15. KAPITEL
Danika wusste nicht, wie sie das, was sie gerade gesehen hatte, verdauen sollte. War es das, was Reyes brauchte, um Lust zu empfinden? Kurz zuvor hatte ein kleiner Teil von ihr noch gedacht, sie könne ihm vielleicht geben, wonach er sich sehnte. Aber jetzt sah sie, dass es mit ein bisschen Kratzen und Beißen nicht getan war. Er hatte Adern, Muskeln und sogar Knochen durchtrennt. Überall war Blut, endlos viel Blut, das sich in Pfützen um ihn herum sammelte und langsam gerann.
Jetzt schaute er sie aus verschleierten Augen an, die Lippen grimmig zusammengepresst. Auf seinem Kinn war ein blutroter Spritzer. „Was machst du hier?“ Seine Stimme war kalt und völlig emotionslos.
„Ich … ich bin dir gefolgt“, stammelte sie. „Ich … ich …“ Sie bebte am ganzen Körper und hatte einen dicken Kloß im Hals.
Hatten andere Frauen ihn etwa auf diese Weise malträtiert? Hatten sie ihm so Lust bereitet? Der Gedanke verstörte sie zwar, aber doch nicht so, wie er es hätte tun sollen. Vor allem war es weniger die Vorstellung von Gewalt, die sie beunruhigte, als die Tatsache, dass andere Frauen seinen Bedürfnissen nachkamen und nicht sie. Dass andere Frauen ihm Dinge antaten, die sie selbst nicht getan hatte – und zu denen sie sich vielleicht nie würde durchringen können.
Reyes rappelte sich schwankend hoch. Aus seinem Oberschenkel quoll immer noch Blut. Danika meinte, den durchtrennten Knochen unter der Muskelschicht hervorlugen zu sehen, und konnte einfach nicht weggucken. Ihr Blick war wie gebannt, verfolgte jeden Blutstropfen, der sich ergoss. Sein Penis, immer noch steif, prall und dazu noch blut-und samenverschmiert, reckte sich stolz hoch, trotz des beachtlichen Gewichts seiner Hoden.
Obwohl sie wusste, dass er vom Dämon des Schmerzes besessen war, konnte sie nicht nachvollziehen, wie er in einem so brutalen Akt Erleichterung finden konnte.
„Schau mich an“, bellte er.
„Das tue ich“, flüsterte sie.
„Schau mir ins Gesicht.“ Er zerrte seine Hose hoch und schloss sie.
Die abrupte Bewegung riss sie aus ihrer Trance. Langsam wanderte ihr Blick nach oben. Sein Bauchnabel war von hauchzarten Härchen umgeben – wie hatte ihr das entgehen können? –, und sein Waschbrettbauch kündete von seiner übermenschlichen Stärke.
Ihr Zittern wurde stärker, je näher ihr Blick seinem Gesicht kam. Auf seinem Kinn lag ein Bartschatten, der sein Gesicht kantiger machte und ihn gefährlicher aussehen ließ.
Er schaute sie finster, mit geschürzten Lippen an. Beim Einatmen bebten seine Nasenflügel. „Ich hab dir gesagt, du sollst in meinem Zimmer bleiben.“
Seine Augen, die normalerweise die Farbe von geschliffenem Quarz hatten, waren jetzt rot. Sie glühten. Und pulsierten. Danika schluckte. „Ich konnte nicht … ich wollte nicht …“
„Geh!“
„Hey, so sprichst du nicht mit mir, verstanden?“
„Bitte geh“, flüsterte er.
Als er so dastand, keuchend, zornig, blutend, als käme er direkt aus einem Krieg zurück, verlor sie … was auch immer sie gefühlt hatte. Ekel? Verwirrung? Entsetzen? Ich möchte ihn so malen, wie er da steht, dachte sie. Er war einfach nur schön. Dunkel, eine Mischung aus Zimt und Honig. Seine Augen erinnerten an eine Sonnenfinsternis – man wusste nicht, ob man ihn, blind allem anderen gegenüber, einfach nur anstarren oder aber schnell wegschauen sollte.
Was sie aber fast noch mehr fesselte als sein Gesicht war sein Tattoo. Der Schmetterling mit den ausgebreiteten Flügeln, der die halbe Brust und den Hals bedeckte, schien sie direkt anzustarren, schien sie näher heranzulocken. Bislang war er ihr immer unheilvoll und brutal vorgekommen, fast wie ein Zeichen des Bösen, doch jetzt sah er zart und sanftmütig aus. Die gefärbte Haut glitzerte, als sei sie mit Rubinen, Quarzen und Saphiren besetzt. Die spitz zulaufenden, metallisch wirkenden Flügel schienen auf einmal abgerundet und sehr viel weicher.
Das habe ich früher schon einmal gesehen, dachte sie. habe das früher schon einmal gezeichnet. Oder doch nicht? Der Schmetterling hatte etwas Vertrautes an sich, doch nicht genug, um ihre Erinnerung wachzurütteln. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie das Tattoo bei einigen der anderen Krieger gesehen hatte? Jeder der Männer trug die Tätowierung an einer anderen Stelle, und bei jedem war sie anders gefärbt. Maddox war auf dem Rücken tätowiert, Lucien auf der Brust. Und Aeron am ganzen Körper, dachte sie mit Schaudern.
Unwillkürlich streckte Danika ihre zitternde Hand aus, begierig, Reyes’ Brandzeichen zu berühren, zu spüren, wie es sich anfühlte, wie warm es war. Heiß und erhaben oder kalt und glatt?
Reyes tat einen Satz zurück und prallte mit ausgebreiteten Armen gegen die Wand. Das Waschbecken wackelte, und die glitschige Seife fiel zu Boden. „Fass mich nicht an, Danika.“
Rot vor Scham und Kränkung ließ sie ihren Arm sinken. „Entschuldigung“, murmelte sie, „tut mir leid.“ Du hättest es wissen müssen. Er ist außer sich vor Wut, du musst dich in Acht nehmen.
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Mit abgehackten Bewegungen nahm er ein Handtuch aus dem Regal neben dem Waschbecken, bückte sich und wischte das Blut auf. „Mir tut es leid, dass du das mit ansehen musstest. Und jetzt geh bitte einfach in mein Zimmer zurück. Bitte. Ich komme gleich nach.“ Auch seine Stimme war abgehackt, ein Hinweis darauf, wie verunsichert er tatsächlich war.
„Ich helfe dir beim Aufwischen. Ich …“
„Nein!“
Er brüllte so laut, dass sie zusammenzuckte. Verdammt noch mal! Wo war ihr Mut geblieben? Was war aus ihrem Vorsatz geworden, sich bei Auseinandersetzungen nie wieder zu ducken?
Kaum dass sein Brüllen verklungen war, blieb Reyes stocksteif stehen. Dann platzte es aus ihm heraus: „Noch mal: Mir tut es leid. Du hast nichts falsch gemacht, du wolltest nur helfen. Aber ich pflege meinen Dreck selber wegzuwischen, und ich werde dir nicht erlauben, deine kostbaren Hände schmutzig zu machen.“
Kostbar? Ihre Hände? Seine Worte klangen nicht eine Spur sarkastisch, sondern durch und durch aufrichtig.
Er drehte sich um, wandte ihr den Rücken zu und wischte weiter. „Bitte, Danika, geh jetzt.“
Sie merkte, wie peinlich ihm der Vorfall war. Er schämte sich. Und sie wusste nicht, was sie sagen sollte, um ihn zu beruhigen. Ebenso wenig, was sie denken sollte, um sich selbst zu beruhigen.
Danika bewegte sich rückwärts aus dem Badezimmer, ohne Reyes, der weiterhin putzte und sie ignorierte, auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Erst als sie mit der Schulter gegen den Türrahmen prallte, wandte sie ihren Blick ab. Als sie den Flur erreichte, drückte sie sich gegen die Wand. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper.
Am liebsten wäre sie sofort zu Ashlyn gegangen und hätte ihr das Herz ausgeschüttet, doch ihre Freundin war mit Maddox und den anderen am frühen Morgen aufgebrochen. Ashlyn sollte sich Gespräche mit anhören, hatte sie gesagt, und Danika war erstaunt gewesen, dass der überbesorgte, überfürsorgliche Maddox ihr erlaubt hatte, ihn auf die Reise zu begleiten. Danika war unschlüssig: Sollte sie Reyes gehorchen und zurück in sein Zimmer gehen? Oder lieber hier auf ihn warten? Wenn sie jetzt ginge, hätte sie Zeit, sich zu beruhigen und nachzudenken. Wenn sie blieb, könnte sie Reyes zu Torin begleiten und dabei sein, wenn er mit ihm über ihre Familie sprach.
Gib’s zu. Du machst dir Sorgen um Reyes. Du möchtest ihn am liebsten nicht aus den Augen lassen.
Sie blieb.
Eine Viertelstunde lang hörte sie seine Schritte auf dem Boden, das Geräusch von laufendem Wasser und Flüche. Obwohl ihre Gedanken in ihrem Kopf umhertosten wie ein Orkan, wurde sie seltsamerweise nicht ungeduldig,
Sie hatte einige wichtige Entscheidungen zu treffen.
Am späteren Abend musste sie dringend Stefano kontaktieren, das Gespräch war längst überfällig, das kleine Handy, das er ihr mitgegeben hatte, brannte ihr schon Löcher in die Tasche. Was würde er wohl tun, wenn sie nicht anrief? Was würde sie wollen, das er tat? In jedem Fall würde es nicht einfach sein, im Beisein von Reyes, der ihr offenbar die Gedanken und Bedürfnisse vom Gesicht ablesen konnte, zu telefonieren.
Oh doch, sie wollte immer noch Rache! Wenn sich herausstellte, dass Aeron ihre Großmutter tatsächlich umgebracht hatte, würde sie zu seinem Verlies zurückkehren und ihm ohne zu zögern die Kehle durchschneiden. Aber was, wenn er sie nicht getötet hatte?
„Gib bloß die Hoffnung nicht auf“, wisperte Reyes’ Stimme in ihrem Innern, obwohl sie doch beide wussten, wie heimtückisch und trügerisch Hoffnung sein konnte. Würde sie tatenlos mit ansehen können, wie die Jäger die Burg stürmten, ihre Bewohner gefangen nahmen, sie einsperrten und dann abschlachteten? Reyes würde nicht verschont bleiben. Die Jäger wollten ihn, sie hassten ihn. Und sie, Danika, würde ihn nicht warnen können, denn dann würde er die anderen warnen, was ihr Ziel, ihn aus allem herauszuhalten, vereiteln würde – immerhin das einzige Ziel, das sie klar vor Augen hatte.
Wie auch immer sie die Sache drehte und wendete, sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Sie fühlte sich hin und her gerissen, wie auf einem Drahtseil, ohne die leiseste Ahnung, zu welcher Seite sie herunterfallen würde. Aber irgendwann würde etwas passieren, das sie zu einer der beiden Seiten kippen ließ, bevor ein anderes Ereignis sie womöglich wieder in die andere Richtung katapultierte.
„Danika.“
Reyes’ Stimme riss sie aus ihrer Grübelei, und sie öffnete die Augen. Wann hatte sie sie geschlossen? Der Krieger, der sie in so tiefe innere Konflikte warf, stand direkt vor ihr. Er hatte sich gewaschen und dabei seine Emotionen offenbar ebenso gründlich weggeschrubbt wie das Blut. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos, und doch begann ihr Herz zu rasen, so wie jedes Mal, wenn sie in seiner Nähe war.
„Du hast gewartet“, stellte er fest.
Sie konnte nicht erkennen, ob ihn das erfreute oder ärgerte. „Ja“, sagte sie und atmete tief den frischen Pinienduft ein, den er verströmte. Er trug ein schwarzes T-Shirt und frische Jeans. „Ich würde dich gerne begleiten und selbst mit Torin sprechen.“
Er legte den Kopf schräg und sah sie durchdringend an. „Du … du hast keine Angst vor mir?“
„Nein.“ Das war die Wahrheit. Sie war lediglich noch verwirrter als bisher.
Ihm entschlüpfte ein Seufzer, der, wenn man genau hinhörte, nach Erleichterung klang. „Ich fühle mich wieder einmal hilflos dir gegenüber.“
Genauso hilflos, wie sie ihm gegenüber war? „Ich verstehe das nicht.“ Und damit meinte sie sowohl die Bindung, die es offenbar zwischen ihnen gab, als auch ihre Scheu, sich gegenseitig zu schaden, wo sie doch genau das eigentlich tun müssten.
„Ich auch nicht.“ Er streckte seine Hand aus. „Ich nehme dich mit zu Torin, aber du darfst ihn nicht berühren. Du darfst nicht einmal in seine Reichweite kommen.“
„O…kay.“
„Ich meine es ernst. Erinnerst du dich an die Epidemie, die in Buda wütete, als du das erste Mal hier warst?“
Sie nickte und schlang ihre Finger um seine. Sofort strömte Wärme in ihren Körper.
„Ein leichter Kontakt mit Torins Haut reicht aus, um eine neue Seuche auszulösen.“
Reyes genoss die Berührung ihrer ineinander verschlungenen Finger. Jedes Mal wenn er ihre Hand ergriff, nachdem sie eine Weile allein gewesen war, fühlte sich ihre Haut eisig kalt an. Und jedes Mal ging die Kälte nach nur wenigen Sekunden des Hautkontakts als köstlich schmerzhaftes Prickeln auf ihn über.
Schmerzhaft.
Obwohl er krampfhaft versuchte, nicht an die Szene zu denken, der Danika eben beigewohnt hatte, kehrten seine Gedanken immer wieder dahin zurück. Was hatte sie angesichts seines blutigen Treibens wohl gedacht? Hielt sie ihn für ein Monster? Hatte er obendrein womöglich noch ihren Namen gestöhnt? Er war sich nicht sicher.
Als er um die nächste Ecke bog, hätte er sich am liebsten nach ihr umgedreht, versagte es sich jedoch. Sie hatte ihn im schlimmstmöglichen Zustand erlebt und war trotzdem nicht schreiend davongelaufen. Er versuchte, das als gutes Zeichen zu werten und sich damit zu beruhigen. Doch das Entsetzen, das er auf ihrem Gesicht gelesen hatte, ließ sich nicht beiseiteschieben. Es machte ihm klar, dass er Schmerz niemals in ihre Beziehung würde einbringen können. Was wiederum bedeutete, dass er niemals würde mit ihr schlafen können. Niemals. Das weißt du doch längst.
Trotzdem hatte er unbewusst vielleicht doch ein Fünkchen Hoffnung gehegt, eines Tages mit Danika zusammen sein zu können, und zwar rückhaltlos – ohne Angst, sie zu verletzen, ohne das Bedürfnis, von ihr verletzt zu werden, und ohne die Befürchtung, sie in eine Sadistin zu verwandeln. Was für eine alberne Hoffnung. Verhasste Hoffnung. Ganz klar: ein Dämon.
Es ist zu ihrem Besten, redete er sich selbst ein. Danika, sein Engel, verdiente nur Gutes. Sie verdiente einen sanften, einfühlsamen Mann, jemanden, der sie zum Lachen brachte. Jemanden, vor dem sie sich nicht ekeln musste. Der sie nicht dazu brachte, sich vor sich selbst zu ekeln.
Und urplötzlich war die Eifersucht in ihm erwacht, eine Eifersucht, die noch bösartiger in ihm tobte als Schmerz, ein wildes Tier, das in seinem Kopf brüllte und von innen gegen die Schädeldecke kratzte.
„Du quetschst meine Hand“, stöhnte Danika mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Sofort lockerte er seinen Griff. „Tut mir leid.“ Würde er es jemals schaffen, sie ziehen zu lassen?
„Ich bin tougher, als du denkst“, sagte sie, „nur möchte ich deinem Freund ungern mit gebrochener Schlaghand gegenübertreten.“
Die Bemerkung war scherzhaft gemeint, vielleicht, um seine Stimmung aufzubessern, aber er nahm sie sich zu Herzen. Hier, in der Festung, musste Danika permanent all ihre Kraft und ihren Mut aufbringen, denn seine Freunde waren eine Bedrohung für sie. Sie würden Danika niemals in ähnlicher Weise willkommen heißen wie Ashlyn und Anya. Während er versuchte, seine aufwallenden Gefühle zu unterdrücken, hob er ihre Hand an seinen Mund und hauchte einen zarten Kuss auf die Innenseite ihres Handgelenks. „Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein, ich versprech’s.“
Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken.
Am Ende des Korridors blieben sie stehen. Torins Tür war geschlossen. Gedämpfte Stimmen drangen heraus. War es Gelächter? Mit zusammengezogenen Augenbrauen klopfte Reyes. Die Stimmen verstummten.
Cameo öffnete die Tür, und Reyes war augenblicklich sprachlos vor Schreck. Sie war schön, zierlich, dunkelhaarig und eine grausame Kriegerin – nur wenigen von ihnen war es bisher vergönnt gewesen, sie in einer Schlacht zu erleben oder aber die Schlacht zu überleben und von ihren Taten zu berichten. Wenn sie sich in der Burg aufhielt, blieb Cameo meist allein oder drückte sich in den Schatten herum. Das tat sie sicher nicht freiwillig, dachte Reyes, sondern weil die Männer nicht in ihrer Nähe sein konnten, ohne den unbändigen Wunsch zu verspüren, sie umzubringen. Denn in ihren silbrigen Augen und in ihrer gequälten Stimme lag alles Elend der Welt.
Nie zuvor hatte Reyes sie fröhlich und entspannt erlebt. Zumindest nicht seit sie dimOuniak geöffnet hatten. Dass er sie nun lachen sah, obendrein zusammen mit Torin, der eigentlich niemanden berühren durfte, nicht einmal einen Unsterblichen, das war erschreckend. Normalerweise mied Torin nämlich Frauen – so wie alle anderen den Krankheiten aus dem Weg gingen, die er im Inneren seines trügerisch gesund wirkenden Körpers beherbergte. Da er sich eh mit keiner Frau zusammentun konnte, wollte er sich lieber erst gar nicht durch weibliche Gesellschaft in Versuchung führen.
Also was zum Teufel war da los?
„Was willst du?“, fragte Cameo.
Bei allen Göttern, was für eine Tortur. Schon allein ihr zuzuhören, war, wie in einem Albtraum zu versinken.
„Warum sehe ich auf einmal den Griff deines Schwertes und wünsche, es mir in die Brust zu stoßen?“, flüsterte Danika, verwirrt und sogar ein bisschen benommen vom Anblick der weiblichen Kriegerin.
Soweit Reyes sich erinnerte, war Danika bei ihrem letzten Aufenthalt auf der Burg Cameo nicht begegnet. Das bedeutete, dass das hier Danikas erste Begegnung mit Elend war. Und die erste war immer die schwierigste. „Schließ die Augen und halte dir die Ohren zu.“
Zum ersten Mal hinterfragte sie seine Worte nicht, sondern beeilte sich zu gehorchen.
„Ich muss mit Torin sprechen“, sagte Reyes zu Cameo.
Sie lehnte sich mit der Hüfte gegen den Türrahmen. „Tja, da kannst du später wiederkommen. Ich war zuerst hier. Ist das deine Frau?“
„Ja“, antwortete Reyes und fügte nahtlos hinzu: „Du kannst später wiederkommen.“ Er musste seinen Blick abwenden. Seine Brust schmerzte, aber es war kein angenehmer Schmerz. Bahnte sich da etwa … eine Romanze an zwischen Torin und Cameo? Zugegeben: Es waren schon seltsamere Dinge passiert. Eines davon war, dass Danika hier bei ihm geblieben und nicht Hals über Kopf davongelaufen war.
„Sie ist hübsch.“
Wunderhübsch, wenn man ihn gefragt hätte. „Verschwinde, dann gebe ich dir den schwarzen Dolch, den du neulich so bewundert hast. Der, der in meinem Schlafzimmer an der Wand hängt.“
Freude spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Verdammt, er hatte sie schon wieder angeschaut – und prompt begann seine Brust wehzutun. Er rieb sich über die schmerzende Stelle direkt über dem Herzen, während Cameo, die ihnen bereits wieder den Rücken zuwandte, noch einmal einen Blick über die Schulter warf.
„Na schön, ich gehe“, gab sie nach und verließ das Zimmer. „Aber ich komme gleich zurück, also beeilt euch,“ rief sie ihm noch zu, bevor sie um die Ecke des Korridors verschwand.
Reyes ergriff Danikas Hand – er hielt es einfach nicht lange aus ohne Kontakt zu ihr. Sofort spürte er, wie sich ihre eisige Haut aufwärmte. Sie öffnete die Augen, diese großartigen, grünen Engelsaugen, die ihn gleichzeitig durchdrangen und besänftigten.
„Was ist passiert?“, fragte sie, immer noch etwas benommen.
„Cameo beherbergt den Dämon des Elends.“
„Ah, das erklärt einiges. Arme Frau.“
Mit nervös zuckenden Lippen führte Reyes sie in Torins Zimmer. Ein ausgeklügeltes Computersystem nahm die eine Wand ein. Es gab mehrere Bildschirme, auf denen verschiedene Einstellungen in verschiedenen Farben flimmerten. Auf einigen war der steile Berg zu sehen, auf dem sich ihre Burg erhob, auf anderen Budapest und seine Bewohner.
Torin blieb in seinem Drehstuhl sitzen und blickten ihnen mit verschränkten Armen entgegen. Er hatte weiße Haare und grüne Augen, die einen Tick dunkler waren als Danikas und boshaft funkelten. „Was ist?“, fragte er auf dieselbe tonlose Art wie Cameo.
„Gibt es irgendetwas, das du mir erzählen möchtest?“, fragte Reyes ihn.
Torins konzentrierter Blick wanderte kurz zu Danika, bevor er zu Reyes zurückkehrte. „Irgendetwas, das ihr mir erzählen wollt?“
„Nein.“
„Meine Antwort lautet auch Nein. Warum seid ihr hier?“
„Wegen meiner Familie“, sagte Danika. Plötzlich konnte sie kaum noch an sich halten. Sie trat einen Schritt vor, fing sich dann aber gerade noch und wich schnell wieder zurück. „Weißt du, wo ich sie finden kann? Aeron hat eine kleine Stadt in Oklahoma erwähnt.“
„Diese Information hätte vor ein paar Stunden nützlich sein können.“ Torin drehte sich zu seinen Monitoren um. Seinen Computerkenntnissen verdankten die Krieger ihren Wohlstand. „Die Jungs und ich haben uns heute Morgen, bevor sie losgezogen sind, noch kurz unterhalten. Und Lucien hat mich um genau dieselbe Information gebeten. Du musst wissen, als ihr, du und deine Familie, das letzte Mal hier wart, hab ich Kontrastmittel in euer Essen getan.“
Reyes streichelte Danikas Arm, in der Hoffnung, sie zu beruhigen. Zum Glück ging sie bei dieser Enthüllung nicht gleich in die Luft.
„Bei dir hat sich das Mittel sehr viel schneller herausgespült, als es das hätte tun sollen“, fuhr er fort. „Keine Ahnung, ob es daran lag, dass du Angst hattest und deshalb stärker geschwitzt hast. Eigentlich hätte das Zeug mehrere Monate in deinem Organismus bleiben sollen. Als Zweites hat die Farbmarkierung deiner Schwester nachgelassen, dann die deiner Großmutter und zuletzt die deiner Mutter. Seit Wochen schon habe ich nichts mehr von euch gesehen. Und, ja, ich weiß genau, was du jetzt denkst. Ich hätte euch einen Chip in den Schuh implantieren sollen, aber, tja, die Idee ist mir leider vorhin erst gekommen. Man lernt ja nie aus.“
Reyes bezweifelte, dass das auch nur annähernd das war, was Danika gedacht hatte, aber er hielt seinen Mund.
„Egal, ich sitze seit Stunden am Computer und suche nach Anhaltspunkten. Aber nichts. Nicht die kleinste Spur.“
Danika hatte vor gespannter Erwartung – und Hoffnung –kaum zu atmen gewagt. Jetzt sackte sie enttäuscht zusammen. Reyes löste seine Hand und schlang seinen Arm um ihre Taille, um ihr etwas von seiner Kraft abzugeben. Sie lehnte sich an ihn. Auf der Suche nach Trost?
„Bis …“, fügte Torin hinzu, während seine Finger über die Tastatur glitten, „… ich das hier gesehen habe.“
Danika stand erneut stocksteif da. „Was?“ Ihre Anspannung lag fast greifbar in der Luft.
Ohne vom Bildschirm aufzublicken, wedelte Torin mit seiner Hand. „Ihr habt Paris beim Keksebacken gesehen, oder? Er ist ein erbärmlicher Keksbäcker, ich weiß, aber das tut hier nichts zur Sache. Wenn man seine Kekse isst, dann lösen sie sich auf und scheinen im Organismus zu verschwinden. Doch sie verschwinden nicht. Sie hinterlassen bleibende Spuren: Fett, Cholesterol und so weiter. Unser Kontrastmittel ist eine Mischung spezieller Zutaten, die die Chemie des Körpers so verändern, dass jedes Individuum sein ganz eigenes Signal abgibt. Aber die Spuren, die unser Mittel hinterlässt, sind viel deutlicher als die der Kekse. Ja, mehr noch: Ich habe mich daran erinnert, dass unser Mittel Individuen auch dann noch auffindbar macht, wenn das Mittel längst herausgespült ist.“
Jetzt erstarrte Reyes. Ashlyn wäre fast gestorben, als sie eine „Zutat“ zu sich genommen hatte, die eigentlich nur für Unsterbliche gedacht war.
Torin, der merkte, in welche Richtung Reyes dachte, beeilte sich hinzuzufügen: „Ich hätte das Präparat nicht bei den Frauen benutzt, wenn Sabin es nicht bereits an ein paar Jägern getestet hätte.“
Langsam entspannte sich Reyes. Aber er spürte, wie gepresst Danika atmete, und zog sie dichter zu sich heran.
„In fünf Minuten“, meinte Torin, „habe ich eine Karte ihres aktuellen Aufenthaltsortes ausgedruckt. Später, wenn ihr in ihrer Nähe seid, könnt ihr mich anrufen, und ich sage euch, ob sie sich bewegt haben.“
Jetzt fing Danikas zarter Körper an zu zittern. „Weißt du auch, wo meine Großmutter ist?“
Schweigen. Dann ein steifes Nicken. „Ich habe das Programm bereits zurückgespult, um zu sehen, wo sie zuletzt war, doch in der ganzen letzten Woche war ihr Signal ziemlich schwach.“
Hoffnung brachte Danikas Engelsgesicht zum Leuchten und erhellte den gesamten Raum. „Dann lebt sie also. Sie ist tatsächlich noch am Leben! Es stimmt also nicht, was Aeron gesagt hat. Wenn sie tot wäre, würde man sie doch nicht orten können, oder?“
Torin antwortete ohne zu zögern und mit vollkommen unbeweglicher Miene: „Stimmt.“
Mit weit aufgerissenen Augen presste sie sich die Hand auf den Mund: „Oh mein Gott! Das ist … das ist … das ist der schönste Tag meines Lebens!“
Mit einem strahlenden Lächeln warf sie sich Reyes um den Hals und vergrub ihre Wange in seiner Halsbeuge. Ihre Haut war so zart wie Blütenblätter und roch nach nächtlichem Himmel. „Ich bin so froh, dass ich platzen könnte!“
Reyes hielt sie fest, blickte aber weiterhin Torin an. Sein Freund antwortete mit einem knappen Nicken auf Reyes’ unausgesprochene Frage. Ein toter Körper, so schien es, konnte sehr wohl noch ein Signal aussenden.
Reyes atmete tief ein und schloss die Augen. Er hielt Danika fest und genoss ihre Nähe. Jede Faser seines Körpers drängte zu ihr. Er zitterte bereits vor lauter Anstrengung, ruhig zu bleiben, und trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sich seine Fingernägel und seine Zähne zuspitzten. Beides passierte normalerweise nur, wenn sich der Hunger des Dämons verschärfte.
Ich hab dich bereits gefüttert! Jetzt … genieß sie doch einfach mal so!
Sie würden sie vielleicht schon bald nicht mehr haben.
Wenn sie nämlich erfuhr, dass man tatsächlich auch einen toten Körper orten konnte … Eine furchtbare Angst überkam ihn, und er schloss die Augen. Sie hatte Hoffnung geschöpft – heimtückische, trügerische Hoffnung. Dieselbe Hoffnung, die er ihr schon vorher gemacht hatte. Und auch jetzt würde er sie ihr nicht nehmen. Noch nicht.