12. KAPITEL
Haben wir dieses Spielchen nicht schon mal gespielt?“
„Ja, aber es hat nicht funktioniert“, erwiderte Reyes. Er stand im Inneren des Verlieses, genau wie am Vortag, hielt jedoch Sicherheitsabstand, wie Aeron bemerkte. „Deswegen sollten wir es, finde ich, noch mal probieren.“
„Ist es nicht eher so, dass du noch mehr willst?“ Aeron starrte Reyes an, der ziemlich kampfbereit aussah. Obwohl – wann sah er nicht so aus? „Ich glaube, du hast meine Hände an deinem Hals genossen.“
Unterhalb von Reyes’ dunklen Augen zuckten zwei kleine Muskeln.
„Vor ein paar Jahren hab ich dich gefragt, ob ich dich auspeitschen oder schlagen soll. Irgendwas in der Art. Ich hätte dich sogar erdolcht. Ich hätte es nicht gerne getan, ich hatte eigentlich keine Lust, dir wehzutun, nicht mehr Lust, als du hattest, Maddox Nacht für Nacht zu töten, aber ich hätte es getan, dir zuliebe, weil ich wusste, wie sehr du den Schmerz brauchst. Ich hab dich geliebt, also hab ich es dir angeboten.“
„Ich hab dich ebenfalls geliebt, deshalb hab ich es ablehnt. Erinnerst du dich daran auch?“
Aeron überging die Frage, weil er sich nur zu gut erinnerte. Daran zu denken nahm ihm seine Selbstachtung. Er streichelte Legions kahlen Kopf, als sich die kleine Kreatur auf seinen Schoß setzte, und sagte: „Ich bin immer noch gewillt, dir zu helfen. Wenn du Schmerzen willst, dann gib mir deine Frau.“ Er lachte Reyes in sein wutverzerrtes Gesicht. „Ein Schnitt, mehr braucht es nicht. Sie wird umkippen, und dein Herz wird buchstäblich zerbrechen. Das garantiert dir Schmerzen bis in alle Ewigkeit. Mein Geschenk für dich. Danken kannst du mir später.“
Reyes fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Eine Demonstration seiner hochkochenden Aggression. Seiner Angriffslust. Doch immer noch rührte er sich nicht vom Fleck. Anders als Aeron und Maddox fuhr er nur selten aus der Haut. Er wartete lieber ab und schlug dann zu, wenn sein Feind gar nicht mehr damit rechnete. „Du hast dich verändert. Es ist noch gar nicht lange her, da warst du wild entschlossen, sie davonkommen zu lassen. Was ist passiert?“
„Ich hab lediglich festgestellt, dass ich gegen meinen Blutdurst nicht ankämpfen kann. Also hab ich ihm nachgegeben und bin seitdem glücklicher“, antwortete er.
„Lügner. Du hasst dich dafür. Ich kenne dich doch.“ Reyes seufzte, als Aeron nicht antwortete. „Bitte, erzähl mir, wo ihre Familie ist.“
Aeron drehte sein Handgelenk und rüttelte an seiner Kette, ohne die andere Hand auch nur einen Moment von Legions Kopf zu nehmen. „Mach mich los.“
Reyes sah gequält aus, aber anders gequält als sonst. Der Schmerz schien ihn zum ersten Mal förmlich zu zerreißen, anstatt ihm Genuss zu bereiten. „Du weißt, dass ich dich nicht freilassen kann.“
„Ich weiß, dass du es nicht tun wirst.“
Niedergeschlagen nickte Reyes. „Stimmt. Das werde ich nicht.“
Legion flatterte um Aeron herum, und gleich darauf hörte man zwei kleine Hände über dessen Rücken streichen. Sie waren schuppig und trotzdem weich. Und ehrfurchtsvoll. Sie massierten seine Muskeln, um sie zu lockern. Als der gewünschte Effekt eintrat, hörte die kleine Kreatur auf, drückte sich mit der Brust gegen Aerons Schulter und spähte zu Reyes hinüber. Legions Lippen schmatzten hungrig.
„Noch nicht“, bremste ihn Aeron. Er begriff nicht, warum der kleine Dämon ihn mochte und die anderen nicht. Aber er akzeptierte es. Er hatte keine Ahnung, warum der Dämon ihm hier hineingefolgt war, aber er freute sich darüber. Aus irgendeinem Grund brauchte er den kleinen Kerl. Legion beruhigte ihn, wie es noch niemand sonst vermocht hatte, er besänftigte Zorn, dämpfte seine Blutlust und hielt ihn bei klarem Verstand. Außer als Lucien und Reyes in der Höhle aufgetaucht waren, um ihn hierher zu bringen. Da war Aeron ausgerastet.
Aber es war auch einfach zu ärgerlich gewesen: Er hatte unmittelbar vor der Flucht gestanden. Legion hatte sein Fleisch schon abgenagt, war quasi im Begriff, den Knochen durchzubeißen, als er gespürt hatte, wie sich die beiden Krieger näherten. Da war er blitzschnell verschwunden – und erst später hier im Burgverlies wieder aufgetaucht.
„Weißt du, wo die Frauen sind?“, fragte Reyes, nicht ahnend, dass Legion ihn sich ausgestreckt auf einer silbernen Servierplatte vorstellte, wahlweise mit und ohne Besteck. „Sag mir wenigstens das.“
Oh, natürlich wusste Aeron, wo sie waren. Er erinnerte sich an jede verdammte Sekunde, jede Minute, jeden einzelnen seiner Tage. Sein enormes Wissen verspottete ihn fortwährend, lachte über seine Hilflosigkeit, brachte ihn zum Wahnsinn. Aber wenn die Frauen erst einmal tot waren, würde das Gespött und Gelächter aufhören. Der Wahnsinn würde sich zurückziehen, und Aeron würde sich nicht länger danach sehnen, jedes Wesen, dem er begegnete, umzubringen.
„Na los, erzähl schon“, drängte Reyes.
„Ja“, gab er schließlich mit lauter Stimme zu, wohl wissend, dass diese Prahlerei ihr Ziel nicht verfehlen und tiefe Wirkung haben würde. „Ich weiß, wo sie sind.“ Was ist nur aus dir geworden? Eigentlich sollte er sich schuldig fühlen, das war ihm bewusst, aber er konnte die Energie dazu nicht aufbringen. Er war tief unter der Erde eingekerkert, und seine Emotionen waren schlicht verdörrt, nur Hass war noch übrig geblieben. Und die Sehnsucht, allem Lebendigen den Tod zu bringen.
Reyes’ Nasenflügel bebten, und seine Augen loderten wie Vulkane. Ja, Kontakt!
„Kann ich sssein Blut sssaugen?“, fragte Legion und grub seine Klauen in Aerons Schulter. „Bitte! Bitte sssehr!“
„Nein“, wies Aeron ihn zurecht. Reyes verdiente nichts anderes als einen schnellen Tod – wenn es zu lange dauerte, würde der Krieger nur wieder in seinen Schmerzen schwelgen, sich an den zerfetzten Venen und dem strömenden Blut weiden. Und Genuss verdiente Reyes nicht. Denn Reyes enthielt ihm das Mädchen vor. Und für diese Freveltat musste er mit aller Härte bestraft werden.
Freveltat? Das ist doch keine Freveltat. Es ist eine Gnade. Das bist doch nicht du. Geh dagegen an.
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Es gab nichts zu bekämpfen. Er hatte einen Auftrag erhalten, und den würde er ausführen.
„Wasss issst mit Mädchen?“, erkundigte sich Legion. „Kann ich Mädchen aussstrinken?“
Reyes ließ ein tiefes Knurren hören.
„Nein“, sagte Aeron. „Die gehört mir.“
Jetzt kam Reyes auf ihn zu. Eine silberne Klinge blitzte in seiner Hand. „Sie gehört mir.“ Als er bemerkte, dass er mitten in der Zelle stand, blieb er stehen, gerade noch außerhalb von Aerons Reichweite.
Zu dumm. „Ich weiß, dass sie hier ganz in der Nähe ist“, sagte Aeron mit seidenweicher Stimme. „Ich rieche ihren kräftigen Duft und kriege unbändige Lust, sie mir sofort zu holen.“
Reyes trat ein paar Schritte zurück und bewachte den einzigen Ausgang. Beschützte sie. Aeron schloss die Augen und hörte in seinem Innern plötzlich ihre Todesschreie: Tu mir nicht weh. Bitte, tu mir nichts!
Mit finsterer Miene kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Diese Schreie kamen nicht von Danika. Sie waren real, ausgestoßen von jemand anderem, eine Erinnerung. Jeder einzelne Schrei wirkte wie eine berauschende Liebkosung auf seine verkümmerten Sinne. Ganz klar: Er hatte es immer schon genossen, wenn er jemanden verletzt oder getötet hatte.
Der Geruch von Blut trat ihm in die Nase, süß und sinnlich. Er fühlte sich wie in einer warmen Sommernacht nach einem kalten Tag, oder eher wie in einer milchigen Vollmondnacht nach einem Tag in der prallen, erbarmungslosen Sonne. Er fühlte sich verzückt, so als würde er immer noch über ihrem Körper stehen und ihre Schwäche verhöhnen.
Das bist nicht du. Du verfluchst das alles, du hasst das, was aus dir geworden ist.
Irgendwann einmal – vor einer Ewigkeit? – hatte er Sterbliche beobachtet und war fasziniert gewesen von dem Unterschied zwischen ihrem und seinem Leben. Er wünschte sich oft den Tod herbei, und doch würde er wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit existieren. Sie hingegen, die Menschen, starben jeden Tag ein bisschen und waren doch viel lebendiger und vitaler als er. Sie waren schwach, er war stark. Aber sie fürchteten sich nicht davor, zu lachen und zu lieben.
Liebe – als würden sie nicht wissen, dass ihnen alles, was sie liebten, innerhalb der nächsten Sekunde entzogen werden konnte.
Warum waren sie so?, hatte er sich seitdem oft gefragt. Lange hatte er nach einer Antwort gesucht, aber keine gefunden. Und jetzt war er hier und schwelgte in Erinnerungen an das Foltern einer Sterblichen und malte sich den Tod einer anderen aus.
Selbst Zorn fand diesen Gedanken verwirrend und irgendwie falsch.
Aeron hatte nicht vergessen, dass er und sein Dämon versucht hatten, diese dunkle Blutgier zu bekämpfen. Am Anfang. Aber die Götter hatten gewonnen, und sie beide hatten schließlich aufgegeben. Der Tod floss jetzt durch seine Adern, dicker als Blut. Ironischerweise war der Tod zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden.
„Willst du, dass ich dich auf Knien anflehe?“, fragte Reyes mit zusammengekniffenen Lippen.
Würde er das wollen? Aeron grinste, fühlte zum ersten Mal seit Wochen so etwas wie Belustigung. Ja, dachte er, vielleicht würde ihm das tatsächlich gefallen. Denn gerade der starke, eigenwillige Reyes unterwarf sich niemandem. Ihn hier auf Knien rutschen zu sehen wäre sicherlich ein Spaß, ein beflügelndes Gefühl.
„Ja, bitte, ja, bitte!“ Legion klatschte so laut Beifall, dass es in Aerons Ohren dröhnte.
Reyes zögerte nicht. Er war schon auf die Knie gefallen. „Bitte“, stieß er hervor, doch es hörte sich an wie ein Knurren. „Sag mir, wo sie sind.“
Legion kicherte, doch Aeron verging das Grinsen mit einem Schlag, denn er fand es keineswegs beflügelnd, sondern nur beschämend, seinen Freund zu seinen Füßen zu haben. „Liebst du sie?“
„Nein.“ Heftiges Kopfschütteln. „Kann ich nicht.“
Lügner. Er musste sie lieben, sonst hätte er sich wohl kaum so erniedrigt. Das hatte er doch noch für keine andere Frau getan. Nicht einmal seinen Freunden zuliebe.
Aeron und Reyes waren dabei gewesen, als ihr Freund Baden von Jägern enthauptet wurde. Entsetzt hatten sie mit ansehen müssen, wie der Krieger von hinten angegriffen, wie mehrmals auf ihn eingestochen und ihm schließlich der Hals aufgeschlitzt wurde. Sie beide waren auf ihn zugerannt, schreiend und rasend vor Wut, zu allem entschlossen. Aber sie hatten die Jäger nicht angefleht aufzuhören. Sie hatten nicht um Badens Leben gebettelt. Sie hatten einfach nur gekämpft.
Hätte Betteln und Flehen den Träger des Dämons des Misstrauens retten können?
Wahrscheinlich nicht, dachte er, aber trotzdem: Warum hatten sie es nicht versucht? Sie hatten Baden wie einen Bruder geliebt, und sein Tod hatte das bisschen Menschlichkeit in ihnen zerstört, das sie vor ihren Dämonen hatten retten können.
„Woran denkst du?“, fragte Reyes, immer noch kniend.
„An die schlimmste Nacht meines Lebens“, gab er zu.
„Als wir die Büchse geöffnet haben.“
„Nein, an die Nacht, in der Baden starb.“ In jener schrecklichen Nacht war er von Schuldgefühlen überwältigt worden. Schuldgefühlen, weil es ihm nicht gelungen war, seinen Freund zu beschützen. Schuldgefühlen, weil er nur ein paar der Verantwortlichen getötet hatte. Schuldgefühlen, weil er danach der Dauerfehde zwischen Jägern und Kriegern den Rücken gekehrt und versucht hatte, in seiner von Chaos und Tod bestimmten Ewigkeit einen Zipfel Frieden zu erhaschen. Frieden, den er überhaupt nicht verdiente.
Noch nie habe ich jemanden so sehr geliebt, dass ich bereit war, für ihn zu kämpfen oder mich für ihn zu demütigen.
„Er war ein guter Freund“, sagte Reyes. „Es hätte ihn angewidert, uns hier so zu sehen.“
„Er hätte uns mit großen enttäuschten gelben Augen angeschaut. Und wir hätten ihn ignoriert, weil er versucht hätte, uns wieder zu versöhnen, und am Ende hätte er uns niedergestochen, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“
„Er konnte es nicht ausstehen, ignoriert zu werden.“
„Ja.“
Sie beäugten sich schweigend. Reyes blieb auf den Knien, vollkommen reglos. Er würde in dieser Position verharren, bis er zu hören bekam, was er wissen wollte, davon war Aeron jetzt überzeugt.
Aber wenn er Reyes verriet, wo sich die Frauen aufhielten, und wenn es Reyes gelang, sie vor ihm zu verstecken, würde Aeron niemals aus seiner jetzigen Verfassung herauskommen, würde immer so bleiben, wie er jetzt war: nie mehr normal, Blutdurst auf immer und ewig.
„Bitte“, knurrte Reyes wieder.
Wie eine Schlange glitt Legion über Aerons Schulter und seine Brust hinunter und stützte sein Kinn schließlich auf Aerons angewinkeltes Knie. „Dasss macht keinen Spasss. Warum nicht ssspielen? Warum nicht trinken?“
„Gleich“, vertröstete ihn Aeron. Dann forderte er Reyes auf: „Sag dem Mädchen, dass es herkommen soll.“
Endlich sprang Reyes auf. Er schüttelte den Kopf, dass seine dunklen Haare nur so hin und her flogen. In seinem Gesicht lag Panik. „Nein, sie …“
„… ist bereits hier. Ich bin hier.“
Als er diese wild entschlossene Frauenstimme hörte, legte Aeron seinen Kopf schräg. Reyes sprang mit einem Satz vor Danika, auch wenn diese noch außerhalb der Zelle, hinter dem Gitter, stand. Aber er wollte Aeron die Sicht auf sie nehmen. Aeron stierte ihn finster an. „Geh zur Seite. Ich tue ihr nichts.“ Noch nicht.
Reyes rührte sich nicht vom Fleck, schien abzuwägen. Schließlich stakste er zur Seite und erlaubte Aeron einen Blick auf das Mädchen. Sie stand wie befohlen dicht am Gitter, umklammerte die Stäbe so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
Zorn geriet explosionsartig in Wallung, flitzte in Aerons Geist umher, geifernd vor Vorfreude. Na los, tu was.
„Nein“, knurrte Aeron mit zusammengebissenen Zähnen.
Tu was, da steht sie doch, sie gehört uns.
„Nein!“
Legion streichelte ihm über die Schläfen, und Aerons Gebrüll verwandelte sich augenblicklich in Geflüster.
„Wie bitte?“, fragte Danika, und ihr Blick schweifte zwischen ihm und dem kleinen Dämon hin und her.
Nervös schob sich Reyes wieder zwischen sie und Aeron. Zarte Finger legten sich ihm auf die Schulter und schoben ihn sanft beiseite. Er hätte Widerstand leisten und stur stehen bleiben können – und seine angespannten Gesichtszüge verrieten, dass er das am liebsten auch getan hätte –, aber dann trat er doch zur Seite.
Wieder starrte Aeron Danika an. Sie war klein. Sie reichte Reyes gerade mal bis zur Schulter. Blonde Haare umrahmten ihr Gesicht, und ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde. Sie sah stolz und fast ein wenig gebieterisch aus, wie eine Königin, die darauf wartete, dass ein Untergebener ihr einen Wunsch erfüllte. Sie war schlank, etwas zu schlank, und ihr Gesicht war so anmutig geformt wie der Flügel eines Engels. Aber ihr Gesichtsausdruck war nicht weich. Sie strahlte bittere Entschlossenheit aus.
„Du willst mich immer noch umbringen“, sagte er.
„Ja.“ Ihre Lippen waren rot und geschwollen. Ganz offensichtlich war sie geküsst worden, erst vor Kurzem.
Aerons Blick wanderte zu Reyes’ Mund. Auch der sah ziemlich mitgenommen aus. Er hätte nicht gedacht, dass Danika Schmerz’ Typ war. Und umgekehrt ebenso wenig. Aber schon bei ihrem ersten Aufenthalt in der Burg hatte er die Spannung zwischen den beiden gespürt. Eine Spannung, die jetzt noch stärker war, noch intensiver. Reyes hatte sie ja sogar als seine Frau bezeichnet.
Obwohl sie Feinde waren, hatten sie sich also ineinander verliebt. Wie süß, dachte er höhnisch. Aber bei allem Hohn verspürte er doch auch so etwas wie … Sehnsucht?
Legion schleckte über Aerons Wange. Sein kleiner Körper schlang sich einmal um Aerons Hals, bevor er sich wieder auf dessen Knie niederließ, die Ellbogen aufgestützt. Offenbar war das eine seiner Lieblingspositionen. Seine gespaltene Zunge schnalzte in Danikas Richtung und erzeugte ein rasselndes Geräusch. „Ich dich kennen. Willssst du ssspielen?“
Danika blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie einen lästigen Gedanken vertreiben. „Du hast mich gestern gesehen. Und: Nein, ich will nicht spielen.“
„Oh.“ Die Enttäuschung der kleinen Kreatur war nicht zu übersehen. Sie presste sich gegen Aerons Brust, die grünen Schuppen wurde etwas blasser.
„Du hast Legion verletzt“, knurrte Aeron, auffallend empört. Er wusste, dass sein Blutdurst unkontrollierbar hervorbrach und seine mühsame Selbstbeherrschung rapide abnahm, wenn der kleine Dämon unglücklich war. „Und damit ist unser Gespräch beendet. Verschwinde.“
„Oh, das tut mir leid.“ Mit einem entschuldigenden Blick in Legions Richtung trat Danika ein paar Schritte zurück. „Ich wollte dich nicht verletzen. Wirklich nicht. Es war ein … Spiel. Ja, ein Spiel.“
„Ich liebe Ssspiele.“ Und schon ein wenig versöhnter und gleich etwas grüner im Gesicht fügte das kleine Wesen hinzu: „Ich dich aber auch ssschon davor gesssehen, lange vor gessstern.“
Aeron schien sich ebenfalls etwas beruhigt zu haben.
Danika schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber da musst du dich irren.“
„Du durch Flammen geflogen. Du gesssehen, wie einer der Lakaien gefoltert hat.“
Wieder blinzelte Danika, diesmal vor Erstaunen und blankem Entsetzen. „Das stimmt, aber nur in meinen Träumen. Woher weißt du das? Hast du meine Bilder gesehen? Nein, warte, das ist völlig unmöglich.“
„Antworte nicht“, sagte Aeron zu Legion, denn er hatte plötzlich eine Idee. Vielleicht könnte er diese Information für einen Tauschhandel nutzen und dabei gleich das Rätsel lösen, das das Mädchen ihm mit dieser Antwort aufgab. Hmm. Flammen. Lakaien. Eigentlich konnte Legion Danika nur in der Hölle, seinem Zuhause, gesehen haben. Aeron war sich nicht sicher, ob Danika die Hölle tatsächlich betreten hatte oder ob Legion nur ein weiteres seiner Spielchen spielte. Aber zum ersten Mal, seit die Titanen ihm befohlen hatten, Danika und ihre Familie zu töten, ergab dieser schreckliche Auftrag einen Sinn für ihn. Wenn das Mädchen wirklich in die finstere Unterwelt reisen konnte, hatte sie dann womöglich ebenso Zugang zur Welt der Götter? Konnte sie sie beobachten? Womöglich sogar ihre geheimen Pläne erraten?
Aber warum haben sie Danika dann nicht selbst vernichtet? Für einen Gott wäre das sicherlich ein Leichtes. Warum zwangen sie ihn, Aeron, die Drecksarbeit zu tun?
Er blickte zu Reyes hinüber, der völlig bleich war. Wahrscheinlich reimte er sich gerade etwas Ähnliches zusammen. Wenn Danika von Feinden der Götter gekidnappt und gezwungen werden konnte, ihnen göttliche Geheimnisse zu verraten, dann würden die Götter sie tatsächlich niemals aus den Augen lassen. Sie würden nicht eher ruhen, bis sie tot war.
Und nichts könnte sie retten.
„Ich habe nicht … ich bin nicht …“ Danika rieb sich mit der Hand übers Gesicht, wie um ihrem Gehirn Starthilfe zu geben, damit es das alles verstand. Als sie ihre Hand sinken ließ, war ihre Miene versteinert. „Hört auf, mich aus dem Konzept zu bringen.“ Ihr Blick wanderte zu Aeron. „Wo ist meine Familie?“
„Wir, du und ich, wir werden unsere Informationen gegeneinander austauschen.“
„Okay.“ Sie zögerte keine Sekunde.
Aeron beobachtete, wie sie ihre Finger langsam von den Gitterstäben löste und ihren Arm nach Reyes ausstreckte. Der Krieger griff durch das Gitter nach ihrer Hand. Sie verschlangen ihre Finger miteinander, spendeten sich gegenseitig Kraft und Trost. Ganz ohne Worte. War ihnen überhaupt klar, was sie da taten?
„Was willst du wissen?“, fragte sie mit bebender Stimme. Ihre Augen waren zu zwei schmalen Schlitzen geworden. Sie räusperte sich, dann stellte sie die Frage noch einmal, diesmal mit klarer, fester Stimme.
„Hast du die Hölle schon einmal gesehen? Und lüg mich nicht an. Eine Lüge, und das Gespräch ist beendet.“
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, schien die Optionen noch einmal gegeneinander abzuwägen. „Wie ich schon erwähnte, ich sehe sie in meinen Träumen“, sagte sie schließlich.
„Träumen deine Großmutter, deine Mutter und deine Schwester auch von der Hölle?“
Danika schüttelte den Kopf, dass ihre blonden Haare umherflirrten. „Darüber haben sie nie gesprochen.“
Sie stockte ein wenig dabei, aber er gab vor, es nicht zu bemerken. Wenn sie gelogen hatte, dann war sie nicht die Einzige, denn natürlich hatte er nicht die Absicht, das Gespräch zu beenden. „Was …?“
„Wir wollten unsere Informationen austauschen“, unterbrach sie ihn scharf. „Also hübsch der Reihe nach. Wo ist meine Mutter?“
„In den Vereinigten Staaten. In einer kleinen Stadt in Oklahoma.“
Eine unglaubliche Erleichterung ließ ihr hübsches Gesicht aufleuchten. Dann schloss sie die Augen, am ganzen Körper zitternd. Schließlich quollen Tränen zwischen den Lidern hervor und liefen ihr über die Wangen.
Er ließ – er durfte – ihre Emotionen nicht an sich heranlassen. „Hast du jemals vom Himmel geträumt?“
„Ja.“
„Was siehst du …“
Abermals schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich habe bereits geantwortet. Jetzt bist du dran. Wo ist meine Schwester?“
„Issst langweilig“, ließ sich Legion mit einem Seufzer vernehmen, rollte sich in Aerons Schoß zusammen und schloss die Augen.
„Deine Schwester ist bei deiner Mutter.“
„Oh Gott.“ Weitere Freudentränen zeichneten eine glitzernde Spur bis zu Danikas Kinn.
Aeron hatte den Eindruck, dass ihre Beine nachgegeben hätten, wenn Reyes nicht zwischen den Gitterstäben hindurch ihre Taille umfasst und sie gestützt hätte. Sie protestierte nicht. Im Gegenteil: Sie drängte sich näher an ihn.
Wie war es möglich, dass sie einander so vertrauten und sich gegenseitig so brauchten?
Ach was, sie waren einfach zwei Verrückte. Kein Grund zur Eifersucht. „Was siehst du auf deinen spirituellen Reisen?“, bohrte er weiter.
„Ich sehe unglaublich viel Böses und unfehlbar Gutes. Ich sehe Leben und Tod. Finsternis und Regenbogenfarben. Lärmende, zerstörerische Dämonen und Engel, die den Schaden reparieren und überall Lobgesänge erklingen lassen.“
Als sie schwieg und auch offensichtlich nichts weiter hinzufügen wollte, runzelte Aeron die Stirn. Nichts von alledem konnte für die Götter Grund genug sein, sie zum Tode zu verurteilen. Und erst recht nicht zu seiner Art von Tod. Die Sünden ihrer Vergangenheit kamen ihm allenfalls vor wie weiche Butter.
„Was hast du von den Göttern gesehen? Was …“
„Meine Großmutter“, unterbrach sie ihn. „Wo ist meine Großmutter?“
Er presste die Lippen aufeinander, sein Puls beschleunigte sich, Schweißperlen traten ihm auf die Schläfen. Wenn er ihr die Wahrheit sagte, würde sie sofort gehen. Und das wollte er nicht. Noch nicht. Tausende von Fragen jagten ihm noch durch den Kopf.
„Ich bin noch nicht zufrieden mit deiner letzten Antwort“, grummelte er. „Sag mir, ob du die Götter gesehen hast.“
Obwohl sie einige Schritte voneinander entfernt waren, hörte er, wie sie die Zähne zusammenbiss. „Ich weiß nicht, ob ich sie gesehen hab.“
„Denk nach!“, toste er.
Sie zuckte zusammen, und Reyes fauchte ihn böse an.
„Wie soll ich das wissen? Ich glaube nicht an Götter und Göttinnen, ich weiß nicht, wie sie aussehen und wie sie sich anhören.“ Ihr Atem kam stoßweise. „Möglich, dass ich zigmal von ihnen geträumt habe, ohne es zu wissen.“
„Hilf ihr, es herauszufinden“, schnauzte er Reyes an.
Reyes blickte sie an. Sein Blick war unnachgiebig und erinnerte Aeron an die Nacht, in der Reyes ihn gebeten hatte, Danika in die Stadt zu fliegen. Sie hatte partout nicht gewollt und Reyes hatte partout nicht gewollt, dass Aeron sie anrührte, aber trotzdem hatte er auf all diese Befindlichkeiten keine Rücksicht genommen, sondern die Beteiligten stur gezwungen mitzuspielen – im Dienste der gemeinsamen Sache.
So war er schon immer gewesen, stets hatte er die Wünsche und Bedürfnisse seiner Freunde über seine eigenen gestellt und sie entschlossen und unnachgiebig zu erfüllen versucht – auch wenn diesen Freunden seine harsche Vorgehensweise auf die Nerven ging.
„Wenn du Informationen zurückhältst, brechen wir das Gespräch hier ab“, warnte Reyes. Er ließ Danika los, verließ die Zelle, schloss die Tür und wandte sich ihr dann zu: „Aeron wird sein Wort halten. Sag ihm, was er wissen will, und er wird dir von deiner Großmutter erzählen. Was hast du kürzlich gesehen? Beschreibe es. Was hast du gehört? Jedes Detail ist wichtig.“
Sie schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Abermals lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie ihren Blick von Reyes zu Aeron schweifen ließ. „Gab es kürzlich einen … einen Krieg? Ihr wisst schon … dort oben?“
Aerons Kiefer klappte herunter.
Reyes schnappte laut nach Luft. Er trat einen Schritt zurück und musterte Danika eingehend.
Es stimmte also: Sie konnte tatsächlich sehen, was im Himmel vor sich ging. Der Grund für den Todesbefehl gegen sie lag somit eindeutig auf der Hand.
„Ja“, krächzte Reyes. „Es gab einen Krieg.“
„Die Griechen, die gegen Titanen kämpften? Ich glaube, so nannten sie sich.“
„Ja“, antwortete Aeron.
Danikas Wangen hatten jegliche Farbe verloren. „Die Titanen haben gewonnen, und die Griechen wurden eingesperrt, zumindest die meisten von ihnen.“
„Ja.“ Beide, Reyes und Aeron, hatten unwillkürlich geflüstert.
„Die Titanen jagen umher auf der Suche nach irgendwelchen ganz speziellen Waffen. Der König … ich glaube, er war der König … hatte eine Besprechung mit dem neuen Chef der Leibwache. Ich schätze, das ist auch gleichzeitig der Armeechef.“ Sie sprach jetzt mit großer Geschwindigkeit, als fürchte sie, den Faden zu verlieren, wenn sie eine Pause machte. „Sie haben einen Plan. Der Armeechef will auf die Erde kommen, sich hier umschauen und abwarten, um schließlich zuzuschlagen. Ich erinnere mich nicht genau an jede Einzelheit, aber meine Bilder könnten da sicher weiterhelfen. Wenn ich aus meinen Träumen erwache, versuche ich, so schnell wie möglich alles zu vergessen. Ich will mich nicht an die Träume erinnern.“
„Bilder?“, fragte Reyes, und wieder war seine Stimme ein bloßes Krächzen.
Danika nickte, vor ihrem inneren Auge spulten sich düstere Filme ab. „Wenn ich von Himmel und Hölle träume, male ich anschließend auf, was ich gesehen habe, um mein Gedächtnis von all den Visionen zu befreien.“
„Und wo sind diese Bilder jetzt?“, fragte er und schlug mit einer solchen Kraft gegen die Wand hinter sich, dass sie mit erhobenen Händen zwei Schritte zurückwich.
„Ein paar sind in meiner Wohnung in New Mexico, die restlichen dort, wo ich meine Sachen für ein Jahr eingelagert habe.“
Reyes wandte sich jetzt zu Aeron um, grimmig und abwartend.
Auch Danika schaute ihn an. „Ich hab alles gesagt, was ich weiß. Jetzt bist du dran. Erzähl mir von meiner Großmutter.“
Nach allem, was sie ihm verraten hatte, schuldete er ihr die Wahrheit, und deshalb versuchte er auch gar nicht erst, irgendetwas zu beschönigen. Er schaute ihr geradewegs in die Augen und sagte: „Ich denke, ich habe sie getötet.“