4. KAPITEL

Einen nach dem anderen beamte Lucien die Krieger zu dem verlassenen Gebäude. Eben noch waren sie in ihrer Budapester Festung gewesen, und zwar mitten in der Nacht, und jetzt standen sie an diesem sonnigen, warmen Ort.

Reyes war zum Schluss an der Reihe, denn das letzte Mal hatte er sich beim Beamen übergeben. Doch diesmal verdrängte seine Sorge um Danika jeden Anflug von Übelkeit.

Als er Staub und bröckelnden Putz einatmete, öffnete er die Augen. Die silbrigen Steine der Festung waren verschwunden, ebenso wie die Gemütlichkeit ihres Zuhauses. Nackte graue Wände, Betonböden und ganze Haufen von Gerümpel empfingen ihn. Etliche Fenster waren zerbrochen. Schwarze Müllsäcke waren als Notbehelf darübergeklebt worden, aber zum Teil schon wieder abgefallen, sodass die Männer in das Gebäude hineinspähen konnten – in eine Welt des Schweigens und der Erstarrung, wie Reyes feststellte, denn drinnen war niemand zu sehen und hören.

Mit gezückten Waffen schlichen die anderen um das Gebäude herum, bevor sie es nach verborgenen Feinden durchsuchten. Außer Anya, die anstelle von Maddox mitgekommen war, blickten sie alle reichlich verwirrt drein. Ein paar murrten: „Wo sind die Jäger?“

„Hier nicht“, antwortete Lucien.

„Wo sind wir denn hier?“, fragte Reyes leise. Seine Messer drückten ihm gegen die Oberschenkel. Er platzte vor Tatendrang.

„In den USA.“ Sabin schloss die Augen und atmete tief ein.

„Los Angeles, tippe ich. An keinem anderen Ort der Welt gibt es diesen Hollywood-Schwefelgeruch.“

„Richtig“, antwortete Lucien mit einem grimmigen Nicken.

„Die Jäger haben eine riesige Ortsgruppe hier.“ Sabins Stimme hatte einen genießerischen Unterton. „Eine ganz besonders abscheuliche Ortsgruppe, ich hasse sie. Ihr Anführer und ich, wir sind uns schon mal begegnet, und seitdem hasst er mich auch. Macht euch also auf einiges gefasst. Er hat sich den Jägern angeschlossen, nachdem seine Frau und ich …“ Er zuckte mit den Achseln und verstummte bedauernd, als er an das Ende der Geschichte dachte. „Wir waren zusammen, aber ich bin keine gute Partie für Menschen, und deshalb ist die Sache schlecht ausgegangen. Die Jäger haben ihn rekrutiert, und seitdem macht er Jagd auf mich.“

Sabin und seine Männer waren schon viel länger hinter den Jägern her als Lucien und seine Truppe. Paris, Maddox, Torin, Aeron und Reyes hatten sich vor Tausenden von Jahren von Sabin, Strider, Gideon, Cameo, Amun und Kane abgespalten.

Ihr gemeinsamer Freund Baden, Träger des Dämons des Misstrauens, war damals brutal von Jägern ermordet worden. Doch nachdem sie sich gemeinschaftlich an den Jägern gerächt hatten, hatten sich ihre Wege getrennt. Die eine Hälfte der Krieger hatte sich Frieden gewünscht, denn was gab es Besseres für eine gequälte Seele als ein Ende des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit? Die andere Hälfte jedoch wollte das Blut der Jäger in den Straßen des alten Griechenlands fließen sehen, träumte von blutroten Flüssen, in die sich Schmerz und Terror ergossen.

Und da sich beide Gruppen nicht einigen konnten, gingen sie getrennter Wege. So lange, bis Sabin die Blutrache nach Budapest gebracht hatte.

Reyes, der sich all die Jahre zurückgehalten hatte, konnte und wollte das jetzt nicht mehr tun. Er war in diese Sache hier verwickelt und sein Traum von Frieden für immer geplatzt. Vielleicht sogar schon, seitdem die Jäger Torin kürzlich die Kehle durchgeschnitten hatten, um ihn zu schwächen und alle anderen gefangen zu nehmen. Eine Mission, die zum Glück fehlgeschlagen war.

Doch Reyes würde in seiner Mission nicht scheitern.

Was auch immer er tun musste, um seine Feinde zu eliminieren, er würde es tun. Zur Not würde er sich sogar mit den Göttern anlegen, die vermutlich auf Seiten der Jäger standen.

Obwohl es natürlich schwierig war, die Motive und Ziele der Götter überhaupt zu erahnen: Sie waren so wankelmütig, unbeständig und rätselhaft, dass man meinte, vor einem Puzzle mit fehlenden Teilen zu sitzen. Während die schweigsamen griechischen Götter Reyes mit ihrer Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit genervt hatten, brachten ihn die mysteriösen Titanen an den Rand der Weißglut.

Sie behaupteten, sich nach Harmonie zu sehnen – sowohl im Himmel als auch darunter. Sie gaben vor, sich Anbetung und Verehrung zu wünschen und die Abkehr von Tod und Zerstörung. Und trotzdem hatten sie Danikas Ermordung angeordnet, hatten zuerst sogar Anyas Tod gefordert, aber inzwischen ihre Meinung geändert. Und was sie Aeron antaten …

Denk jetzt bloß nicht daran. Nicht hier und nicht jetzt. Seine Fingernägel hatten sich bereits verlängert und bohrten sich wie Nadeln in seine Handballen. Rote Punkte tanzten in seinem Sichtfeld, und sein Dämon flüsterte mit verführerischer Stimme: Schneide dich. Tu dir weh.

„Nein“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Hier entlang“, sagte Lucien. Als er Reyes hörte, hielt er kurz inne und warf ihm einen fragenden Blick zu. „Stimmt was nicht?“

„Nein, alles gut.“ Er würde sich erst dann wieder um seinen Dämon kümmern, wenn Danika wohlbehalten und sicher in seinem Bett lag. Bis dahin musste er dem Drang nach Selbstverstümmelung widerstehen. Der Blutverlust würde ihn nur schwächen, und er musste topfit sein für den anstehenden Kampf.

Doch je länger er dem Lockruf des Schmerzes widerstand, umso lauter und fordernder würde der Dämon werden. Von Minute zu Minute. Reyes kannte das alles nur zu gut. Und der Tumult in seinem Innern würde ihn immer mehr ablenken, das war der Fluch, der auf ihm lastete. Er konnte auf Dauer nicht anders: Er musste sich ritzen und verstümmeln, auch wenn ihn das schwächte wie jeden verletzten Menschen auch – zumindest vorübergehend.

„Was hast du gesagt?“, fragte Lucien.

Alle Blicke waren jetzt auf Reyes gerichtet.

Lucien rollte mit den Augen. „Das Mädchen wird eine Straße weiter festgehalten. Und überall hier laufen Unschuldige herum. Wir müssen also vorsichtig sein.“

Reyes waren die Unschuldigen vollkommen egal. Okay, vielleicht war das kalt und gefühllos, aber er hatte auch nie behauptet, ein weicher Typ zu sein. Obwohl er früher wohl mal anders war. Er erinnerte sich daran, in den Jahren, bevor Schmerz in ihm eingesperrt wurde, mit seinen Freunden gescherzt und gelacht zu haben. „Wie viele Jäger sind bei ihr?“ In seiner Wange zuckte ein Muskel, als er an die Qualen dachte, die sie womöglich in diesem Moment erlitt.

Aber was auch immer die Jäger mit Danika machten, er würde sich hundertfach an ihnen rächen, so bald er sie in die Finger bekäme. Sosehr er seinen Dämon auch hasste für die Dauerqualen, die er ihm bereitete, sowenig würde er heute zögern, ihm die Zügel zu überlassen, damit er all seine bösen Kräfte entfesselte. Nein, heute würde er nicht zögern. Schmerz konnte in menschliche Seelen hineinblicken, konnte jede Schwachstelle entdecken, selbst den feinsten Riss im Firnis, und dann bohrte er so lange mit seinen vergifteten Pfeilen darin herum, bis der Mensch schrie, brüllte, sich krümmte und die Haut zerfetzte, damit nur endlich der Schmerz aufhörte.

„Heute Morgen“, sagte Lucien, „waren dreiundzwanzig Jäger in dem Gebäude.“

„Die vermehren sich ja wie die Kaninchen“, bemerkte Sabin mit einem boshaften Grinsen. „Jetzt sind es wahrscheinlich schon mehrere Hundert.“

Lucien bewegte sich zum gegenüberliegenden Fenster, sein dunkles Haar flatterte um seine Schläfen. „Wir haben noch etliche Stunden bis zum Einbruch der Nacht. Ich beame mich unsichtbar in das Gebäude hinein, in dem sie sie gefangen halten, lausche und beobachte. Wir müssen wissen, was sie ihnen erzählt hat, und herausfinden, was sie planen.“

Alles, was Reyes mitbekam, waren die „etlichen Stunden“ bis zur Dämmerung. „Sollen wir etwa hierbleiben und nichts tun?“, knurrte er.

„Ja, ganz richtig.“ Lucien beäugte ihn mit seinen verschiedenfarbigen, unruhig in ihren Höhlen rotierenden Augen. „Sollten sie das ganze Gebiet hier überwachen, werde ich ihre Computer sabotieren. Wenn es dunkel wird und die Menschen euch nicht mehr so leicht an eurer Statur und euren Waffen erkennen können, stoßt ihr zu mir. Ich werde draußen im Schatten des Gebäudes auf euch warten.“

Noch mehr Untätigkeit, noch mehr Warterei – für Reyes eine emotionale und physische Tortur. Er hätte am liebsten wild um sich geschlagen, aber das ging natürlich nicht. Stattdessen musste er aufpassen, dass der Dämon die Qualen nicht so sehr genoss, dass er sofort mehr davon verlangte und womöglich die Kontrolle über seinen Körper übernahm.

Bald, vertröstete er ihn.

Das war einer der vielen Gründe gewesen, warum Reyes Danika fortgeschickt hatte, und gleichzeitig einer der wenigen Gründe, warum er sich eigentlich nicht an ihrer Rettung beteiligen sollte. Sie wühlte nicht nur ihn, sondern auch den Dämon auf – und zwar so entschieden, als würde sie mit einem Stock gegen den Käfig eines hungrigen Tieres klopfen.

Wenn er seinem Dämon freien Lauf ließ, wie dieser es sich wünschte, würde er die Kontrolle über sein Tun verlieren. Was, wenn er Danika dabei verletzte? Was, wenn es ihm sogar Spaß machte, sie zu verletzen? Wenn er lächelte, während er ihre Knochen zu Brei schlug? Was, wenn er sie tötete? Und das, nachdem er seinen besten Freund sofort weggeschlossen hatte, als der nur angekündigt hatte, sie zu töten.

Er würde sich selbst nicht mehr ertragen können, würde nicht weiterleben können mit dem Wissen, etwas so Kostbares wie Danika zerstört zu haben. Ja, das wurde ihm jetzt klar. Sie war ihm kostbar. Sie war der Engel für seinen Dämon, der gute Ausgleich für seine böse Seite. Die Freude für seinen Schmerz. Und sie wurde in einem Versteck der Jäger festgehalten, gefesselt, hilflos … leidend.

Wieder färbte sich sein Sichtfeld rot, aber anstatt sich darüber zu freuen, wehrte er sich diesmal dagegen. Verdammt noch mal! Es kam nicht infrage, dass der Dämon das Ruder übernahm, auch nicht, um die Jäger zu bekämpfen. Er selbst wollte das Kommando behalten.

Irgendjemand klopfte ihm auf den Rücken und riss ihn aus seiner Grübelei. „Still jetzt, mein Freund“, sagte eine Frauenstimme.

Ruhig, entspann dich. Reyes drehte sich um und sah sich Cameo gegenüber, der einzigen weiblichen Kriegerin und Trägerin des Dämons des Elends. Schnell schaute er wieder weg. Mit ihren langen schwarzen Haaren, ihren silbernen Augen und ihrer Pfirsichhaut war sie der Inbegriff der Schönheit. Und obendrein war sie eine starke, unerbittliche Kriegerin, trotz ihres zarten, liebreizenden Körpers. Ihr ins Gesicht zu blicken war jedoch unerträglich, denn aus ihren Poren drang das Unglück und Elend der ganzen Welt heraus und nistete sich im Herzen ihres Gegenübers ein.

„Wir holen sie ganz vorsichtig da heraus“, sagte Cameo. Sie wollte ihn beruhigen, bewirkte aber nur, dass ihm das Herz noch enger wurde. „Keine Sorge.“

Bei den Göttern, was für eine Stimme! Er bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, während sich sein Dämon gar nicht mehr einkriegte vor Wonne über den Schmerz, den Cameo ungewollt auslöste. Warum konnte Reyes sich eigentlich nicht von ihr angezogen fühlen? Das würde sein Leben um einiges leichter machen.

Es tut dir nur deshalb weh, weil gerade über Danika gesprochen wird. So sehr wie sein Dämon physische Schmerzen brauchte, so scharf war Cameos Dämon auf emotionale Störungen und Turbulenzen. Deshalb würde sich für ihn nur alles verkomplizieren, wenn er sich mit Cameo einließ. Ihre tragische Stimme konnte jeden Mann über kurz oder lang in den Selbstmord treiben – und sich zu töten hatte Reyes schon oft genug versucht.

„Einer meiner Lover ist mal von Jägern verschleppt worden“, sagte sie.

Reyes rieb sich über die Brust. Es gab also tatsächlich einen Mann, der mit ihr geschlafen hatte? „Und – habt ihr ihn retten können?“

„Oh nein. Er musste auf grauenvolle Weise sterben. Sie haben ihm das Herz herausgeschnitten und es mir per Post geschickt.“

Reyes versuchte mit heftigen Lidschlägen eine erneute Panikattacke wegzublinzeln und vermied es dabei tunlichst, Cameo ins Gesicht zu blicken. Das wird Danika nicht passieren. Er spähte zu dem Gebäude hinüber, versuchte durch kontrollierte Atmung seinen rasenden Puls zu beruhigen und entspannte sich tatsächlich ein wenig. Lucien war bereits gegangen, und die anderen saßen an die Wände gelehnt und polierten ihre Waffen.

Schließlich traute sich Reyes zu, ohne Panik in der Stimme zu sprechen. „Hast du mir diese kleine Geschichte erzählt, um mich zu beruhigen?“

„Ja. Sie haben uns das einmal angetan, ein zweites Mal werden wir es uns nicht gefallen lassen.“

Schöner Trost. Just in diesem Moment konnte ein Faustschlag in Danikas Gesicht oder ein Fußtritt in ihrer Magengrube landen. Oder eine Peitsche hieb ihr über den Rücken und ein Messer zerstach ihr die Organe. Vielleicht flehte sie ihn gerade in dieser Sekunde an, sie zu retten. Und obwohl er hier war, ganz in der Nähe, saß er tatenlos herum, anstatt ihr zu helfen.

Das Gefühl der Untätigkeit war unerträglich.

Er ließ Cameo stehen und ging rastlos auf und ab. Sollte er Luciens Befehl ignorieren und einfach angreifen? Lass ihn mal machen. Er weiß, was er tut. Er wird dich schon holen, wenn er sieht, dass sie sich in Gefahr befindet.

Obwohl Reyes das eigentlich wusste, fand er, dass die Zeit quälend langsam verstrich. Jedes Ticken des Sekundenzeigers war wie ein Schlag in die Magengrube. Erst als die Kraft der Sonne langsam nachließ und ihr goldenes Licht sich langsam rosa, dann violett und schließlich grau färbte, entspannte er sich etwas.

„Ich habe dich noch nie in einem solchen Zustand gesehen“, bemerkte Paris. „So zappelig und nervös.“

„Ich hoffe, du wirst mich auch nie wieder so erleben.“

„Und ich bete inständig, dass ich nie in so einen Zustand gerate“, brummte Sabin. „Nicht dass es nicht vielleicht auch seine guten Seiten hätte, aber trotzdem …“

Strider grinste. „Dabei bist du so wunderhübsch, wenn du verliebt bist.“

Sabin schubste ihn weg.

Liebe? War Reyes zu so einem Gefühl überhaupt fähig? „Es ist dunkel. Lasst uns aufbrechen.“ Er stapfte zur Vordertür.

Anya hielt ihn am Arm zurück, wobei sich ihre langen Fingernägel tief in seine Haut bohrten. „Langsam, mein Süßer, du kennst den Weg doch gar nicht.“

Er schaffte es kaum, mit den Füßen auf dem Betonboden zu bleiben. „Aber du kennst ihn?“

„Ja, natürlich.“ Ihre Fingernägel gruben sich noch tiefer in seinen Arm und kratzten die Haut auf. Er hätte fast gestöhnt vor Wonne. „Lucien erzählt mir alles.“

„Dann führe uns, aber bitte jetzt sofort. Ich will nicht eine Sekunde länger in diesem Schuppen hier herumhocken. Zur Not werde ich jedes Geschäft, jedes Wohnhaus und überhaupt jedes Gebäude, das mir im Weg steht, plattmachen.“

„Ts, ts, ts … so ungeduldig“, schnalzte sie und ließ ihn frei. „Das bewundere ich an einem Mann. Okay, versucht einfach, mit mir Schritt zu halten, wenn ihr könnt.“

Damit hatte sie die Führung der Truppe beansprucht, und die Männer scharten sich bereitwillig um sie. Die drückend warme, muffige Luft, in der sie die letzten Stunden verbracht hatten, wich einer kühlen, frischen Brise, die ganz unterschiedliche Gerüche transportierte: nach Blumen, Abgasen, frisch gebackenem Brot und süßlichem Parfum. Überall blinkten bunte Reklamelichter auf, die vielen unterschiedlichen Hupgeräusche verschmolzen zu einer wilden Kakofonie, und Schritte trampelten, klapperten und stapften in alle Richtungen. Dennoch war all dies nicht turbulent und laut genug, um Reyes vom frenetischen Hämmern seines Herzens abzulenken.

Einerseits hatte er davon geträumt, zu reisen und diese neue Welt mit eigenen Augen zu sehen, die ihm jahrhundertelang vorenthalten geblieben war, weil er durch Maddox’ Fluch an Budapest gebunden war. Doch jetzt war ihm seine Umgebung vollkommen egal. Er wollte nur eines: so schnell wie möglich zu Danika.

Obwohl er und die anderen sich weitgehend im Schatten bewegten, bemerkten die Menschen sie. Einige wichen rasch aus, andere starrten sie an. Die meisten grinsten und schienen irgendwie fasziniert. Das war eigentlich keine typische Reaktion für Sterbliche. Selbst die Einwohner von Buda waren eher vorsichtig respektvoll als freundlich. Hollywood, hatte Sabin gesagt. Reyes wurde klar, dass die Menschen hier dachten, sie wären Teil einer Filmkulisse. Hin und wieder blieb Paris stehen, um einer schmachtenden Frau einen kleinen Kuss zu entlocken. Er war seinem Dämon ebenso hilflos ausgeliefert wie Reyes – und wenn Promiskuität auf seine Kosten kommen wollte, dann nahm sich Paris eben die Zeit dafür. Ansonsten würden seine Kräfte rapide abnehmen. Doch zum ersten Mal in den vielen Jahren ihres Zusammenseins sah Paris nicht so aus, als würde er die Knutscherei genießen.

Reyes wartete nicht auf seinen Freund und erkundigte sich auch nicht, ob alles okay war. Er verlangsamte seinen Schritt keine Sekunde. Er fühlte sich gehetzt und getrieben, mit jedem Stiefelschritt mehr. Anya bog um eine Ecke; ihr langes, helles Haar strahlte wie ein Leuchtfeuer durch die Nacht. Sie führte sie eine dreckige Gasse hinunter, in der es nach Urin stank.

Als sie um die nächste Ecke bog, warf sie zur Vorwarnung einen lächelnden Blick über die Schulter. „Wir sind fast da.“

Reyes umfasste seine Pistole und griff nach einem Messer. Beide Waffen waren ihm so vertraut, dass sie ihm fast wie eine natürliche Verlängerung seiner Hände vorkamen. Nur noch einen kurzen Moment, dann siehst du sie. Gleich, in wenigen Augenblicken, würde der Kampf beginnen.

Und er, Reyes, würde niemanden überleben lassen.

Er spürte, wie um ihn herum der Adrenalinpegel stieg.

Krieg war ein Teil von ihnen, war in jede Zelle ihres Körpers einprogrammiert. Schließlich waren sie für den Krieg geschaffen worden.

Die Griechischen Götter, ihre Schöpfer, wussten, wie leicht himmlische Wesen vom Thron gestürzt werden konnten, denn schließlich hatten sie selbst die Titanen gefangen genommen. Um sich selbst vor einem ähnlichen Schicksal zu schützen, hatten die Griechen aus dem Blut des Kriegsgottes unsterbliche Krieger erschaffen und aus diesen eine Verteidigungsarmee rekrutiert.

Nach der dimOuniak-Tragödie, bei der Pandora ihr Leben verlor, die Büchse verschwand und die Dämonen in die für das Desaster verantwortlichen Krieger gesperrt wurden, hatten die Götter die Krieger auf die Erde verbannt und sich neue Krieger herangezogen. Die allerdings haben den Göttern auch nicht wirklich gutgetan, dachte Reyes mit einem hämischen Grinsen.

„Nur noch ein kurzes Stück …“, sagte Anya, atemlos vor Erregung. Es hätte keinen besseren Ersatz für Maddox geben können: Anya liebte Gewalt.

Vor ihnen brannte eine große Mülltonne, Flammen leckten über ihren Rand, dichte Rauchschwaden quollen heraus. Vier Männer standen um die Tonne, der eine mit einem Löffel in der Hand, in dem er einen festen kleinen Gegenstand zu einer blubbernden Flüssigkeit schmolz. Mit seiner freien Hand zog er die Flüssigkeit in einer Spritze hoch. Die anderen warteten darauf, dass sie an die Reihe kamen.

Drogen. Wie sehr wünschte sich Reyes, Drogen hätten auch auf ihn eine Wirkung. Aber er hatte bereits alles probiert – Rauchen, Trinken, Pillenschlucken, Spritzen –, nichts hatte sein Verlangen nach Schmerz abmildern können.

Am Ende der Gasse blieb Anya abrupt stehen. Lucien trat aus dem Schatten, wo er auf sie gewartet hatte. Er küsste Anya und schlang fast schon reflexhaft seinen Arm um ihre Taille, so wie jedes Mal, wenn sie zusammen waren.

Reyes wandte den Blick ab, der Anblick ihres Liebesglücks war mehr, als er momentan ertragen konnte. Wem versuchst du, in die Tasche zu lügen? Für dich ist es doch immer schwer zu ertragen.

Die Gasse teilte sich in drei weitere Gassen, und an dieser Gabelung standen halbmondförmig angeordnet fünf Gebäude. Reyes brauchte nicht zu fragen, in welchem davon sich Danika aufhielt, denn er hatte plötzlich ihren Gewitterduft in der Nase und spürte ihre Angst bis ins Mark seiner eigenen Knochen. Als würde diese Angst direkt über die roten Ziegelsteine des Geschäfts, das sich im unteren Teil des Gebäudes befand, ausgeschwitzt.

Es war ein Waffengeschäft. Wie passend. Und wie ironisch. Mit ihrem ganzen Friedensgequatsche hätten die Jäger lieber eine Kirche auswählen sollen.

„Über den Geschäftsräumen befinden sich Wohnräume. Dort ist sie“, sagte Lucien mit grimmiger Stimme. „Die Männer waren auffällig schweigsam, so als hätten sie gewusst, dass ich mich bei ihnen aufhalte.“

Reyes kam fast die Galle hoch. „Lebt sie … lebt sie noch?“ Er hatte Mühe, die Worte überhaupt verständlich über die Lippen zu bringen.

„Ja.“

Er schluckte. Irgendetwas an Luciens Tonfall schmeckte ihm nicht. „Aber?“

„Sie schläft immer noch.“

Reyes Finger krallten sich fester um seine Waffen. „Wie viele Jäger sind jetzt in dem Gebäude?“

„Zwölf. Einige sind bereits gegangen.“

„Ihr Anführer?“

„Ist auch schon fort.“

Bastard. Doch Reyes würde ihn schon noch in die Finger kriegen. Sehr bald sogar. Wenn Danika erst einmal in Sicherheit war, würde ihn nichts mehr halten.

„Es gibt einen Mann, der als ihre persönliche Wache abgestellt zu sein scheint“, meinte Lucien. „Der ist kaum von ihrer Seite gewichen. Er ist auch jetzt da und schaut ihr beim Schlafen zu.“

„Hat er … hat er sie angefasst?“

„Nicht mit Gewalt.“

Wie denn dann? Mit Wollust? „Ist sie vergewaltigt worden?“ Reyes biss die Zähne zusammen, um nicht blindlings loszustürmen und zuzuschlagen.

„Das weiß ich nicht.“

„Sie gehört mir.“ Seine Stimme klang so trügerisch ruhig und gelassen, dass kein Zweifel an seiner wilden Entschlossenheit bestand. „Dass niemand auch nur wagt, in ihre Nähe zu kommen.“

Lucien nickte. „Na schön. Die Zeit des Kampfes ist gekommen.“

Sofort drängelte sich Reyes an seinen Freunden vorbei und marschierte zu dem Haus. Als er den Laden betrat, bimmelte eine kleine Glocke über der Tür und kündigte seine Anwesenheit an. Der Mann hinter dem Verkaufstresen wollte gerade ein Lächeln aufsetzen, als er Reyes’ barsche Miene sah. Das Lächeln gefror auf halbem Weg, und Hass trat in die Augen des Jägers.

Soweit Reyes wusste, waren sie sich noch nie begegnet, aber trotzdem erkannten sie sich sofort als Feinde.

„Wo ist sie?“

„Du hast meinen Sohn umgebracht, Dämon.“

„Ich habe deinen Sohn nie getroffen, Jäger.“

„Ihr seid Krebsgeschwüre auf der Erde, ihr alle, und ihr seid verantwortlich für jeden einzelnen Toten. Doch nicht mehr lange. Lang leben die Jäger!“ Als hätte er die ganze Zeit nur auf Reyes gewartet, griff er nach einer halb automatischen Pistole mit Schalldämpfer.

Auch Reyes zückte seine Pistole, und sie schossen im selben Augenblick. Reyes, um seinen Feind zu töten, der Jäger, um ihn zu verletzen. Denn Reyes’ Tod hätte den Dämon befreit, und das wollten die Jäger unter allen Umständen vermeiden. Dies zu wissen war für sie ebenso wertvoll wie eine Waffe.

Eine Kugel verschwand in Reyes’ Schulter, aber der lachte nur über den wundervollen Schmerz. Das Gehirn des Jägers spritze an die Wand hinter ihm. Er lachte nicht mehr. Reyes fühlte ein kurzes Bedauern, doch dann sagte er sich, dass Frieden einfach nicht möglich war, solange die Jäger ihren Hass in der Welt verteilten.

Einer war beseitigt. Blieben noch elf.

„Hey, versuch mal, uns auch noch welche übrig zu lassen“, maulte Sabin, der hinter Reyes den Tresen umrundete, auf eine Tür zuging und sie auftrat. Ein schmaler Treppenaufgang lag dahinter.

„Guter Job, Herzchen-Schmerzchen.“ Anya schlug ihm mit der flachen Hand auf den Kopf. „Jetzt wissen die anderen, dass wir da sind.“

Mit diesen Worten folgte sie Sabin im Laufschritt die Treppe hinauf.

Als Reyes die Stufen hochstieg, tropfte Blut aus der Wunde in seiner Schulter.

„Ich werde mich zu meiner Frau gesellen und eurer Vernichtung aus dem Himmel zuschauen“, hörte man eine Männerstimme rufen, bevor sie mit einem schallgedämpften Schuss zum Schweigen gebracht wurde und man nur noch ein Gurgeln und dann den Aufprall des Körpers auf dem Boden vernahm.

Geräusche von Schritten. „Ihr werdet in der Hölle schmoren, Dämonen“, brüllte ein anderer Mann, dessen Stimme jedoch ebenso schnell erstarb.

„Sie befindet sich im dritten Zimmer auf der rechten Seite“, sagte Lucien, der auf einmal neben Reyes stand.

Sie erreichten das obere Ende der Treppe und stürmten in unterschiedliche Richtungen weiter. Reyes begegnete nur noch einem weiteren Jäger, bevor er Danikas Raum erreichte. Auch dieser Jäger schoss auf ihn und traf ihn im Magen.

Doch Reyes ließ sich nicht aufhalten, Adrenalin schoss durch seine Adern und sein Dämon war überglücklich.

Lächelnd ging er auf den Mann zu und schnitt ihm die Kehle durch. Dann stand er vor Danikas Zimmer. Er hielt sich nicht lange mit dem Schloss auf, Zeitverschwendung, sondern trat die Tür einfach auf.

Einem kurzen Floppen und Zischen folgte eine Kugel, die ihn in den Oberschenkel traf. Jetzt fühlte er sich langsam geschwächt und zittrig, doch er hielt sich auf den Beinen. Während sein Blut in Strömen floss und sein Dämon jubilierte, ließ Reyes seinen Blick blitzschnell durch den Raum schweifen. Danika lag gefesselt und regungslos im Bett. Ein Mann stand blass und zitternd an ihrer Seite und hielt mit bebenden Händen eine Waffe auf Reyes gerichtet.

„Wie lange hab ich auf diesen Moment gewartet!“, sagte der Typ mit heiserer Stimme. „Wie oft hab ich ihn mir ausgemalt! Und nun bist du hier.“

Reyes’ Blick fiel auf das Tattoo des Mannes: das Symbol der Unendlichkeit, schwarz und symmetrisch. „Ja, hier bin ich. Hast du sie angerührt?“

„Als ob es dir irgendetwas ausmachen würde, was mit einem menschlichen Wesen geschieht.“

Noch ein Schuss. Reyes sprang zur Seite. Sosehr er Schusswunden wegen ihres Schmerzes schätzte, er wollte nicht noch mehr Blut verlieren. Die nächsten fünf Minuten waren einfach zu wichtig.

Während er die Druckwelle an sich vorbeiziehen spürte, zückte er selbst seine Waffe und zielte.

„Was auch immer du mit mir machen wirst, hier zu stehen und die Frau anzuschauen war die Sache wert“, sagte der Mann, als Reyes den Abzug drückte. Der Jäger sackte auf dem Teppich zusammen und stand nicht mehr auf.

Im nächsten Moment war Reyes an Danikas Seite, bog die Ketten auf und befreite ihre Arm-und Fußgelenke. Als er ihren schlafenden Körper aus dem Bett hob, tropfte sein Blut auf ihr fleckiges weißes T-Shirt und ihr viel zu blasses Gesicht. Ihre dunklen Haare klebten an den Schläfen und am Hinterkopf, ihre Wangen waren hohl – wie viel Gewicht sie wohl verloren hatte? –, und ihre Wimpern warfen gespenstische, sich verzweigende Schatten, die mit den Blutergüssen unter ihren Augen verschwammen. Am Kiefer hatte sie einen weiteren Bluterguss.

„Danika.“ Es klang wie ein Gebet und zugleich wie eine Verwünschung.

Sie rührte sich nicht.

Ihre Arme baumelten schlaff an den Seiten hinunter, ihr Kopf wiegte kraftlos hin und her. Wenn sie wach wäre, hätte sie ihn sofort von sich gestoßen. Aber das wäre ihm lieber gewesen als diese … diese … Leblosigkeit. Dieses Nichtvorhandensein.

Hinter ihm verstummten die Kampfgeräusche, dafür ertönte das Heulen von Polizeisirenen. Er hörte, wie sich seine Freunde im Flur versammelten und langsam in den Raum drängten. Aber es war ihm egal. Er verstärkte seinen Griff um Danika – es war einfach zu lange her, dass er sie das letzte Mal gesehen und gehalten hatte – und bettete ihre Wange an seinen Hals.

Ihre Haut war kalt, eiskalt. Er spürte ihren extrem langsamen Herzschlag an seiner Brust.

„Lucien?“, krächzte er. Warme Tränen füllten seine Augen und nahmen ihm die Sicht.

„Ich bin hier, mein Freund.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Irgendwie müssen sie geahnt haben, dass wir kommen, und sich vorbereitet haben. Doch trotzdem sind sie jetzt erledigt.“

„Das ist mir völlig egal. Bring uns nach Hause.“