27. KAPITEL
Ich vermisse dich so, mein Engel.“
Keine Antwort, so lange Reyes auch wartete.
Er lag auf seinem Bett. Schon seit Stunden, vielleicht sogar schon den ganzen Tag. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Immer wieder hatte er versucht, sich auf geistiger Ebene mit Danika in Verbindung zu setzen. Sie war oben, im Himmel. Sie war ein Tor, und sie hatte ihn selbst zweimal in den Himmel geschickt. Warum sollte sie das nicht noch einmal tun können? Das Problem war, dass er diesmal nicht in sie eindringen konnte, um sich von ihr den Weg dorthin weisen zu lassen. Deshalb konnte er nur hoffen, dass ihre körperlichen Vereinigungen ein so starkes emotionales Band zwischen ihnen geknüpft hatten, dass dieses jetzt ausreichte, um ihn auch ohne Sex nach oben zu bringen.
„Ohne dich bin ich verloren.“
Sind wir verloren, meldete sich sein Dämon zu Wort.
„Wir sind ohne dich verloren. Und deine Familie sehnt sich natürlich genauso verzweifelt nach dir. Ich hab sie richtig lieb gewonnen, aber das ist ja nicht weiter verwunderlich, denn schließlich haben sie aus dir die Frau gemacht, die du bist. Eine so mutige, tapfere Frau.“
Immer noch nichts.
„Trägst du unser Kind in dir, Danika? Wenn nicht, dann wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dir ein Baby zu machen, deinen Bauch wachsen zu sehen.“
Natürlich wäre eine Schwangerschaft auch keine Lösung. Er schluckte. „Danika“, knurrte er. „Sprich mit mir. Jetzt. Ich bin böse, Danika.“ Natürlich nicht mit dir, niemals mit dir. Aber trotzdem behielt er seinen barschen Ton bei. „Bald werde ich mich wieder ritzen müssen. Ich werde bluten. Und du bist nicht hier, um mich zu verarzten und zu pflegen. Ich …“
Reyes?
Reyes riss die Augen auf. Das war Danikas Stimme, die da in seinem Innern flüsterte. Es hatte funktioniert! Es hatte tatsächlich funktioniert! Er war plötzlich schweißgebadet, wie elektrisiert vor Freude und Erleichterung. Schmerz leuchtete in seinem Geist auf wie ein dämonischer Weihnachtsbaum.
„Danika? Sprich mit mir.“
Oh mein Gott. Bist du es? Bist du es wirklich? Ich habe von dir geträumt, habe für dich gebetet und gefleht.
„Ich bin hier, ich bin hier.“ Tränen brannten ihm in den Augen. „Du musst mich zu dir holen, mein Engel.“
Wie?, fragte sie und klang genauso wild entschlossen, wie er sich fühlte.
„Stell dir mich vor deinem inneren Auge vor, stell dir vor, wie sich deine Hände nach mir ausstrecken und mich umfassen. Du kannst das. Ich weiß, dass du das kannst.“ Es muss klappen. Bitte, lass es funktionieren. „Du bist ein Tor. Du kannst …“
Irgendetwas Kaltes drang in ihn ein, Eis kristallisierte in seinen Adern, aber er blieb reglos liegen. Schmerz streckte sich nach ihr aus, schien sie aber nicht erreichen zu können. „Ich kann dich spüren.“
Ich dich auch, aber …
Ihre Enttäuschung hallte in seinem Innern wider. „Was ist los, mein Engel?“
Ich kann nicht in deinen Geist eindringen. Ich bekomme nur Luft zu fassen, nichts als Luft.
„Dann halt dich an meinem Körper fest.“ Er hatte den Satz noch nicht beendet, als ein paar Finger, durchsichtig, aber fest, seine kalten, robusten Arme umklammerten und ihn so ruckartig und kraftvoll bewegten, dass es ihn aus dem Bett hob und durch die Zimmerdecke katapultierte. Der Gips riss auf, gab nach und rieselte anschließend zu Boden.
Reyes durchschoss eine weitere Zimmerdecke, meinte eine nackte, nach Luft schnappende Ashlyn zu sehen und Maddox, der aus dem Bett rollte und nach seiner Waffe griff. Reyes konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Anhalten?, fragte Danika und verlangsamte bereits das Tempo.
„Nein, nein! Nur weiter, mein Engel. Zieh mich hoch zu dir. Egal was für Geräusche ich von mir gebe, schlepp mich ab.“
Er stieß durch das Dach der Burg und war plötzlich vom Nachthimmel umgeben. Sterne sausten an ihm vorbei wie Blitze. Er schwebte schwerelos, dann wurde er von Wolken umhüllt, die ihm über die Haut strichen und sie mit Feuchtigkeit benetzten.
Der Mond schien immer größer und goldener zu werden, bis er schließlich so nahe war, dass Reyes die Krater auf der Oberfläche sehen konnte. Und dann schoss er plötzlich durch eine Art unsichtbares Schild. Die Luft um ihn herum wurde wärmer, und ihre Schwärze verwandelte sich binnen Sekunden in ein leuchtendes Azurblau. Die Wolken wurden zu Anhäufungen von Diamanten, und Reyes sah goldene Säulen, die eine gewundene Straße aus Smaragden flankierten.
Ihm stockte der Atem. Das war also der Himmel. Er war tatsächlich im Himmel, obgleich eher als Mann denn als Geist.
Engel mit wunderschönen Flügeln glitten in alle Richtungen davon, einige blickten ihn an und schnappten nach Luft, andere runzelten die Stirn und suchten das Weite. Um jemanden zu warnen? Aber wen? Die Engel hörten weder auf die Titanen noch auf die Griechen, so viel wusste Reyes von Danikas Bildern. Er hatte allerdings kein Bild gefunden, aus dem hervorging, auf wen sie hörten. Denjenigen – einen Mann oder eine Frau? – hätte er gerne gefragt, ob er das himmlische Heer nutzen dürfe. Na, vielleicht später einmal …
Reyes durchbrach eine weitere unsichtbare Mauer, und dann war er endlich da, schwebte neben Danikas marmorner Empore. Seine Knie gaben nach, und er sackte neben sie, die eine Hand bereits streichelnd in ihrem Haar, die andere an ihrer Wange. Ihre blonden Haare waren um sie herum aufgefächert. Ihr Haut hatte sich, bedingt durch die Kälte, leicht bläulich gefärbt. Sie war in ein weißes Gewand gehüllt wie eine Schneekönigin. Seine Königin.
„Götter im Himmel, wie habe ich dich vermisst.“ Wie sehr hatte er diesen Tag, diesen Moment herbeigesehnt. „Ich werde dich nie wieder gehen lassen.“
Reyes! Du bist tatsächlich hier. Ich kann dich fühlen. Ich spüre deine Wärme.
„Ist dir kalt, mein Engel?“
Sehr.
„Lass mich dich wärmen.“ Er kuschelte sich an sie, umfing ihren Körper mit seinem und nahm ihre Kälte in sich auf. „Ich liebe dich so.“
Ich liebe dich auch. Ich möchte dich anschauen, aber ich kann mich nicht aus diesem … Schlaf lösen. Ich kann meinen Körper nicht aufwecken.
Er drückte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen und sog ihren lieblichen Duft ein. Ein Teil von ihm hatte schon geglaubt, dass er nie wieder in diesen Genuss kommen würde. Dass er sie nie wieder im Arm halten und spüren würde. „Weißt du, wo Kronos ist?“
Oh ja, irgendwie weiß ich es immer. Er ist bei seinem Berater.
„Kannst du hören, worüber sie reden?“
Ich weiß es auch so. Sie besprechen nämlich immer dasselbe.
Was mit dir geschehen soll. Was mit mir geschehen soll. Wo seine anderen Artefakte sein könnten.
„Kannst du uns zu ihm bringen?“
Vielleicht. Aber warum? Ich hasse ihn. Ich hasse die Vorstellung, mit ihm irgendetwas aushandeln zu müssen.
„Deshalb tut es mir auch so leid, dich darum zu bitten, aber ich muss. Vertrau mir, mein Engel. Bitte.“ Er hauchte ihr noch einen Kuss auf die Lippen und küsste sich dann an ihrem Kinn entlang bis zum Hals. „Du bist in der Lage, mit deinem Geist einen Körper, eine physische Hülle, zu kontrollieren. Wenn Kronos kommt, dann stülpe deinen Geist über ihn und halt ihn so lange fest, wie du kannst. Es wird nicht lange dauern, darf nicht lange dauern, denn Kronos besitzt einen Schlüssel im Innern seines Körpers, mit dem er aus jedem Gefängnis ausbrechen kann.“
Schweigen. Dann sagte Danika: Okay, ich versuch’s.
„Wenn du es schaffst, dann schlage ihm seine Sense aus der Hand, falls er sie dabeihat. Und nur damit du es weißt: Was auch immer passiert – ich liebe dich.“ Wenn sein Plan misslang, dann würde Kronos ihn töten, das wusste Reyes. Dies hier war eine offene, direkte Provokation, die kein Herrscher ungesühnt lassen würde.
„Ich habe ihn.“ Ein Moment verstrich, dann noch einer. Danikas kleiner Körper erstarrte unter seinen Händen. Er ist verärgert. Er hat seine Sense nicht dabei, die hat er Chaos gegeben, den er mit der Bewachung der Unterwelt beauftragt hat, nachdem er Hades – im Austausch gegen eine menschliche Seele – eingesperrt hat. Eine Frau. Eine Jägerin. Glaube ich. Dafür hat er Zeus’ Blitzschlag bei sich.
„Halt den Blitzschlag gut fest, Engel. Und nimm ihn ihm weg, wenn du kannst.“
Er ist fast hier, nur noch ein paar Sekunden …
Kronos blieb abrupt am Rand der Empore stehen. Als er Reyes erspähte, drang ein tiefes Knurren aus seinem Hals. Funken sprühten in seinen Augen, als ihm der goldene Blitz entrissen und beiseitegeschleudert wurde.
Von diesem Moment an wusste Reyes, dass jedes seiner Worte und jede Emotion, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelte, absolut entscheidend sein würden. Alles zählte, jedes Detail. Er trug eine Gleichgültigkeit zur Schau, die er nicht im Entferntesten fühlte, und stützte lässig einen Ellbogen auf. „Ganz reizend von Euch, dass Ihr Euch zu uns gesellt.“
Der Körper des Götterkönigs schwankte, als versuche er, sich in Bewegung zu setzen. Aber irgendwie klappte es nicht. Seine Arme blieben an seinem Oberkörper kleben und seine Beine am Boden. „Dafür wirst du sterben, Krieger.“
Langsam, ganz langsam schwang Reyes seine Beine von der Empore und stand auf. „Wahrscheinlich fragt Ihr Euch, was hier vor sich geht.“
„Ich besitze den Alles-Öffnenden-Schlüssel, Dämon. Der zerstört jede Handschelle und öffnet jedes Schloss. Lange werdet ihr mich hier nicht festhalten können.“
„Ich weiß.“ Obwohl sein Herz schnell wie eine Kriegstrommel schlug, lächelte Reyes. „Aber Ihr seid ja gar nicht angekettet. Ihr werdet lediglich vorübergehend … umklammert.“
Das Geräusch knirschender Zähne war zu hören.
„Ihr habt mich gebeten, Euch herbeizurufen, wenn ich meine Stärke beweisen kann.“ Reyes machte eine Pause und zeigte eine entschlossene Miene. „Kronos, ich rufe Euch herbei.“
„Glaubst du etwa, dass ich dir jetzt, nach all dem hier, noch helfen werde?“, fragte der König mit einem kalten Lachen. „Du bist wirklich töricht, Schmerz.“
Wie geht es dir?, schickte Reyes innerlich eine Botschaft an Danika.
Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch so halten kann. Er ist sehr stark.
Um nicht in Panik zu verfallen und die Sache zu überstürzen, schlenderte Reyes betont langsam zu Kronos, immer noch mit entschlossener Miene. „Ihr werdet Danika freilassen und sie zur Erde zurückschicken. Zu mir. Sie und ich, wir werden gemeinsam jeden Feind, der sich ihrer bemächtigen und sie benutzen will, vernichten.“
„Du …“
Reyes schnitt ihm das Wort ab. „Wenn sie einverstanden ist, wird sie Euch als Gegenleistung von ihren Träumen und den Dingen, die sie sieht, berichten.“
„Das wird sie ohnehin tun“, schnauzte Kronos.
„Hat sie das denn bisher getan?“, fragte Reyes und versuchte, nicht in Panik zu verfallen. „Wenn Ihr spürt, dass sie in Gefahr ist, dann beschützt sie. Aber tut es von hier aus, während sie mit mir auf der Erde ist.“ Er umrundete Kronos, zog einen Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel und legte die Klinge an den Hals des Gottes. Dessen Puls fing heftig an zu flattern. „Ich könnte mir Euren Kopf nehmen, wie auf dem Bild. Und Ihr könntet nichts dagegen tun – nur sterben.“
Jetzt herrschte vollkommene Stille. Eine so lähmende Stille, dass Reyes sogar das Atmen schwerfiel. Er wartete … und wartete …
„Ich muss dich loben, Krieger“, sagte Kronos. „Du hast deine Stärke unter Beweis gestellt.“ Es war mehr als nur eine Feststellung. Es war ein Versprechen, ein Schwur. Ein Pakt zwischen ihnen.
Zumindest betete Reyes, dass es so war.
Zitternd und mürbe vor Angst und Anspannung senkte Reyes den Dolch. Er begab sich zurück an Danikas Seite und umklammerte ihre Hand. „Lass ihn los, mein Engel.“ Und wir werden sehen, was passiert.
Einen Moment später spreizte Kronos seine Finger. Zeus’ Blitzschlag flog zurück in seine Hand. Er kniff die Augen zusammen und ging auf Reyes zu, der schon halb damit rechnete, gleich angegriffen zu werden. Doch nichts dergleichen passierte.
Stattdessen atmete Danika lautstark aus und setzte sich mit einem Ruck auf. Reyes kümmerte sich nicht weiter um Kronos, sondern wandte seine volle Aufmerksamkeit seiner Frau zu. Blinzelnd, als würde ihr das Licht wehtun, öffnete sie die Augen. Als sie Reyes sah, rang sie nach Luft: „Du bist da, real.“
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, er legte seine Arme um ihre Taille, und so hielten sie sich umschlungen, besinnungslos vor Glück.
„Du hast es tatsächlich geschafft!“, lachte sie.
„Wir haben es geschafft. Mein Engel, ich will nie wieder von dir getrennt werden.“
„Keine Angst, ich werde nie wieder verschwinden.“
„Ich führe das Leben eines Kriegers, wie du bereits festgestellt hast. Krieg spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben. Meinst du, du kommst damit klar?“ Er zog sich aus der Umarmung zurück, blickte sie aber weiterhin unverwandt aus tränennassen Augen an. Wenn nötig, würde er sich von den Herren der Unterwelt trennen und sich einen friedlichen Ort zum Leben suchen, wo ihn weder Jäger noch rachsüchtige Götter behelligen würden.
„Machst du Witze? Kriegsverrückte ältere Herren stehen auf meinem Wunschzettel. Und, hey, Dämonen – und damit meine ich nicht dich – wollen mich jetzt offenbar als ihr Haustier halten. Ganz abgesehen davon, dass Jäger und Götter jeden meiner Schritte aufmerksam verfolgen. Du siehst: Ich bin ein begehrtes und berühmtes Mädchen. Kannst du damit leben?“
Reyes lächelte. „Wenn es um dich geht, kann ich mit allem leben.“
Sie lächelte zurück. „Gut.“
„Du und ich. Jetzt. Immer.“
„Spart euch das rührselige Gesäusel für später auf. Was hast du auf dem Bild gesehen?“, riss Kronos sie aus ihrer Versunkenheit. „Wer hat versucht, meinen Kopf zu bekommen?“
Er hat es nicht nur versucht, er hat ihn bekommen. Reyes schloss die Augen, um Kraft zu sammeln. Er hatte gehofft, dieses Thema noch eine Weile vermeiden zu können. Danika vergrub ihren Kopf in seiner Halsgrube, um ihm Kraft zu geben. „Aber bitte lasst Euren Zorn nicht an uns aus.“
„Ihr habt mein Wort“, sagte der Gott ungeduldig. „Und nun verratet mir, wer sich meinen Kopf geholt hat.“
„Eine Enthauptung?“ Danika klammerte sich noch fester an Reyes. „Ich erinnere mich an das Bild: die einzige Enthauptung, die ich je gemalt habe. Und der Täter war der, der sich Galen nennt. Hoffnung.“
Wieder wurde Kronos so ruhig und still wie ein lauernder Raubvogel. Das Schweigen war so drückend und schwer, dass nicht einmal die Engel mit ihren filigranen Flügeln zu schlagen wagten. „Ein Dämon. Einer von den Deinen“, schnauzte er Reyes an.
„Er ist auch unser Feind, möchte ich schnell noch hinzufügen.“
Es folgte eine lange Pause und schließlich ein Nicken. „Ich möchte es selbst sehen.“ Die Augen des Gottes hefteten sich jetzt auf Danika. „Ich habe dich deinem Mann zurückgegeben. Alles, was ich von dir verlange, ist, dass du zu mir kommst, sobald du von einer Bedrohung für mich erfährst.“
Sie nickte. „Solange ich bei Reyes bin, werde ich Euch über alles informieren, was Ihr wissen wollt.“
„Die Warnung ist angekommen.“ Obwohl der Gott erblasst war, verzogen sich seine Lippen doch zu so etwas wie einem Lächeln. „Ich werde also sicherstellen müssen, dass du ewig lebst und nie mehr von deinem Krieger getrennt wirst, stimmt’s?“
„Reyes! Reyes! Du wirst es nicht glauben.“ Danika kam in Reyes’ Zimmer gesaust – nein, in ihr gemeinsames Zimmer –und blieb an der Bettkante stehen.
Reyes lag auf dem Rücken. Seine Augenlider waren halb geschlossen – typisch für ihn und extrem erotisch, wie sie fand. Seine dunklen Haaren waren zerzaust, seine Lippen weich und rot von ihrer letzten Knabberei. Wie so oft wirkte er auch jetzt wieder wie ein Ausbund an Zufriedenheit und Erfülltheit.
Nie hatte sie sich glücklicher gefühlt.
So viele Dinge waren in den letzten Wochen passiert. Aeron war mit gesenktem Kopf und Bedauern in den Augen zu ihr gekommen und hatte sich für den Schmerz und die Sorgen entschuldigt, die er ihr verursacht hatte. Und sie hatte ihm ohne zu zögern verziehen, denn schließlich hatte sein Blutdurst Reyes in ihr Leben geführt. Und Reyes war das Beste, was ihr je widerfahren war. Sie hatte also keinen Grund, Aeron länger zu grollen.
Sie hatte sogar Legion lieb gewonnen. Die kleine Dämonin war in die Burg gezogen und zu Aerons ständiger Begleiterin geworden. Sie half ihm aus dem dunklen emotionalen Morast heraus, in dem er immer wieder zu versinken schien. Nie sah man einen von beiden ohne den anderen.
Danika hatte erst gar nicht glauben können, dass es sich bei Legion um ein Mädchen handelte, aber inzwischen konnte sie den Besitzerstolz in den Augen der Dämonin aufleuchten sehen, sobald Aeron sich näherte, und musste darüber schmunzeln. Sollte sich Aeron je in eine andere Frau verlieben, würde Legion diese wahrscheinlich umgehend auffressen.
Und Paris, der süße Paris. Wie etliche der anderen Krieger verbrachte er viel Zeit damit, zwischen Budapest und Rom hin-und herzureisen, wo er immer noch nach Hinweisen auf die restlichen Artefakte suchte. Aber er war ruhig und still geworden, spielte das Dauersexspiel nicht mehr und guckte auch keine Videos mehr. Danika ertrug es kaum, ihn in diesem Zustand zu sehen, und hatte versucht ihm klarzumachen, dass es für jedes Problem eine Lösung gab. Daraufhin hatte er sie umarmt und den Raum verlassen.
Allerbester Laune schienen dagegen Torin und Cameo zu sein. Sie waren enge Freunde geworden und zogen sich immerfort zusammen zurück. Und wenn sie dann doch mal wieder auftauchten, flüsterten und kicherten sie die ganze Zeit – und zwar ziemlich laut, denn sie mussten ja einen gewissen Abstand zueinander halten, damit Torin Cameo nicht eine Krankheit aufhalste. Obwohl sie sich letztlich also in normaler Lautstärke unterhielten, war klar, dass sie glaubten, allein im Raum zu sein. Danika war sich nicht sicher, ob sich eine Romanze zwischen ihnen anbahnte. Die Idee gefiel ihr jedenfalls. Sowohl Cameo als auch Torin konnten wahrlich ein bisschen Glück und Liebe in ihrem Leben gebrauchen.
Ein anderer glücklicher Mitbewohner war William – was Anya freute und somit auch Lucien. William war bis auf Weiteres in die Burg gezogen und flirtete gern mit Ginger, die Gleichgültigkeit vortäuschte, aber jedes Mal, wenn sich William näherte, rot wurde wie eine Tomate. Keiner von beiden meinte es wirklich ernst mit dem anderen, das merkte Danika, aber es war schön, sie so entspannt miteinander zu sehen.
Danikas Familie wollte nur noch eine weitere Woche bleiben und dann endlich nach Hause reisen. Danika wusste, dass die drei nur deshalb so lange geblieben waren, weil sie Aeron nicht über den Weg trauten und die Situation noch eine Weile beobachten wollten. Für alle Fälle. Kein Wunder, dass Danika die drei über alles liebte. Sie würde sie schrecklich vermissen und sie oft besuchen. Aber ihr Leben war jetzt hier, bei Reyes.
Gilly, ihre junge Freundin aus L.A., war ebenfalls in die Burg gezogen. Danika hatte dafür gesorgt. Reyes und sie hatten sie in ihrer Nähe, im Nachbarzimmer, untergebracht, in der Hoffnung, ihr so den Übergang vom normalen Leben zu einem Zusammenleben mit Dämonen zu erleichtern. Die Krieger schienen sie zu mögen und behandelten sie wie eine Art kleine Schwester, obwohl sie sich manchmal über die Unruhe in ihrem ehemals so geordneten Leben beklagten. Gilly war noch etwas misstrauisch, aber Danika wusste aus eigener Erfahrung, dass sich das mit der Zeit legen würde.
Ashlyn hatte das Mädchen unter ihre Fittiche genommen. Sie war eine starke Beschützerin, mit der sich nicht einmal die Krieger anzulegen wagten. Danika hatte Ashlyn seitdem noch mehr in ihr Herz geschlossen. Ashlyn würde eine großartige Mutter abgeben, egal ob sie nun einen Jungen oder ein Mädchen bekam, einen Dämon oder ein Wesen, das halb Mensch, halb Dämon war. Sie musste kichern. Vielleicht würde sie, Danika, eines Tages vor dem gleichen Dilemma stehen. Sie neckte Ashlyn gern mit dem Vorschlag, Legion zum Kindermädchen des Babys zu machen. Maddox setzte bei dieser Vorstellung jedes Mal ein Gesicht auf, als müsse er sich gleich übergeben, was wiederum Ashlyn zum Lachen brachte.
Was Danika und Reyes betraf, so hatten sie den Großteil der letzten Wochen im Bett verbracht und sich bis zur äußersten Befriedigung geliebt. Danika trug ein Dauerlächeln auf den Lippen. Morgens, mittags, abends – Reyes liebte es, ihre Welt aus den Angeln zu heben. Manchmal zärtlich und weich, dann wieder wild und unanständig.
Und egal wie er sie nahm: Sie liebte es! Sie liebte ihn!
Sie hatte immer noch Albträume, aber sie fürchtete sie nicht mehr. Im Gegenteil: Sie waren ihr sogar willkommen. Denn Reyes hielt sie jedes Mal danach in seinen Armen, ein Genuss, auf den sie sich schon morgens freute.
Gleichzeitig genoss sie es, ihm im Gegenzug auch Erleichterung verschaffen zu können. Seine Sehnsucht nach Schmerzen war in abgeschwächter Form wiedergekehrt, sodass er sich ein paarmal am Tag ritzen musste. Manchmal half sie ihm sogar dabei. Aber er hatte immer seltener diesen wahnsinnigen Ausdruck in den Augen, wenn sie sich ihm mit dem Messer näherte. Stattdessen lehnte er sich zurück und genoss einfach. Das Erstaunliche jedoch war, dass er sich nicht ritzen musste, während er mit ihr schlief. Dann nämlich wurde sein Dämon auf eine andere Ebene versetzt, genau wie sie vermutet hatten.
„Komm zurück ins Bett, mein Engel, und ich glaube dir alles, was du sagst.“ Noch während er sprach, wurde sein Penis hart. Wie auf dem Bild, das sie heimlich von ihm gemalt hatte, als er sie das erste Mal gebeten hatte, ihre Visionen aufzuzeichnen – und das nun über ihrem Bett hing. „Deine Familie kann jeden Augenblick hier hereinplatzen. Seit deine Großmutter ihren Gips los ist, verfolgt sie dich wie ein Hündchen und will dir mit deiner Malerei helfen. Lass uns also keine Zeit verschwenden.“
Ihre Augen glänzten. Würde sie jemals genug von ihm bekommen? Aber sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Komm und schau, komm und schau, komm und schau.“
Er merkte, wie dringlich ihr die Sache war, und setzte sich mit einem Ruck auf. Ohne dass sie wusste, wie, hatte er plötzlich einen Dolch in der Hand. „Stimmt etwas nicht? Ist was passiert?“
„Nichts ist passiert. Du musst dir nur unbedingt etwas anschauen.“
Er sprang aus dem Bett, wobei er sich nicht im Mindesten um seine Nacktheit kümmerte. Sie packte seine freie Hand und zerrte ihn in ihr Atelier. Wie immer wärmte die Berührung seiner Hand sie auf.
„Hattest du einen Albtraum, Engel?“
„So eine Art.“
Sie traten über die Schwelle. Vor einer hellen Leinwand blieb Danika stehen, und Reyes stellte sich hinter sie und umschlang sie mit seinen Armen. Seine Erektion drückte gegen ihre Pobacken. Sie lächelte.
Gott, wie sie diesen Mann liebte. Wenn sie sich doch bloß ihre Jeans nicht übergezogen hätte, als sie aufgestanden war, um zu malen.
„Hübsch“, sagte er, beugte sich vor und legte sein Kinn auf ihre Schulter.
Sie spürte seinen regelmäßigen, kräftigen Herzschlag in ihrem Rücken. Unsicher, wie er das, was sie ihm erzählen wollte, aufnehmen würde, strich sie ihm über die Arme. „Sieh genau hin. Ich, äh, glaube, dass ich das dritte Artefakt gefunden habe.“
„Was?“ Geschockt drehte er sie zu sich herum.
„Schau zum Fuß der Pyramide. Siehst du die Männer dort?“
Er fixierte die Leinwand. „Ja. Galen und Stefano.“
Auch sie sah jetzt noch einmal genau hin: Zwei Männer betraten eine ägyptische Pyramide. „In meinem Traum sind sie die Gänge dieser Pyramide entlanggegangen und haben etwas von einem Tarnumhang getuschelt. Sie haben immer wieder gesagt, dass sie, wenn sie den Umhang erst einmal in Händen hätten, unbemerkt ins Innere der Festung eindringen würden.“
Reyes zog sie an sich und küsste sie auf den Scheitel. „Du bist fantastisch. Das müssen wir Lucien erzählen.“
„Äh, du solltest dich erst anziehen.“
Er lachte, und dieses Lachen gab ihr ebenso viel Wärme wie seine Berührung. „Ich liebe dich, Engel.“
„Ich liebe dich auch.“
„Ich hab das Gefühl, dass wir bald nach Ägypten reisen werden. Meinst du, du verkraftest ein weiteres Abenteuer?“
„Ich verkrafte alles, solange ich bei dir bin.“
Er beugte sich zu ihr hinunter und streifte ihre Lippen zärtlich mit seinen. „Wie habe ich jemals ohne dich leben können?“
„Das hast du gar nicht“, witzelte sie. „Zumindest nicht richtig.“
Er küsste sie noch einmal, diesmal länger. „Das stimmt, das habe ich nicht. Bevor ich dich kennenlernte, war ich innerlich tot und leer. Erst du hast mich erfüllt: mit Liebe, Leben, Glück.“
„Genau das hast du mir auch gegeben. Wer hätte das gedacht? Du und ich und dieser süße kleine Dämon.“ Sie grinste, sie konnte nicht anders, sie platzte vor Glück. „Was für eine wunderbare Dreiecksbeziehung.“
„Jetzt und für immer“, sagte er.
„Jetzt und für immer.“
– ENDE –
Herren der Unterwelt Glossar und Personenregister
Aeron
Hüter des Zorns
Allsehendes Auge
göttliches Artefakt, das sowohl in den Himmel als auch in die Hölle zu schauen vermag
Amun
Hüter der Geheimnisse
Anya
(Halb-)Göttin der Anarchie
Ashlyn Darrow
Menschliche Frau mit übernatürlichen Kräften
Baden
Hüter des Misstrauens (verstorben)
Bait
menschliche Frauen, Komplizinnen der Jäger
Cameo
Hüterin des Elends und einzige weibliche Kriegerin
Danika Ford
menschliche Frau, die ins Visier der Titanen gerät
Dean Stefano
Jäger, rechte Hand von Galen
dimOuniak
die Büchse der Pandora
Dr. Frederick McIntosh
Vizepräsident des World Institute of Parapsychology
Dysnomia
griechische Göttin der Ungesetzlichkeit
Galen
Hüter der Hoffnung
Gideon
Hüter der Lügen
Gilly
menschliche Frau, Freundin von Danika
Ginger Ford
Danikas Schwester
Griechen
die früheren Herrscher des Olymps, die jetzt allesamt im Tartaros eingekerkert sind
Hera
Königin der Griechen
Herren der Unterwelt
die ehemaligen Elitekrieger der griechischen Götter, die jetzt im Exil leben und in ihren Körpern Dämonen beherbergen
Hydra
vielköpfige Schlange mit Giftzähnen
Jäger
die sterblichen Erzfeinde der Herren der Unterwelt
Kane
Hüter der Katastrophen
Kronos
König der Titanen
Legion
Lakaiin der Dämonen, Freundin von Aeron
Lucien
Hüter des Todes, Anführer der Krieger von Budapest
Maddox
Hüter der Gewalt
Mallory Ford
Danikas Großmutter
Meißel
göttliches Artefakt, dessen Kraft unbekannt ist
Pandora
Kriegerin, einst die Hüterin von dimOuniak (verstorben)
Paris
Hüter der Promiskuität
Reyes
Hüter des Schmerzes
Sabin
Hüter des Zweifels, Anführer der griechischen Krieger
Sienna Blackstone
Jägerin
Strider
Hüter der Niederlage
Tarnumhang
göttliches Artefakt, das seinen Träger unsichtbar zu machen vermag
Tartaros
griechischer Gott der Gefangenschaft, ebenfalls das Gefängnis für die Unsterblichen auf dem Olymp
Themis
Titanin, Göttin der Gerechtigkeit
Tinka Ford
Danikas Mutter
Titanen
die gegenwärtigen Herrscher auf dem Olymp
Torin
Hüter der Krankheiten
William
Unsterblicher, Freund von Anya
Zeus
König der Griechen
Zwangskäfig
göttliches Artefakt, das jeden, der in seinem Inneren eingesperrt ist, in einen gefügigen Sklaven verwandelt