25. KAPITEL

Paris ließ sich auf die Knie fallen. Kurz zuvor hatte sich plötzlich ein Gefühl von Dringlichkeit in ihm breitgemacht, und gleichzeitig war das Wörtchen „Jetzt“, geflüstert vom König der Götter selbst, in seinem Geist erklungen, sodass er die Krieger im Freizeitsalon zurückgelassen hatte und zu seinem Schlafzimmer geeilt war. Ihm war bewusst, dass er endlich eine Entscheidung treffen musste.

Es war höchste Zeit. Er konnte nicht länger warten. Er fühlte sich zerrissen, wie roh.

Jetzt erhob er sein Messer und rief: „Kronos, Titanengott, ich bin hier, wie Ihr es wünscht.“ Während er sprach, schnitt er sich mit dem Messer einmal quer über die Brust. So tief er konnte. Die Haut und sogar ein paar Organe klafften auf, Blut quoll heraus.

Der Schmerz war so heftig, dass er sich fast krümmte. Aber er musste seine Entschlossenheit unter Beweis stellen. Er hatte heute bereits mit zwei Frauen geschlafen. Zwei Frauen, an die er sich schon nicht mehr erinnern konnte, obwohl er das Bett der einen gerade mal vor einer Stunde verlassen hatte. Er hatte es satt, so satt.

Die letzten paar Tage hatte er mit Nachdenken verbracht. Zum ersten Mal. Höchst ungewöhnlich für einen Mann, der jahrhundertelang nur für seinen Körper gelebt und seinen Geist abgeschaltet hatte. Und seit einigen Tagen nun wirbelten in diesem Geist haufenweise Fragen und Optionen hin und her. Aeron oder Sienna.

„Kronos, ich flehe Euch an, zeigt Euch mir. Nur noch eine Audienz, das ist alles, was ich erbitte. Ich …“

„Du schreist unnötigerweise“, sagte die Stimme des Götterkönigs hinter ihm. Der Duft nach Sternen erfüllte augenblicklich den Raum. Ein Vibrieren von Macht und Kraft lag in der Luft und richtete die feinen Härchen auf Paris’ Armen auf.

Obwohl er es gerne getan hätte, wandte er sich nicht nach seinem Gast um. Er neigte ehrfurchtsvoll den Kopf und nahm die Haltung eines Dieners an. Er wusste nicht, ob dieser Souverän ihn schlicht für verrückt hielt oder ob sein Bild von den Herren der Unterwelt einfach nur genauso unscharf und unklar war wie das der Herren von den Göttern.

Er war unsicher diesbezüglich, entschloss sich aber, so vorzugehen, als würde Letzteres zutreffen.

„Bevor ich meine Entscheidung fälle, habe ich noch einige Fragen an Euch“, sagte er. „Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich sie Euch gerne stellen.“

„Ich habe mich schon oft über dich gewundert, Dämon. Du gibst mir mit deinem Begehren ein Rätsel auf, das ich entschlossen bin zu lösen.“ Die Schritte von Sandalen und das Rascheln eines Gewandes waren zu hören, dann stand Kronos plötzlich vor ihm. „Frag.“

„Falls ich mich für Sienna entscheide, würde ich dann nur ihren verwesten Körper erhalten?“

Jetzt hörte man ein herzhaftes Lachen. „So misstrauisch. Die Griechen, diese verschlagenen Bastarde, die hätten so etwas gemacht, da bin ich sicher. Aber ich bin eine freigiebigere Natur. Von mir würdest du sie genau so zurückbekommen, wie sie war. Für dich wird sie genauso aussehen wie früher. Sie wird also keine sprechende Leiche sein. Sie wird ein Herz haben, und das wird schlagen.“

Für dich.

Diese zwei Worte machten Paris stutzig, und er runzelte heftig die Stirn. Hatte sie denn wirklich eine besondere Bedeutung, oder suchte er nur nach einem verborgenen Sinn, wo in Wirklichkeit keiner war? Über die Jahrhunderte hinweg hatten die Götter immer wieder gezeigt, wie durchtrieben sie waren. „Verschlagene Bastarde“ hatte Kronos die Griechen genannt – aber Paris schätzte, dass die Titanen nicht viel besser waren.

Deshalb hakte er nochmals nach: „Wird sie mich dann genauso hassen wie zuvor?“

Wieder hörte Paris ein Kichern und spürte, wie ihm Finger über den Nacken strichen. Obwohl ihn diese Finger nur ganz sanft berührten, übertrugen sie so viel Energie, dass Paris’ Herz heftig ins Stolpern geriet. „Natürlich wird sie dich hassen. Sie ist eine Jägerin. Und du bist ein Herr der Unterwelt. Aber trotzdem bin ich sicher, Promiskuität, dass sie sich von dir betören lässt und dich irgendwann liebt.“

Würde er das tatsächlich schaffen?

Und würde ihre Rückkehr die Schuldgefühle aufwiegen, die ihn quälen würden, wenn er die einzige Chance, Aeron zu erlösen, nicht ergriff? Reyes würde diese Frage bestimmt bejahen, denn schließlich stand seine Liebe zu Danika Aerons Erlösung genauso entgegen.

Ganz langsam hob Paris den Kopf. Sein Blick traf den von Kronos. Die Miene des Götterkönigs war unergründlich, nahezu gleichgültig. Verdammt! Wie sollte er sich entscheiden?

Danika schrie auf, als Reyes hochschnellte und reflexhaft zum Angriff überging. Und sie schrie noch mehr, als sie Aeron erkannte. Blankes Entsetzen packte sie. Sie wich zurück, bis sich ihr die kalten Gitterstäbe des Kopfendes in den Rücken drückten. Was zum Teufel soll ich tun?

Die beiden Männer rollten auf dem Boden, boxten, kratzten und bissen sich und knurrten wie Tiere. Aeron stach und schnitt Reyes wiederholt in den Hals und brüllte, dass sein Kopf gleich rollen würde. An zwei Stellen sprudelte bereits das Blut hervor.

Und dabei war Reyes bereits geschwächt, denn sie hatte ihn nur wenige Minuten zuvor geritzt. Um Himmels willen. Ihr Messer. Das brauchte sie jetzt. Wo zum Teufel war ihr Messer?

Hektisch blickte sie sich um. Da, auf dem Boden. So nah und doch so fern. Das letzte Mal, in einer ähnlichen Situation, hatte Aeron sie zusammengeschlagen, und sie war reglos auf dem Boden liegen geblieben. Reyes hatte sie schließlich gerettet, dafür aber einiges an Schlägen kassiert. Doch diesmal würde sie nicht tatenlos zusehen. Und schon gar nicht wegrennen. Sie würde eingreifen. Genau dafür hatte sie trainiert.

„Sie gehört mir“, knurrte Reyes.

„Sie gehört den Göttern“, schnauzte Aeron zurück. Er wirbelte herum, und die messerscharfe Spitze seiner Flügel schnitt Reyes in die Wange.

Reyes’ Kopf schlug zur Seite. Als er sich wieder aufrichtete, lächelte er. „Nicht mehr. Wie bist du aus dem Verlies herausgekommen?“

„Kronos. ‚Jetzt ist es an der Zeit zu handeln‘, sagte er. Und wenn die Götter etwas verlangen, dann gehorche ich.“

Legion spähte aus dem Schatten unter Aerons Flügel hervor. „Du sssolssst nicht verletzzzt werden.“

Aeron streichelte der kleinen Dämonin über den Kopf.

Die Kreatur schnurrte genau so, wie Reyes immer schnurrte, wenn er verletzt wurde. Nur noch ein Stück, dachte Danika, während sie sich vorsichtig ihrem Messer näherte, darauf bedacht, nicht in Aerons Blickfeld zu geraten. Die silberne Klinge schien ihr fast höhnisch zuzublinken.

„Es zahlt sich aus, Freunde zu haben“, bemerkte Aeron düster.

„Ich bin dein Freund.“

„Nein.“

„Aeron, ich liebe dich.“

„Nicht Aeron. Zorn.“

„Du bist Aeron. Mein Bruder aus der Büchse.“

„Und trotzdem hast du mich eingesperrt, obwohl du selbst weißt, wie schrecklich das Leben in Gefangenschaft ist.“

„Du hast mich darum gebeten. Angefleht hast du mich.“

„Du hättest nicht auf mich hören sollen!“

Jetzt bückte sich Danika. Als ihre Finger den Messergriff umschlossen, sah sie Reyes erblassen. Offenbar hatten Aerons Worte ihr Ziel getroffen, hatten Reyes verletzt wie ein Hieb mit dem Schwert. Langsam richtete sie sich wieder auf.

Reyes hatte ganz klar sie über seinen Freund gestellt, er hatte sich für sie entschieden – das wurde ihr jetzt bewusst, und sie begriff zum ersten Mal, wie schwer ihm diese Entscheidung gefallen sein musste. Diese zwei Männer hatten gemeinsam die Feuer der Hölle überstanden. Im wörtlichen Sinne!

„Ich hab getan, was ich tun musste, um dich vor dir selbst zu beschützen“, knurrte Reyes.

„Nein, du hast getan, was du tun musstest, um sie zu beschützen!“, schrie Aeron und schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. Seine Nasenflügel bebten, und er ballte die Fäuste, bereit für einen nächsten Schlag. „Mein Freund.“

Reyes war nackt und unbewaffnet und traute sich wahrscheinlich nicht, sich dem Bett zu nähern, wo das andere Messer lag. Wahrscheinlich wollte er Aerons Aufmerksamkeit nicht auf Danika lenken. Schon wieder beschützte er sie und brachte sich dadurch selbst in Gefahr.

Danika fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sah, wie Reyes sich Zentimeter für Zentimeter rückwärts bewegte. Sie fing an zu zittern und hätte am liebsten laut aufgeschrien und Reyes ihr Messer zugeworfen, damit er wenigstens eine Waffe zu seiner Verteidigung hätte. Aber was, wenn ihr Aufschrei ihn aus seiner Konzentration riss? Was, wenn Aeron die Ablenkung nutzte, um über ihn herzufallen und ihm die Kehle durchzuschneiden?

Sie hatte schon öfter miterlebt, wie Reyes’ Wunden verheilten und sich sein Körper erholte, aber sie wusste, dass er eine Enthauptung nicht überleben würde.

Legion stützte ihre geschuppten Ellbogen auf Aerons Schultern und blickte Danika beschwörend an. „Halt sssie auf, geh dazzzwischen. Aeron nicht sssoll Schmerzzzen haben.“ Geschuppte Hände zausten dem Krieger durchs Haar. „Ruhig, mein Freund, ganzzz ruhig.“

„Ich versuch’s“, flüsterte Danika. Mit gezücktem Messer, angriffsbereit, schlich sie sich langsam heran, immer im Schatten. Ziel auf den Hals.

„Ich bin der Dämon des Zorns.“ Je länger Aeron sprach, desto vielschichtiger wurde seine Stimme, tief und rau, trällernd und trotzdem barsch. „Du hast mir viel Leid zugefügt und wirst dafür büßen.“

Schließlich schwenkte sein rotglühender Blick auf Danika. Sie blieb augenblicklich stehen, starr vor Schreck.

Reyes knurrte und warf sich gegen Aerons Brust. Die beiden Männer taumelten rückwärts, wobei Aerons Flügel gegen die Wand schlugen. Wumm. Krach. Sie trafen die Tür mit einer solchen Wucht, dass sie splitternd aus den Angeln flog. Legion jaulte auf, hüpfte von Aerons Schultern herunter und verkroch sich unterm Bett.

Wieder umklammerten sich die Männer mit Armen und Beinen und wälzten sich auf dem Boden. Danika hörte, wie Zähne aufeinanderschlugen, Kleidung zerriss und Knochen brachen. Und sie hörte Schmerzensschreie, ohrenbetäubende Schmerzensschreie.

Wenn sie sich doch nur voneinander lösen würden … Ohne sich weiter um ihre Nacktheit zu kümmern, bewegte sie sich auf das Duo am Boden zu. Los, macht schon, lasst euch los, verdammt noch mal! Wahrscheinlich würde sie nicht dicht genug herankommen, um Aeron das Messer ins Fleisch zu stoßen, aber sie konnte es werfen.

„Du scheinst mich bis in alle Ewigkeit wegsperren zu wollen“, knurrte Aeron. Und schlug wieder zu.

Reyes’ Kopf flog zur Seite. „Sollte dein Blutdurst je versiegen und du wieder klarsehen, wirst du mir dafür danken.“

Aeron warf seine Flügel auf den Rücken, faltete sie zusammen und verbarg sie in zwei Schlitzen. „Dir auch noch danken? Dafür, dass du mich bei lebendigem Leib in der Hölle begraben hast?“

„Da hast du Legion getroffen, stimmt’s? Die neue Liebe deines Lebens …“

Endlich hörten sie auf, sich herumzuwälzen. Aeron lag oben und schlug erneut auf Reyes ein. Als Danika freie Bahn hatte, warf sie das Messer. Doch es bohrte sich nicht, wie beabsichtigt, in Aerons Halsschlagader, sondern in seinen Arm, den er gerade in dem Moment hob, um sein eigenes Messer in Reyes’ Hals zu versenken.

Aeron hielt inne und betrachtete verwirrt seinen Arm. Sein Blick war finster. Unter dem Bett stieß Legion einen Warnschrei aus und lenkte so Aerons Aufmerksamkeit auf sich und von dem Kampf ab. Diese Ablenkung musste er teuer bezahlen. Reyes krümmte sich und zog seine Füße zu sich heran. So gelang es ihm, Aeron mit einer kraftvollen Bewegung von sich herunter und gegen die Wand zu schleudern. Doch der Aufprall setzte Aeron nicht außer Gefecht, ja, er brachte ihn nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Konzept.

Im Nu war er wieder auf den Beinen. Dass Reyes drohend auf ihn zukam, schien Aeron nicht zu beeindrucken. Grinsend warf er jetzt seinerseits einen Dolch – einen Dolch, den Legion aufgehoben und ihm eiligst gereicht hatte. Erst als Reyes Aeron mit dem ganzen Gewicht seiner Brust rammte, bekam er mit, was passiert war, dass nämlich Aerons Dolch sein Ziel getroffen hatte – und dass dieses Ziel Danika war. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus.

„Lange warte ich nicht mehr“, sagte Kronos gelangweilt, „meine Neugierde schwindet zusehends. Bald wird es mich nicht mehr im Mindesten interessieren, wie du dich entscheidest – und natürlich werde ich dir dann weder Sienna noch Aeron gewähren.“

Paris begann zu schwitzen. Los, mach schon. Sag einfach einen Namen.

Aber als er den Mund öffnete, legte Kronos den Kopf schräg und spitzte die Ohren, so als hörte er jenseits der Stille von Paris’ Schlafzimmer ein Geräusch. „Oh ja“, sagte der König und klang erfreut. „Du musst dich bald entscheiden.“

War irgendetwas passiert?

Einen Moment später vernahm Paris das Geräusch von Schritten. Dann klopfte es an der Tür. „Paris, bist du da?“

Sabin.

Paris schaute Kronos an – nein, er blickte in sein leeres Zimmer. Der König der Götter war verschwunden. Hatte er seine Chance vertan? Mit finsterem Blick sprang er auf und ging zur Tür. „Nicht jetzt“, sagte er, als die Tür aufgestoßen wurde.

Verwirrt blickte Sabin auf Paris’ blutende Brust. „Bist du okay, Mann?“

„Ja, alles bestens. Was ist los?“

„Aeron ist ausgebrochen. Er und Reyes kämpfen.“ Wie zur Bekräftigung seiner Worte hallten gequälte Schreie durch den Flur, gefolgt von einem furchterregenden Lachen.

Kronos’ Drängen auf eine schnelle Entscheidung ergab plötzlich einen Sinn. Als Paris das dämmerte, überfiel ihn auch schon eine schreckliche Angst. Jetzt war es vorbei, jetzt brauchte er nicht mehr über die jeweiligen Konsequenzen seiner Entscheidung nachzusinnen. Vielleicht hätte er doch besser alles so lassen sollen, wie es war.

Hinter Sabin jagten jetzt Gideon und Cameo den Flur entlang. Beide hielten Pistolen in den Händen. Sabin warf einen Blick über die Schulter. „Uns bleibt nicht viel Zeit.“

„Was ist der Plan?“

Sabin trat bereits den Rückzug an, einen grimmig entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht: „Wir tun, was immer nötig ist, um das hier zu beenden.“

Reyes hatte das Aufblitzen der silbernen Klinge aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Aber erst als er Danikas Keuchen hörte und den großen roten Fleck auf ihrer Brust sah, begriff er, was passiert war.

Danika war verletzt. Sie war blutend zusammengebrochen und lag nun reglos da, schien kaum zu atmen.

Nein, nein, nein! Trotz all seiner Schwüre hatte er es nicht geschafft, sie zu beschützen. Vielleicht … vielleicht … Nein! Er verbot sich, eine andere Optionen als eine vollständige Genesung auch nur in Erwägung zu ziehen. Und dennoch ballte sich eine ungeheure Wut in ihm zusammen. Und diese Wut und Verzweiflung, all sein Hass und Schmerz stärkten ihn, gaben ihm neuen Elan.

Einen Moment später war er auf den Beinen und eilte zu ihr. Doch Aeron griff ihn am Arm und stoppte ihn. Mit einem Gefühl der Panik stürzte Reyes zu Boden. Sein Freund sprang auf ihn, setzte sich rittlings auf seinen Bauch und schmetterte ihm seine Faust auf die Nase.

Mit einem Knurren zeigte Reyes die Zähne, drehte sich um und packte Aerons Unterarme. Einen Moment später saß er auf Aerons Bauch. In dessen Augen, die jetzt nicht mehr rotglühend, sondern lila waren, lag Befriedigung. Und mischten sich auch … nein, sicherlich mischten sich keine Schuldgefühle in diese Befriedigung.

Er hat sie verletzt. Ich muss das hier beenden, muss zu ihr. Muss ihr helfen.

Er senkte den Kopf und schaute Aeron an. Seine Hände hatte er diesem bereits um den Hals gelegt. So stark, wie Reyes momentan war, konnte Aeron ihn weder abschütteln noch die Finger von seinem Hals lösen.

Reyes hörte, wie sich hinter ihnen all ihre Freunde versammelten und miteinander flüsterten.

„Tu es nicht, Reyes.“

„Lass ihn gehen.“

„Es gibt sicher noch eine andere Lösung.“

Er wusste nicht, welche Bemerkung von wem stammte, und es war ihm auch egal. Er drückte fester zu, immer fester, bis seine Klauen Aerons Haut und Adern durchdrangen. Warmes Blut quoll ihm zwischen den Fingern hervor.

Plötzlich drängte sich Legion nach vorn und sprang auf Aerons Brust. Tränen, die Diamanten verblüffend ähnlich sahen, glitzerten auf ihrem hässlichen kleinen Gesicht. „Ssstop, ssstop, er gehört mir.“

Reyes presste nur umso fester. Erst wenn Aeron tot war, würde Danika sicher sein. Sicher zumindest vor einer Bedrohung. Sie würde verarztet werden und wieder genesen.

Da stürzte sich plötzlich Legion auf Reyes, beißend und kratzend und mit einem Aufschrei der Verzweiflung. Die Spucke des kleinen Wesens musste giftig sein, denn sie brannte wie Säure und verbreitete sich in Windeseile über die Adern. Reyes’ Dämon stöhnte auf. Aber trotzdem lockerte Reyes seinen Würgegriff nicht.

„Mein Krieger“, kreischte Legion. „Meiner. Nicht wehtun.“

Aerons Augen waren weit aufgerissen, die Blutgefäße darin bereits geplatzt. Sein Körper zitterte, seine Haut wurde bleich. Fast blau. Sein Widerstand wurde schwächer und schwächer. Gleich würde er reglos daliegen, und Reyes könnte ihn loslassen. Dann würde er sich eines der Schwerter von der Wand nehmen und ihm den Kopf abschlagen. Gleich …

„Reyes“, sagte eine schwache Stimme.

Es war die einzige Stimme, die vermochte, durch seine Wut und seinen Hass zu ihm durchzudringen. Reyes’ Aufmerksamkeit schweifte ab zu der Seite, wo Danika lag und zu ihm herüberschaute.

Sie brauchte ihn. Augenblicklich ließ er Aeron los und war auf den Beinen, wenn auch wackelig. Aerons Körper wurde schlaff, aber er blieb bei Bewusstsein und beobachtete Reyes. Legion begann Aerons Gesicht und Brust zu küssen und zu liebkosen.

Eine Pistole wurde gespannt. „Niemand bewegt sich, bevor wir das hier nicht geklärt haben.“

Reyes wusste weder, wer das gesagt hatte, noch schenkte er der Bemerkung irgendeine Beachtung. Er stürzte zu Danika und kniete neben ihr nieder. Der Teppich um sie herum war blutgetränkt, sie selbst bleich und tränenüberströmt. Sie hatte sich das Messer aus der Brust gezogen und dabei die Wunde aufklaffen lassen.

„Ich hab versucht … zu helfen“, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. „Wenigstens einmal.“

„Du hast geholfen, mein Engel. Du hast mir geholfen.“ Zärtlich und so vorsichtig wie möglich nahm er sie in die Arme, bemüht, seine Tränen zurückzuhalten. Sie war so zerbrechlich und schwach, dass sie sich nicht allein bewegen konnte. „Lucien, ich brauche dich!“

Schritte näherten sich. „Ich bin hier.“ Lucien stand neben dem Bett. In seinen verschiedenfarbigen Augen lag Besorgnis.

„Nimm ihre Seele nicht mit“, brachte Reyes krächzend hervor, „nimm sie einfach nicht mit. Ich brauche Zeit, um sie wieder zu heilen.“

„Du weißt, dass ich nichts dagegen tun kann: Wenn ich gerufen werde, um eine Seele zu holen, dann muss ich sie mitnehmen“, war Luciens zurückhaltende Antwort.

Reyes strich Danika mit zitternder Hand über die Augenbrauen. „Bleib bei mir, mein Engel.“ Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt.

„Immer“, sagte sie und schenkte ihm ein weiteres schwaches Lächeln. „Ich liebe dich.“

Oh Götter im Himmel. Diese Wörter, jetzt, in diesem Moment ausgesprochen, brachten ihn fast um. „Ich liebe dich auch. So sehr. Ich kann ohne dich nicht leben.“ Selbst als er Lucien anflehte, schnell einen Heiler herbeizuschaffen, wandte er seinen Blick nicht von Danika ab.

Lucien nickte und verschwand.

Plötzlich hörte man das Trommeln von Fäusten gegen die Nachbartür und dann aufgebrachte Frauenstimmen: „Öffnet die Tür! Ihr hättet uns nicht wieder einsperren müssen, wir hätten euch nicht gestört. Was ist da los?“

„Danika. Danika, bist du okay?“

„Lasst sie rein“, rief Reyes, inständig hoffend, dass ihre Familie Danika Kraft geben könnte.

Jemand öffnete die Tür, und zwei der drei Frauen stürmten in Reyes’ Zimmer. Als sie Danika blutend in seinen Armen liegen sahen, verschlug es ihnen vor Entsetzen den Atem. Im nächsten Moment waren sie an Danikas Seite. Die dritte Frau, die Großmutter, musste mit ihren Gipsbeinen getragen werden.

Einer der Krieger rief: „Nein, Aeron! Nein!“

Ein anderer knurrte: „Zwing mich nicht, dich zu erschießen!“

In diesem Moment erst bemerkte Reyes, dass Aeron aufgestanden war. Alle vier Frauen in einem Raum um sich versammelt zu sehen musste seinen Blutrausch immens angefacht und ihm neue Kräfte verliehen haben.

Danikas Schwester schrie laut auf, als der Krieger seinen Arm nach ihr ausstreckte, und konnte ihm gerade noch ausweichen.

Ihre Mutter drehte sich um und breitete ihre Arme schützend vor Danika aus. „Lass meine Kinder in Ruhe, du Tier!“

Als Danika das hörte, versuchte sie sich aufzusetzen.

„Nein“, befahl Reyes. „Beweg dich nicht.“

Aeron näherte sich ihr. Die Krieger sprangen auf ihn zu und versuchten ihn zu überwältigen. Doch entgegen ihrer Drohungen schossen sie nicht auf Aeron. Und Reyes konnte es ihnen nicht verübeln. Er selbst hatte es schließlich auch nicht geschafft, seinen Freund zu töten.

Aeron wedelte die erfahrenen Krieger beiseite wie Fliegen und kam den Frauen immer näher, während Legion zwischen den Kriegern herumflatterte und sie mit seiner giftigen Spucke biss. „Keiner verletzzzt meinen Freund.“

Anders jedoch als Reyes wurden sie nicht gestärkt durch den Schmerz der Bisse, sondern fielen reglos zu Boden, so giftig war Legions Speichel für sie.

Und danach gab es niemanden mehr, der hätte verhindern können, dass sich Aeron gierig auf seine Opfer stürzte.

Das ist es. Und es bleibt keine Zeit mehr.

Zum dritten Mal warf sich Paris in der Mitte seines Zimmers auf die Knie. Diesmal brauchte er sich weder zu geißeln, noch den Gott herbeizurufen, denn in dem Moment, in dem seine Knie den Boden berührten, erschien Kronos aus eigenem Antrieb.

„Ich habe bereits veranlasst, dass Sienna von den Toten aufersteht“, sagte der König. „Sie wartet in meinem Thronsaal und könnte in wenigen Sekunden hier sein. Wenn du nur endlich die richtigen Worte sprichst, gehört sie dir.“

Oh, sie wieder im Arm zu halten. Ihre weiche Haut zu berühren, in ihre zauberhaften Augen zu schauen. Zu spüren, wie ihre zarten Hände ehrfürchtig über seinen Körper strichen. Sie hatte ihn nicht gemocht, sich aber trotzdem von ihm angezogen gefühlt. Der Moment, als sie ihm erlaubt hatte, in sie einzudringen, war der schönste seines endlosen Lebens gewesen.

„Wenn du sie nicht willst, dann behalte ich sie vielleicht für mich selbst. Es ist schon ziemlich lange her, dass ich mir mal eine Sterbliche gegönnt habe.“ Kronos zuckte die Achseln und hob den Saum seines weißen Gewandes.

Paris biss sich in die Innenseite seiner Wange. Er hätte sich hüten sollen, diesen Gott anzurufen und ihn um einen Gefallen zu bitten. Der Gedanke, dass Kronos sie anfassen oder küssen könnte, machte ihn krank. Sie gehört mir! „Warum hasst Ihr uns so sehr?“

„Euch hassen?“, lachte Kronos, aber er klang keineswegs amüsiert. „Hass ist ein zu einfaches Wort. Du könntest sagen, dass ich geneigt bin, die früheren Verehrer meiner Feinde nicht zu mögen. Und dennoch gebe ich zu, dass ihr Herren der Unterwelt mich immer noch neugierig macht. In euch steckt mehr Menschlichkeit, als ich in Männern erwartet hätte, die zur Hälfte aus einem Dämon bestehen. Just in diesem Augenblick zum Beispiel stürzt sich derjenige, der sich Aeron nennt, auf seine Beute, und trotzdem höre ich immer noch Stimmen in seinem Innern, die ihn von seinem Vorhaben abzubringen und zu überreden versuchen, das Feld zu räumen.“

Paris stand reglos da.

Man hörte einen Seufzer. „Ich muss sagen, dass er mich überrascht hat. Er hatte die Großmutter bereits in seinen Fängen und hätte ihr nur noch den Mantel aufreißen müssen. Doch es gelang ihm, seinen Blutdurst so lange zu unterdrücken, wie sie brauchte, um zu fliehen. Es ist ihm sogar gelungen, die Erinnerung daran aus seinem Gedächtnis zu löschen. Die Willenskraft, die zu so etwas nötig ist … Hut ab.“

Hingegen würde es Aeron niemals gelingen, die Erinnerung an die Ermordung der vier unschuldigen Frauen abzuschütteln, da war sich Paris sicher. Von Anfang an hatte der gepeinigte Krieger gewusst, dass dieser Akt sein Leben für immer verändern würde. Und zwar nicht zum Guten. Aeron würde sich für den Rest seines Lebens verfolgt und heimgesucht fühlen.

Und Paris würde es genauso gehen, wenn er nichts tat, um das zu verhindern.

„Ich sehe den Aufruhr in deinem Geist“, sagte Kronos und hockte sich vor Paris auf den Boden. Ihre Blicke trafen sich – Blau und ein bodenloses, unergründliches Braun. „Du solltest nur wissen, dass du, wenn du dich für Aeron entscheidest, Sienna niemals wiedersehen wirst. Dafür werde ich sorgen. Einfach nur weil ich die Macht dazu habe.“

„Und wenn ich mich für Sienna entscheide?“

„Dann wird Aeron die Frauen ermorden. Alle bis auf Danika. Die werde ich nämlich behalten, habe ich beschlossen. Die anderen sind wertlos für mich, vollkommen belanglos.“

„Warum habt Ihr dann Aeron dazu verdammt, sie zu töten?“, fragte Paris ungläubig.

Kronos zuckte die Achseln. „Ich wusste, dass eine von ihnen mein Allsehendes Auge ist. Das Auge, das für mich in spirituelle Gefilde hineinschaut. Aber bis vor Kurzem wusste ich noch nicht, welche von ihnen. Also beschloss ich, die ganze Blutlinie auszulöschen, damit sie nicht mehr gegen mich instrumentalisiert werden kann. Deshalb sollten sie alle sterben. Aber jetzt, wo ich mir das jüngste Mädchen eine Weile angeschaut habe, erinnere ich mich an all das, was das Auge einst für mich getan hat – bevor Zeus sie mir abspenstig machte und gegen mich einsetzte. Der Vorteil bei Danika ist, dass sie, anders als ihre Großmutter damals, ihr Herz verschenkt hat und sich wohl kaum von anderen Göttern vereinnahmen lassen wird.“

„Warum befreit Ihr dann nicht einfach Aeron von seinem Fluch, wenn Ihr Danika und ihre Familie gar nicht mehr töten wollt? Wenn Ihr Danika lebendig wollt? Warum legt Ihr Aerons Freiheit in meine Hand?“

„Weil du mit einer Frage zu mir gekommen bist, mit der sich, wie ich festgestellt habe, auch meine Menschen täglich herumschlagen. Wer hat mehr Gewicht – eine Geliebte oder ein Freund? Und nun, Dämon, habe ich es satt, auf deine Antwort zu warten.“

Paris schluckte. Die endgültige Entscheidung. Er hatte gewusst, dass er sie würde treffen müssen, aber jetzt und hier, im Augenblick der Wahrheit, wusste er, dass er sich hassen würde, egal wie die Entscheidung ausfiel.

„Wähle“, sagte Kronos, und seine Stimme zitterte vor Ärger. „Während Sienna im Himmel spazieren geht, macht sich Aeron gerade an den Frauen zu schaffen. Jetzt hebt er seinen Dolch. Und Sienna weint, weil sie nicht weiß, ob sie eine Zukunft hat. Aeron ist …“

„Aeron“, sagte Paris, kippte vornüber und war schon in derselben Sekunde besinnungslos vor Trauer über den Verlust der einzigen Frau, die er jemals geliebt hatte und jemals lieben würde. „Ich wähle Aeron.“

Ohne dass irgendetwas darauf hingedeutet hatte, klappte Aeron neben dem Bett zusammen. Legion kuschelte sich an seine Seite und streichelte ihm übers Gesicht. Reyes, der die beiden betrachtete, blinzelte erschrocken, als plötzlich ein Lächeln die Lippen des mittlerweile schlafenden Kriegers umspielte und sich ein friedlicher Ausdruck auf sein Gesicht legte, der die Falten und Furchen rund um die Augen glättete.

Was zum Teufel passierte da gerade? Aeron war bereit gewesen zum Todesstoß, und Reyes hätte ihn nicht daran hindern können. Und dann war plötzlich alles in der Bewegung erstarrt, wie eingefroren, niemand hatte mehr geatmet oder sich gerührt. Daraufhin waren die schlafenden, vergifteten Krieger aufgewacht, als wäre nichts geschehen. Und dann war Aeron umgekippt.

Alle drehten sich um und schauten sich verdutzt an. Lucien kam einen Moment später mit dem Heiler zurück, einem nervös plappernden Menschen, der sich fast in die Hose machte beim Anblick der Horde ungeschlachter, schwergewichtiger Krieger.

„Reyes“, flüsterte Danika.

Reyes beugte sich zu ihr nieder und küsste sie auf die Schläfe. „Sprich nicht, Liebes, spar dir deine Kräfte auf. Der Heiler wird …“

„Ich habe eine Vision.“

Doch er kümmerte sich nicht um ihre Vision, er kümmerte sich um sie. „Versuche sie auszublenden. Bleib einfach bei mir, während dich der Heiler verarztet, okay?“ Er wandte sich dem Mann zu und befahl: „Versorgen Sie sie. Geben Sie ihr Tylenol. Was auch immer. Verarzten Sie sie.“

Der Mann setzte sich eiligst in Bewegung. „Natürlich, selbstverständlich.“

„Ich bin im Himmel und liege auf einer marmornen Empore.“ Danika lächelte, ihre Augen waren glasig. „Ich bin weiß gewandet, und die Engel singen.“

„Was? Nein, nein.“ Reyes schüttelte heftig den Kopf, als ihm klar wurde, was sie da sagte. „Halte durch, halte nur noch einen kleinen Moment durch.“

Der Heiler kniete sich neben Danika und holte rasch die nötigen Utensilien aus seinem schwarzen Köfferchen hervor.

„Beeilen Sie sich“, herrschte Reyes den Mann an, doch es gab keinen Grund mehr zur Eile. Danikas Augen fielen zu, und ihr Kopf rollte zur Seite. Einen Moment später war sie verschwunden, und Reyes hielt nur noch Luft umklammert.

Sein markerschütternder Schrei hallte im Himmel und auf der Erde wider und warf schließlich auch ein Echo in die Hölle.