespräch.“
Die barsche Bemerkung flog ihr so um die Ohren, dass sie vor Schreck zusammenzuckte, kreidebleich im Gesicht. Mit undurchschaubarem Gesichtsausdruck stand Reyes in der geöffneten Badezimmertür. Er lehnte am Türrahmen, einen Arm hatte er in trügerisch lässiger Pose auf den Rücken gelegt. Er hatte seine Jeans übergezogen, sich aber nicht die Mühe gemacht, sie zu schließen. Ansonsten war er nackt. Seine verschorften Wunden waren gänzlich verschwunden.
„Es ist nicht so, wie du denkst. Ich schwöre es dir.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Also hast du nicht mit einem Jäger gesprochen?“
Sie sprang auf, ihr Mund klappte auf und zu.
Mit einer ruckartigen Kopfbewegung löste er seinen Blick von ihr und warf ihr mit dem Arm, den er eben noch hinter seinem Rücken versteckt hatte, ein T-Shirt zu. „Zieh dich an. Lucien ist hier. Er will mit dir sprechen.“
Sie fing das T-Shirt auf und zog es hastig über, um ihre Nacktheit zu verbergen. Für weniger als eine Sekunde konnte sie nichts sehen, aber als das T-Shirt die Sicht wieder freigab, stand Reyes nicht mehr im Türrahmen.
Obwohl ihr das Shirt bis zu den Knien reichte, fühlte sie sich immer noch halb nackt, als sie ins Schlafzimmer huschte. Kühle Luft wehte ihr um die Beine. „Reyes, ich habe alles nur getan, um dir zu helfen. Du musst mir glauben.“
Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie Lucien erspähte. Der Krieger stand in voller Montur da, und diese Montur war blutgetränkt. Reyes stand jetzt neben ihm. Beide Männer starrten sie erwartungsvoll an.
„Hört zu“, beeilte sie sich zu sagen, „die Jäger erwarten von mir, dass ich alle Informationen über euch, die ich kriegen kann, zusammentrage und ihnen weiterleite. Und ich gebe zu, dass ich das anfangs auch versucht habe. Die Jäger, die mich gefangen und gebeten haben, euch auszuspionieren, werden von einem Mann namens Stefano angeführt. Er hat versprochen, mir zu helfen, meine Familie zu finden und zu beschützen. Und damit das überhaupt möglich ist, dachte ich, müsstest ihr vernichtet werden. Aber als ich dann hierherkam, habe ich es einfach nicht über mich gebracht, euch zu bespitzeln. Seit meiner Ankunft hier habe ich nur zweimal mit Stefano gesprochen, und zwar ohne ihm dabei irgendwelche nützlichen Informationen zu geben.“
„Ist das alles?“, fragte Reyes überraschend ruhig.
Sie nickte.
„Na schön. Kommen wir zu einem anderen Thema. Ich hab Lucien erzählt, was du mir berichtet hast: dass es nämlich noch andere Wesen gibt, die in ähnlicher Weise besessen sind wie wir. Weißt du sonst noch etwas über sie?“
Sie hob eine Hand und schüttelte den Kopf. Warum beschuldigte er sie eigentlich nicht, mehr zu wissen, als sie vorgab? Warum warf er ihr nicht vor, Wissen zurückzuhalten? „Worüber redest du überhaupt?“
„Über die Männer im Verlies, diejenigen, die die Dämonen beherbergen, die wir freigelassen haben.“
„Als wäre das jetzt wichtig. Kann ich nicht mal ausreden? Bitte. Es ist dringend. Es geht um Leben und Tod.“
Reyes’ Augen wurden zu schmalen Schlitzen, aber er sagte nichts mehr.
„Die Jäger sind kurz davor, die Burg anzugreifen. Ihr habt noch eine Stunde, wahrscheinlich nicht mal mehr, bis sie hier sind.“
„Du hast früher gemalt“, bemerkte Reyes, als hätte sie überhaupt nichts gesagt. Seine Miene war noch immer vollkommen ausdruckslos. „Wo sind die Bilder?“
Danikas Blick sprang zwischen Lucien und Reyes hin und her. Was zum Teufel war mit ihnen los? Sie machte reinen Tisch und gab ihren geplanten Verrat zu – und das war alles, was Reyes dazu zu sagen hatte? Sie warnte ihn vor einem Angriff durch eine Horde waffenstarrender Männer, und er interessierte sich für nichts weiter als ihre alten Bilder?
„Ich wäre schon eher gekommen“, sagte Lucien, „aber ich wurde von ein paar Seelen gerufen und konnte ihnen den Dienst nicht verweigern. Allerdings war ich zwischendurch kurz hier, aber du hast mich nicht gesehen, weil du, wie Reyes mir sagte, gemalt hast. Ich muss das Bild unbedingt sehen, Danika.“
„Ich sag dir aber nicht, wo es ist! Nicht bevor mir jemand von euch erklärt, warum ihr euch in keinster Weise um die Jäger kümmert. Sie planen, euch gefangen zu nehmen und die Dämonen aus euch herauszuholen. Sie suchen sogar nach der Büchse.“
Jetzt blitzte etwas in Reyes’ Augen auf. Was es war, wusste sie nicht. Es war dunkel und gefährlich, unheilvoll, aber auch aufregend. „Torin sieht den gesamten Hügel auf seinen Monitoren. Er hat sehr wohl gemerkt, dass sie unser Anwesen betreten haben, und bereits einige von ihnen ausgeschaltet.“
Ausgeschaltet. Schöne Umschreibung für „getötet“. Danika rieb sich über den Bauch – ein vergeblicher Versuch, den plötzlichen Aufruhr in ihrem Magen zu beruhigen. „Also hat Stefano mich angelogen? Sie warten gar keine Stunde mehr, sondern haben mit dem Angriff bereits begonnen?“
„Ja, er hat gelogen. Er hat dir nicht vertraut“, sagte Lucien. „Und lass mich raten: Er hat dich gebeten, aufs … Dach zu steigen?“
Benommen nickte Danika.
„Das hat er gesagt, weil er annimmt, dass du genau das Gegenteil tun wirst. Sie haben eine kleine Bodentruppe, die dich schnappen wird. Und jetzt sag mir, was du über die Büchse weißt. Jedes noch so kleine Detail kann wichtig sein, aber beeil dich, denn ich werde draußen gebraucht.“
Sie richtete ihren Blick auf Lucien, denn es fiel ihr leichter, ihn anzuschauen als Reyes. Wenigstens konnte sich so ihr Puls etwas beruhigen und ihre Lungen sich einmal mit Luft füllen. „Ich hab Reyes bereits alles gesagt, was ich darüber weiß, und das ist herzlich wenig.“
„Weißt du, wo sie sich befindet? Und wo sich die anderen Träger von Dämonen aufhalten? Weißt du, ob sie immer noch eingesperrt sind?“
„Ein klares Nein auf alle Fragen. Ich weiß es nicht.“
„Meinst du, deine Großmutter weiß es?“
„Da müsstest du sie fragen.“ Sie hoffte inständig, dass dies überhaupt noch möglich war.
Lucien legte seinen Kopf schräg. „Paris hatte eine Vision, in der du eine Rolle spieltest.“ Seine seltsam gefärbten Augen schienen in den Augenhöhlen zu strudeln und sie herbeizulocken. Ein intensiver Rosenduft füllte plötzlich den Raum. „Du hieltest die Büchse in den Händen. Lächelnd.“
Ungläubig musste sie lachen. „Völlig unmöglich.“
„Wenn du etwas weißt …“ Lucien kam immer näher.
Sie wollte wegrennen, aber ihre Füße waren wir festgewachsen. Und plötzlich wollte sie nicht mehr fliehen. Der Krieger stand direkt vor ihr, keine Handbreit entfernt, und der Rosenduft drang in jede Zelle ihres Körpers. Ihr Geist schwebte wie auf Wolken, sämtliche Muskeln entspannten sich. Was immer er von mir verlangt, ich tue es. Mit Vergnügen.
„Was weißt du, Danika? Sag’s mir.“
„Nichts“, antwortete sie, und ihr Kopf kippte nach vorn. Sie spürte, dass sie fallen würde, konnte aber nichts dagegen tun. Und ein Teil von ihr wollte auch gar nichts dagegen tun.
Plötzlich war Reyes da, schlang einen Arm um ihre Hüfte und hielt sie aufrecht. Er war stark und warm und vertrieb ihre innere Kälte. „Das reicht, Lucien.“
„Reyes“, blaffte Lucien so ruppig, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatte.
„Nein“, gab Reyes nicht minder harsch zurück.
„Ich hab euch nicht verraten“, sagte Danika. Ihre Wange ruhte auf seiner Brust. Sie hoffte inständig, er würde ihr glauben. Jetzt, wo sie sich ihre Gefühle für ihn endlich eingestanden und sie zugelassen hatte, durfte sie ihn einfach nicht verlieren. Nicht jetzt.
„Ich weiß.“ Er streichelte mit seinem Finger über ihre Hüfte. Auf und ab, auf und ab.
„Warte. Was? Das weißt du?“
„Ja.“
Sie riss ihre Arme hoch. „Und warum warst du dann wütend auf mich?“
„Wütend? Ich war nicht wütend.“
„Du hast dich auf dem Absatz umgedreht und mich stehen lassen. Du hast mich kaum eines Blickes gewürdigt.“
„Mein Engel“, sagte er seufzend. „All diese Gefühle sind … neu für mich. Ich war geschockt, dass du mit einem Jäger sprichst, ich hab mich um deine Sicherheit gesorgt, und ich wollte dich mit all meiner Glut und Inbrunst nicht verschrecken. Dass du mich beschützen wolltest, habe ich daran erkannt, dass du dem Jäger eine falsche Zahl von hier anwesenden Kriegern genannt hast. Aber gleichzeitig wusste ich, dass du uns damit, ohne es zu wollen, Probleme bereitet hast.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Jetzt denken sie, wir wären alle in der Burg, obwohl ja nur ein paar von uns hier sind. Sie werden also Verstärkung an Männern und Waffen ordern.“
Sämtliche Wärme entwich ihrem Körper. „Es tut mir so leid. Daran hab ich nicht gedacht … Ich dachte bloß … dass, wie Lucien sagte, dass Stefano mir nicht traut“, stammelte sie. „Dass er annimmt, dass ich lüge. Dass er vielleicht denkt, nur ein paar von euch seien hier.“
„Ich kann die anderen herbeischaffen“, sagte Lucien. „Dann wären wir auf das Schlimmste vorbereitet.“
Oh Gott, jetzt würde es doch zum Kampf kommen.
„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte Reyes sie. „Alles wird gut. Und jetzt zu deinem Bild“, erinnerte er sie. „Hol es her. Bitte. Wir müssen schauen, ob das, was du gemalt hast, irgendetwas bedeutet oder uns in irgendeiner Form weiterhelfen kann.“
Sie nickte, während gleichzeitig ein Telefon so laut zu klingeln begann, dass das Geräusch von den Wänden widerhallte.
Stirnrunzelnd griff Lucien in seine Tasche und bellte ein kurzes „Ja“ in den Hörer.
Ein Moment verstrich.
Als er schließlich auflegte, hatten sich die Falten auf seiner Stirn noch vertieft. „Sabin ist ungeduldig.“
„Bin gleich wieder da.“ Danika flitzte in ihr Atelier und hob das zweite Bild, das sie gemalt hatte, von seinem Platz an der Wand. Sie betrachtete zuerst die leuchtenden Farben und dann die Konstellation der gemalten Figuren. Auf dem oberen Teil der Leinwand saßen zwei Männer und eine Frau, alle drei weiß gewandet, auf Thronen und starrten hoheitsvoll herab. Auf dem unteren Teil führte ein atemberaubend schöner Mann mit Engelsflügeln und Teufelshörnern eine menschliche Armee durch einen See voller Blut.
Auf seinem Unterbauch prangte ein Schmetterlingstattoo, das ebenso bedrohlich wirkte wie das von Reyes und der anderen Krieger. Da das Bild noch nicht ganz getrocknet war, trug Danika es mit besonderer Vorsicht ins Schlafzimmer, wo sie es mit ihren Beinen abstützte. „Hier.“
Den beiden Männern verschlug es den Atem, als sie es sahen.
„Was ist?“, fragte sie.
„Hast du eine Ahnung, wer diese Figuren hier sein könnten?“, fragte Lucien mit angespannter Stimme.
„Nein“, antwortete sie, und sie wusste es tatsächlich nicht. Außer dem, was sie aufgemalt hatte, wusste sie nichts über die Figuren. „Aber ich habe sie in meinen Albträumen gesehen“, bekannte sie. „Oft, immer wieder.“
„Kronos, der König der Götter, sitzt auf dem mittleren Thron. Atlas und Rhea sitzen zu beiden Seiten. Die Menschen am unteren Bildrand sind Jäger.“
„Und der Anführer der Armee“, vervollständigte Reyes mit gepresster Stimme, „ist Galen. Der Hüter der Hoffnung.“
Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick.
„Ich kann’s nicht glauben. Wenn uns dieses Bild die Wahrheit sagt, dann ist er der Anführer der Jäger.“ Lucien schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie vermutet … hätte nie gedacht … Warum sollten ihm die Jäger freiwillig folgen? Ihm, einem Dämon?“
Reyes streckte eine Hand aus und fuhr mit der Fingerspitze über das Gesicht des Mannes mit den Flügeln. Als er feststellte, dass die Farbe noch feucht war, ließ er den Arm schnell sinken. „Komisch, dass Danika und ich gerade von ihm gesprochen haben. Und trotzdem: Ich kann’s auch nicht glauben.“
„Damit müssen wir uns später befassen. Jetzt haben wir keine Zeit dafür. Ich muss die restlichen Krieger herbeamen.“ Lucien warf Danika einen raschen Blick zu. „Erzähl es ihr. Sie muss es wissen.“ Und mit diesen Worten war er verschwunden.
„Was sollst du mir erzählen?“ Danika konnte sich vor Schreck kaum rühren, ihre Finger umklammerten die Leinwand.
Von Reyes ging jetzt eine grimmige Entschlossenheit aus. „Ashlyn hat etwas gehört. Über bestimmte Artefakte, die wir suchen. Wir wissen, dass das zweite dieser Artefakte die Kraft des Sehens besitzt“, erklärte er. „Es muss die Fähigkeit haben, in den Himmel und die Hölle hineinzuschauen.“
Verwirrt runzelte Danika die Stirn. „Wovon redest du?“
„Du bist es.“ Sein Blick traf ihren und hielt ihn fest, seine Augen waren wie eine schwarze Grube, in die sie hineinzufallen drohte. „Du bist das Artefakt, Danika. Du bist das Auge, das alles sieht. Und genau deshalb haben die Götter deinen Tod befohlen. Und deshalb sind auch die Jäger bereits auf dem Weg hierher. Alle wollen ein Stück von dir. Und ich fürchte, sie werden keine Ruhe geben, bevor sie dieses Stück nicht in Händen halten.“