10. KAPITEL

Als Reyes erwachte, kam ihm einiges an seiner Umgebung eigenartig vor. Sofort liefen seine Sinne auf Hochtouren.

Eigenartig war zum einen, dass er ein Gewicht auf seiner Brust spürte. Es war warm. Warm und ganz weich. Er war es gewohnt, ohne ein solches Gewicht und diese Wärme aufzuwachen. Die zweite Eigentümlichkeit war, dass er den Geruch von Gewitter, Engeln und Himmel in der Nase hatte, sinnlich und erotisch. Es war ein Geruch, nach dem sich jede Faser seines Körpers sehnte, der aber gefährlich für seinen Seelenfrieden war. Und drittens: Er wusste, dass er dieses Paradies am liebsten niemals verlassen hätte.

Aber Schmerz war damit nicht einverstanden.

Schmerz flatterte lärmend in seinem Käfig, Reyes’ Geist, herum. Er brüllte so laut, dass Reyes sich die Ohren zuhielt. Das Gewicht auf seiner Brust verlagerte sich etwas zur Seite und nahm dabei die köstliche Wärme und Weichheit mit.

Das Brüllen wurde noch lauter, so laut, dass Reyes zusammenzuckte.

„Alles okay mit dir?“

Die Stimme eines Engels, passend zu dem herrlichen Duft. Danika. Das Brüllen wurde zu einem kratzigen Quäken, das Timbre von Danikas Stimme besänftigte den Dämon offenbar.

Was hatte sie an sich? Was unterschied sie von den übrigen Frauen, die er kennengelernt hatte?

Ashlyn hatte Maddox’ innere Qualen gelindert. Und Anya hatte Luciens Sehnsucht nach Liebe wieder aufleben lassen. Beide Frauen hatten ihre Krieger so akzeptiert, wie sie waren. Danika stillte seine Schmerzen, und gleichzeitig trieb sie ihn in den Wahnsinn. Sie würde ihn niemals akzeptieren. Doch selbst wenn ein Wunder geschah und sie ihn annahm, würde er niemals mit ihr ins Bett gehen können. Denn damit würde er zulassen, dass Schmerz von ihr Besitz ergriff – und sie veränderte.

Als Paar hätten sie nicht die geringste Chance.

Doch das dämpfte nicht seine Sehnsucht nach Danika. Und wieder wunderte er sich, warum das so war. Sie war hübsch, intelligent und mutig, aber das waren andere Frauen auch. Dennoch konnte er sich an keine erinnern, deren Augen ihn im Innersten seiner Seele berührt hätten. Ihm fiel nicht eine ein, deren seidiges Haar seine Haut auf so unvergleichliche Weise gestreichelt hätte. Keine einzige, die ihn als Toten zu Gesicht bekommen hätte, ohne entsetzt zurückzuweichen.

Danika war die einzige Ausnahme.

Ihr Name ging ihm immer wieder durch den Kopf, und schließlich öffnete er die Augen. Das Erste, was er sah, war das sonnige Morgenlicht, das durch die schwarzen Gardinen sickerte und verschwommene gelbe Punkte an die Wände tupfte. Nichts Außergewöhnliches. Doch dann tauchte plötzlich eine Art strahlender Heiligenschein vor ihm auf, und blonde Haarsträhnen kitzelten seine Brust. Weiche Brüste drückten sich ihm in die Seite.

„Geht’s dir gut?“, fragte Danika wieder. Besorgt und schlaftrunken sah sie ihn unter halb geschlossenen Lidern an. Unter ihren dichten Wimpern sah er elektrisierendes Grün, seine neue Lieblingsfarbe. „Du hast letzte Nacht eine ziemliche Tracht Prügel kassiert.“

„Letzte Nacht?“ Seine Stimme klang heiser, jedes Wort kratzte in seinem rauen Hals. Was für ein köstliches Gefühl. „Deine Haare.“ Er griff nach oben und drehte sich eine Haarsträhne um den Finger. „Sie sind wieder blond.“

„Ich habe noch einmal geduscht, das hat die Tönung herausgewaschen.“

„Es gefällt mir.“

Sie schien etwas verlegen zu sein und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

Sein Körper wurde gleich um ein paar Grad wärmer. Oh, wenn diese Zähne doch noch einmal an ihm herumknabbern könnten. „Letzte Nacht?“, wiederholte er.

„Prügel von Aeron, in dessen Verlies.“

Die Erinnerungen stürmten auf ihn ein, ein Bild nach dem anderen blitzte vor ihm auf, und im Nu saß er senkrecht im Bett. Er hatte Danika mit in den Kerker genommen. Er war zu Aeron in die Zelle gegangen. Bei der Erwähnung von Danikas Familie hatte Aeron schuldbewusst ausgesehen, als hätte er bereits ein oder mehrere Familienmitglieder getötet. Dann hatte sich Aeron auf ihn gestürzt – und Schmerz hatte es genossen.

Schmerzen erzeugten immer eine ganze Symphonie in seinem Innern: Sie ließen sein Herz trommeln, sein Blut rauschen und seinen Dämon genüsslich schnurren. Er hatte in dieser Symphonie geschwelgt, während Danika dabei war und seine scheußliche Art des Lustgewinns aus nächster Nähe beobachten konnte.

Er schämte sich bis auf die Knochen, schloss die Augen und vergrub den Kopf in seinen Händen. Sie weiß es nicht, redete er sich ein. Ansonsten würde sie nicht seelenruhig auf meinem Bett sitzen und mit mir plaudern. Sie würde mir Wörter wie „pervers“ oder „abartig“ an den Kopf knallen.

Es gab durchaus Frauen, die seine besondere Art des Lustgewinns akzeptierten. Das waren jedoch Ausnahmen. Ein paar Jahre lang hatte Reyes seine Partnerinnen in Sadomaso-Clubs gefunden. Das waren intime Begegnungen in Insidertreffs gewesen. Die Frauen hatten es gemocht, festgeschnallt und gepeitscht zu werden, und ihm hatte es Spaß gemacht, ihnen die gewünschten Schmerzen zu bereiten. Und wenn er sie dann im Gegenzug bat, ihm wehzutun, dann hatten sie das ebenso bereitwillig und begeistert getan.

Aber nachdem er erfahren hatte, dass die Frauen, mit denen er geschlafen hatte, es daraufhin in wilden Orgien extrem hart trieben, ausnahmslos, hatte er aufgehört, diese Clubs zu besuchen. Jahrhundertelang hatte er sich danach mit der eigenen Hand beholfen, wobei er sich ritzte, während er seinen Schwanz bearbeitete. Bis ihm eines Tages plötzlich etwas klar wurde: Mit Sicherheit hatten besagte Frauen schon vorher einen Hang zur Gewalt. Mit Sicherheit war das der Grund, warum sie, nachdem sie mit ihm geschlafen hatten, späteren Sexpartnern so übel zusetzten.

Also hatte er es wieder versucht, diesmal allerdings, indem er Paris’ Ratschlag befolgte und Lehrerinnen von Sonntagsschulen und Bibliothekarinnen als Gespielinnen auswählte. Er hatte sie zum Beispiel gebeten, sich Sporen um die Fußgelenke zu binden und sie ihm in den Rücken zu rammen – nur eines von vielen Spielchen, die er damals geschätzt hatte und an die er sich heute nur ungern erinnerte. „Du bist krank“, hatten einige der Frauen gerufen. „Sieh zu, dass du dir helfen lässt, du Perverser.“

Hätten sie ihm doch nur weiterhin Widerstand geboten.

Doch innerhalb kürzester Zeit hatten auch sie angefangen, Gefallen an Schmerzen zu finden. Schmerzen, die er ihnen zufügte und die sie dann an Tausende andere weitergaben. Deshalb hatte er, sobald er ein hungriges Glitzern in ihren Augen bemerkte, den Kontakt sofort abgebrochen, in der Hoffnung, dass sie sich in die Frauen zurückverwandelten, die sie vor der Begegnung mit ihm gewesen waren. Aber das taten sie nicht.

Weiche Finger fuhren ihm zart über die Augenbrauen und strichen ihm das Haar aus der Stirn. Früher hatte ihn diese Art der Berührung immer geärgert. Da er physisch nichts davon spürte, hatte ihm diese Geste immer nur schmerzlich vor Augen geführt, was er alles nicht haben konnte. Hatte ihn daran erinnert, dass sein Repertoire leider nur aus Beißen und Kratzen, aus Fingernägeln und Zähnen bestand.

Auch bei Danikas zarter Berührung fühlte er körperlich nichts, aber sie berührte ihn emotional, und deshalb fand er ihre Geste genauso lustvoll und aufreizend wie einen Messerstich. Es war das erste Mal, dass sie ihn auf diese Weise berührte.

Dein Dämon infiziert jede Frau, die du begehrst. Sich auf Danika einzulassen bedeutet, ihre Seele zu verdammen. Vergiss das nicht.

„Reyes?“

Er blinzelte, bis er Danikas Umrisse einigermaßen scharf vor sich sah. „Ja.“

„Du bist mir da unten einfach entglitten.“

„Das tut mir leid. Geht’s dir gut?“, fragte er.

„Ja.“

Sie nahm ihre Hand weg, und beide, er und sein Dämon, hätten am liebsten laut protestiert. Er blinzelte überrascht. Der Dämon war bestürzt, weil er eine zärtliche Berührung vermisste?

„Da war eine … eine Kreatur bei Aeron.“

„Ja“, sagte Reyes und nickte. „Ich erinnere mich.“

„Hast du die je zuvor gesehen? Hast du eine Ahnung, woher die kommt?“

„Nein, ich hab sie noch nie gesehen, weiß aber, dass sie aus der Hölle kommt.“ Schmerz hatte das Wesen als das erkannt, was es war – ein Bruder des Bösen. Reyes drehte seinen Kopf und sah Danika jetzt direkt an. „Mach du dir deswegen bitte keine Sorgen.“

Danika war kreidebleich geworden. Woran auch immer sie gerade denken mochte, es war sicher nichts Erfreuliches. „Warum hast du ihn nicht bekämpft?“

„Den kleinen Dämon?“

„Nein, Aeron. Ich habe doch früher gesehen, wie du mit ihm gekämpft hast. Da hattest du keine Angst. Du warst stark und …“, sie schluckte, so als quälte sie das, was sie sagen wollte, „… und durchaus in der Lage, ihm die Stirn zu bieten. Aber diesmal standest du nur da. Und hast zugelassen, dass er dich verletzt.“

Reyes setzte sich jetzt auf, ließ sie dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen. Sie hatte ihre Beine hinter sich angewinkelt und stützte sich mit einem Ellenbogen auf der Matratze ab. Ihre Haare fielen ihr wie ein prächtiger seidener Vorhang über die Schultern. Sie trug immer noch die Jeans, die er für sie ausgesucht hatte, was ihn mit Stolz erfüllte, denn er hatte stundenlang für sie geshoppt, in der Hoffnung, die ausgewählten Kleidungsstücke irgendwann auch an ihr zu sehen.

Sie hatte so feine Gesichtszüge, eine kleine, kecke Nase, runde Wangen und rubinrote, glänzende Lippen. Wie ein Wesen direkt aus dem Himmel.

Wie immer verursachte ihr Anblick ein Ziehen in seiner Brust. Schmerz liebte dieses Ziehen und das anschließende Gefühl der Leere in der Magengegend. Reyes lächelte sarkastisch. Vielleicht sollte er Danika für den Rest ihres viel zu kurzen menschlichen Lebens einfach nur anstarren. Sein Dämon würde sich freuen.

Beim Gedanken an ihren Tod wurde aus dem Ziehen in seiner Brust ein heftiges Reißen.

„Und?“, hakte sie nach.

Was hatte sie ihn noch gleich gefragt? Er versuchte ihre Unterhaltung im Geiste zu rekapitulieren. Oh ja. Aeron. Und Reyes’ klammheimlicher Genuss. Dabei hatte er beste Absichten gehabt, bevor Schmerz das Kommando übernommen hatte. „Ich habe ihn schon so oft verletzt. Er hatte noch was gut bei mir.“

„Nein.“ Danika schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der Grund, warum du ihn verschont hast.“

Er runzelte die Stirn. Nein, völlig unmöglich, dass sie die Wahrheit ahnte. „Warum dann?“

„Du wolltest Antworten. Für mich. Und du hast geglaubt, das wäre die einzige Möglichkeit, diese Antworten zu erhalten.“

Okay, vielleicht ahnte sie doch etwas. Bislang hatte sie immer nur das Schlimmste über ihn angenommen. War sie im Begriff … war es möglich, dass sie ihm gegenüber nachsichtiger wurde?

„Seid ihr beide, Aeron und du, immer noch Freunde?“ Ihr Ton klang plötzlich schärfer. So viel zum Thema Nachsicht.

„Ja, sind wir.“ Zumindest hoffte er das. Er liebte Aeron. Aus tiefstem Herzen. Danika hingegen … er war sich seiner Gefühle für sie nicht sicher, wusste nicht, was genau sie ihm bedeutete. Er wusste nur, dass sie eine Bedeutung für ihn hatte, die sie besser nicht haben sollte, dass er von sich aus jedoch nichts gegen die Gefühle tun konnte, die sie in ihm hervorrief.

Du kannst sie nicht haben.

„Hör auf damit“, sagte sie steif, wandte sich ab und starrte an die Decke.

Verwirrt runzelte Reyes die Stirn. „Womit soll ich aufhören?“

„Ich weiß nicht. Dieses Glänzen in deinen Augen, wenn du mich anschaust, es … quält mich.“

„Ich kann nichts dafür.“

Sie schwieg eine Weile. „Zwischen uns kann es nichts geben, Reyes.“ Ihre Stimme wurde zum Ende des Satzes immer brüchiger.

„Ich weiß.“

Sie schlang die Arme um ihren Körper. „Was mache ich hier überhaupt?“

„Ich konnte dich nicht bei den Jägern lassen.“ Das war die Wahrheit.

„Vielleicht wäre das besser gewesen.“

In diesem Moment war er felsenfest davon überzeugt, dass die Jäger sie gebeten hatten, als Lockvogel zu fungieren. Sein Magen zog sich zusammen. Er würde sich vor ihr in Acht nehmen müssen. Stets auf der Hut sein. Er durfte auf keinen Fall etwas ausplaudern, das seine Freunde in Gefahr brachte. Er musste sie permanent im Auge behalten, um zu verhindern, dass sie diese Dreckskerle in die Burg einschleuste oder ihnen verriet, wo die Krieger gerade unterwegs waren.

Aber gehen lassen konnte er sie nicht. Er konnte sie auch nicht töten, obwohl das wahrscheinlich das Schlaueste gewesen wäre – und seine Freunde genau das von ihm verlangen würden, wenn sie die Wahrheit erführen. Sie schöpften sicher eh schon Verdacht, sonst wäre Sabin nicht in sein Zimmer gekommen, um Danika auszufragen.

Was für einer Gefahr setzte Reyes seine Freunde aus, wenn er Danika am Leben ließ? Machte er sich darüber überhaupt Gedanken? Ich bin ein solcher Idiot. Vielleicht liebte er sie doch.

Schmerz kicherte fröhlich bei diesem Gedanken, denn Liebe würde ihm eine ganz eigene Art von Leiden bescheren. Haufenweise Leiden. Im Herzen und in der Seele. Und beides würde intensive, unstillbare physische Schmerzen verursachen.

Reyes blickte düster drein. „Erwähne die Jäger bitte nicht meinen Freunden gegenüber“, bat er. Seine Stimme klang angespannt.

Sie lachte, doch es war kein fröhliches Lachen wie das von Schmerz. Auch sie war angespannt. „Selbst wenn ich wollte, könnte ich das nicht.“

„Und warum nicht?“

„Alle deine Freunde sind fort.“

Seine Verwirrung verwandelte sich in Ärger. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Der Fußboden fühlte sich kalt an unter seinen Füßen. Er ging zum Kleiderschrank. „Seit wann?“

„Heute Morgen.“

„Sind sie alle weg?“

„Außer der, der Torin heißt. Und vielleicht ein paar andere, ich kann sie nicht alle auseinanderhalten.“

Reyes blieb im Türrahmen stehen und kniff sich in den Nasenrücken. Früher wäre er wütend gewesen, wenn man ihn allein zurückgelassen hätte. Jetzt aber waren seine Gefühle für Danika stärker als sein Drang, dimOuniak zu finden.

„Sie waren hier, um dich abzuholen. Aber als sie sahen, dass du noch am Genesen bist, haben sie mich gebeten, dir etwas auszurichten.“

Er drehte sich wieder zu ihr um. Kleine Muskeln zuckten unter seinen Augen. „Und? Was haben sie gesagt?“

Danika reckte ihr Kinn vor. Es war eine herausfordernde Geste, eine, die signalisierte, dass sie es mit jedem aufnehmen würde, der ihr in die Quere kam. Er hatte sie schon öfter zu sehen bekommen. „Der, der sich Sabin nennt, lässt dir ausrichten, dass du aufhören sollst, dich wie ein Waschlappen zu benehmen, und endlich deine Pflicht tun sollst. Was ist da los in Rom? Einer von ihnen hat irgendeinen Tempel erwähnt.“

Reyes überging ihre Frage. Er blickte an sich herunter, um die Wut zu verbergen, die wahrscheinlich aus seinen Augen sprühte. Die Waffen, die er sonst um die Hüfte und die Fußgelenke trug, fehlten, aber seine Jeans hatte er noch an. Allerdings war sie offen. Während ihm die Vorstellung gefiel, dass Danika sie womöglich aufgeknöpft hatte, fand er den Gedanken, dass sie ihm seine Waffen abgenommen haben könnte, weniger angenehm.

Er verfluchte sich dafür, so tief geschlafen zu haben. Sie konnte alles Mögliche mit ihm angestellt haben, ohne dass er es gemerkt hätte. Mit mürrischer Miene schloss er hastig seine Hose und wandte sich wieder dem Schrank zu. Er zog den mit Samt gefütterten Waffenkoffer heraus, in dem er seine Pistolen und Messer aufbewahrte, und vergewisserte sich, dass die Waffen vollständig waren. Die Tasche sah unberührt aus. Gut. Er würde Danika nicht durchsuchen müssen.

„Ich habe dir nichts weggenommen“, sagte sie scharf.

„Okay.“ Nicht dass er ihr glaubte. Er nahm sich ein Messer und eine Pistole heraus und prüfte das Patronenlager. Geladen. Jetzt, wo Danika bei ihm lebte, musste er noch vorsichtiger sein. Er durfte die Waffen nicht länger schussbereit halten. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als er das halb automatische Gewehr auf seinem Rücken festschnallte und sich wieder zu ihr umwandte.

Sie sah ihn misstrauisch an, blass wie eine Schneekönigin. Wieder spürte er dieses Ziehen in der Brust und musste sich von innen in die Wange beißen. Man sollte die Götter dafür bestrafen, einen einzelnen Menschen mit so viel Schönheit auszustatten.

„Gehst du weg?“

„Vielleicht.“ Sein Blick schweifte über die Wände. Er sah sofort, dass zwei Dolche fehlten, obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, die Lücken an den Wänden zu kaschieren, indem sie die benachbarten Waffen ein wenig verschoben hatte.

Er nahm es ihr nicht übel, und er würde ihr die Waffen auch nicht wegnehmen. Im Gegenteil: Der Gedanke, dass Danika bewaffnet war … erregte ihn auf seltsame Weise. Idiot. Denn sie wollte ihn vielleicht tatsächlich umbringen, wollte sein Blut auf dem Boden vergießen und sich in den Fugen zwischen den Steinplatten sammeln sehen.

Ein Schauer überlief ihn bei dem Gedanken. Um sein Blut fließen zu sehen, würde sie ihn erstechen müssen – und bei den Göttern: Wie gut würde sich das anfühlen! Wenn sie dich tatsächlich umbringen will, dann hätte sie dir letzte Nacht einfach die Kehle durchgeschnitten.

„Warum bist du mir nicht einfach davongelaufen, als du die Gelegenheit hattest?“, fragte er.

Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und ließ sich auf die Kissen zurückfallen. „Keine Ahnung. Was bin ich für ein Trottel.“

„Und warum hast du mir nichts angetan?“

„Das weiß ich ebenso wenig, okay? Schließlich bist du verdammt noch mal mein Feind. Und ich müsste dir ohne Zögern die Kehle durchschneiden können. Immerhin hab ich das trainiert, weißt du das eigentlich?“

Er blinzelte ungläubig. „Du hast trainiert, mir die Kehle durchzuschneiden?“

„Ja, ich habe Unterricht genommen. Nicht nur in Selbstverteidigung, sondern auch in der Kunst, seinen Gegner ein für alle Mal loszuwerden.“ Sie schnipste einen Fussel von ihrem Bein. „Ich bin nicht mehr hilflos. Nie mehr.“

Ohne sie auch nur zu berühren, habe ich dazu beigetragen, ihre Unschuld zu zerstören. Was für eine Schande!

Reyes lehnte sich mit der Schulter an den Kleiderschrank. „Ärgere dich nicht zu sehr über dich. Vielleicht bist du einfach davor zurückgeschreckt, einen ohnmächtigen Menschen umzubringen. Daran ist nichts ehrenrührig.“

„Ja, aber du bist kein Mensch.“

Nein, das war er nicht. Er war ein Dämon, und die Erinnerung daran tat weh. So sehr, dass die nächsten Worte einfach aus ihm heraussprudelten. „Aber jetzt bin ich wach. Versuch’s doch.“

„Fuck you“, blaffte sie.

„Versuch’s.“

„Fahr zur Hölle.“

„Versuch’s, Danika. Beweise dir selbst, dass du mich überwältigen kannst.“

Sie schoss ihm einen Blick zu, der ihm durch Mark und Bein ging. Einen Blick wie ein Laserstrahl. „Um dir die Möglichkeit zu geben, mich zu verletzen? Nein, danke.“

„Ich werde mich nicht vom Fleck rühren. Du hast mein Wort.“

Sie schnalzte mit der Zunge. „ Willst du, dass ich dich verletze?“

Sie klang ungläubig, und er musste sich eingestehen, dass es tatsächlich genau das war, was er hatte erreichen wollen. Er wollte, dass sie vom Bett sprang und sich auf ihn stürzte. Er wollte ihre Fingernägel noch einmal tief in seiner Haut und ihre Zähne an seinem Hals spüren. Er wollte Schmerz – Schmerz, den sie, und nur sie, ihm zufügte.

Er wollte Lust, und das war für ihn nun einmal der einzige Weg, Lust zu verspüren. Er sollte sich eigentlich unterstehen, das wusste er. Aber war ihre Unschuld nicht eh schon verloren? Was konnte es jetzt noch schaden, wenn er die Sache ein wenig weiter trieb?

„Wenn du mir nicht wehtun willst, dann küss mich wenigstens“, sagte er. Inzwischen zitterte er schon. Sein Verlangen war so groß, dass er es nicht mehr unterdrücken konnte. Wenn er die Schmerzen nicht bekam, nach denen es ihn gelüstete, würde er sich mit etwas anderem begnügen müssen. Mit ihrem Geschmack.

Er bezweifelte zwar, dass der ihn zufriedenstellen würde, aber besser als nichts.

Sie schnappte nach Luft – er wusste nicht, ob vor Entsetzen oder vor Erregung. Dann sah er, wie ihre Brustwarzen hart wurden, und er wusste Bescheid.

Er hatte das Gefühl, als würde seine Brust von Schraubstöcken zusammengepresst. „Küss mich“, forderte er sie noch einmal auf, so leise und hilfsbedürftig, dass seine Worte kaum zu hören waren.

„Fahr zur Hölle“, wiederholte sie, starrte ihm dabei aber sehnsüchtig auf die Lippen. In ihrer Stimme lag kein Zorn mehr. Nur heiseres Begehren.

„Wenn du nicht zu mir kommst, dann komme ich eben zu dir.“

Sie protestierte nicht. Gänsehaut zeigte sich auf ihrer weichen Haut, ihr Atem ging flach, und eine Ader an ihrem Hals pochte wie wild. Trotzdem vermutete er, dass sie ihn hassen würde, wenn er sie küsste. Noch mehr, als sie es jetzt bereits tat. Sie wollte ihn nicht begehren, sie würde sich schämen, ihrem Entführer nachgegeben zu haben, einem der Männer, die ihrer Familie solches Leid zugefügt hatten.

Und dennoch ging er jetzt langsam auf sie zu.

Sie fuhr hoch, in ihren Augen lag Panik. „Warum machst du das?“

Um seine Haltung wiederzugewinnen, blieb er mitten im Raum stehen. Der Druck in seiner Brust war noch stärker geworden, Schmerz hatte sich darin breitgemacht und genoss jedes einzelne Ziehen und Stechen. „Ich muss es wissen.“

„Was? Was musst du wissen?“

„Wie du schmeckst.“ Ein weiterer Schritt auf sie zu.

„Und was passiert, wenn du es weißt?“

„Dann muss ich mich das nicht mehr andauernd fragen. Dann höre ich vielleicht auf, jede Nacht von dir zu träumen, jede Sekunde des Tages an dich zu denken.“ Noch ein Schritt. „Und ich glaube, du fragst dich dasselbe. Ich glaube, dass auch du von mir träumst. Du hasst dich zwar dafür, und du hasst mich, aber du kannst nichts dagegen tun.“

Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr die sonnenblonden Haare um die Schultern flogen und ihren anmutigen Hals streichelten. Oh, er wollte sie auch streicheln, sie berühren. Er wollte ihr Lust bereiten, auch wenn er selbst keine verspüren konnte.

Endlich gestand er sich die Wahrheit ein. Sie war tatsächlich anders als alle Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war. Die anderen waren, obwohl mitten im Leben stehend, nie richtig lebendig gewesen. Danika hingegen war lebendig. Sie war der Inbegriff von Lebenskraft und Vitalität. Und vielleicht könnte er für einen heiligen Moment diese Lebenskraft aufsaugen und Lust in einem lustvollen Akt empfinden. Vielleicht könnte sie ihm Erleichterung verschaffen – ganz ohne Schmerz, ohne Leiden, ohne Qualen. Nur ein einziges Mal.

„Ich will dich nicht“, stieß sie mit erstickter Stimme hervor.

„Du lügst.“ Wenn er jetzt nicht weitermachte, würde er sich für den Rest seiner Ewigkeit mit Vorwürfen und der Ungewissheit quälen, was gewesen wäre, wenn …

Zwei weitere Schritte, und er stand neben der Matratze. Sie rutschte nicht zur Seite, sondern zog stattdessen ihre Knie an die Brust, schlang ihre Arme um die Beine und nagte mit ihren blitzweißen Zähnen an der Unterlippe.

„Wie ich schon sagte, hättest du dieses Zimmer und dieses Haus verlassen können, aber du hast es nicht getan.“

„Ich war in dem Moment unzurechnungsfähig.“ Mit scharfem Blick musterte sie sein Gesicht. Was sie darin zu erkennen hoffte, wusste er nicht.

„Na, das war wohl etwas mehr als nur ein Moment. Ich hab doch stundenlang geschlafen.“

„Ach ja? Dass ich hiergeblieben bin, muss aber noch lange nicht heißen, dass ich dich küssen und deine Hände überall auf meiner Haut haben will.“

Bei den Göttern im Himmel! „Was heißt es denn?“

Sie öffnete ihre vollen Lippen und fuhr sich mit der Zunge darüber, bis sie feucht glänzten.

„Keine Antwort?“ Langsam, ganz langsam, beugte er sich zu ihr hinunter.

Langsam, ganz langsam, lehnte sie sich zurück, um mehr Abstand zwischen ihre Münder zu bringen. Als ihr Rücken gegen die Matratze stieß, konnte sie nicht weiter zurückweichen. Aber sie wandte sich auch nicht ab oder schob ihn weg.

Schließlich war er nur noch wenige Zentimeter entfernt. Er stütze sich rechts und links von ihr auf der Matratze ab. Ihre Haarsträhnen streichelten seine Haut. Götter, was für eine Qual! Was für eine Qual, ihr körperlich so nahe zu sein und zu wissen, dass es über einen Kuss nicht hinausgehen würde …

Mehr, bettelte sein Dämon. Bitte gib mir mehr.

Reyes war schon ganz hart, so hart, dass es schmerzte, und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Was bedeutet es denn?“, beharrte er.

„Du redest zu viel.“ Danika blickte zu ihm hoch. In ihren Augen lag dieselbe Härte wie in ihrem Ton. Sie sah fordernd aus. „Na los, bringen wir’s hinter uns. Mach schon.“

Er wünschte, es wäre so einfach. Mach schon und dann vergiss es. Schalte dein Begehren ab. Denk nie wieder daran. Denk vor allem nie wieder an sie. Dann macht es dir vielleicht nichts aus, wenn Aeron kommt, um sie zu töten. Dann hast du vielleicht keine Lust, dich selbst gleich mit umzubringen.

„Was denkst du?“, fragte Danika, jetzt schon mit weicherer Stimme.

Bei den Göttern, sie war so schön! Selbst zornig und ungehalten war sie so schön, dass es wehtat. Mit ihren langen, dichten Wimpern und dem Schönheitsmal neben ihrer rechten Augenbraue.

„Hast du … hast du in Bezug auf den Kuss deine Meinung geändert?“

„Nein.“ Wie könnte er, wo er sich doch mehr danach sehnte, als er sich je nach etwas gesehnt hatte. „Vielleicht bekomme ich eine solche Chance nie wieder. Deshalb möchte ich jetzt jeden Moment auskosten.“

„Wenn wir uns schon zu Idioten machen müssen, dann sollten wir es schnell hinter uns bringen. Genießen kannst du später.“ Sie war es offensichtlich leid, auf ihn zu warten, griff nach seinen Wangen und zog ihn zu sich herunter. Er fiel auf sie drauf, sodass ihr die Luft auf einen Schlag entwich. Er inhalierte ihren Atem, versuchte seine Lungen bis zum letzten Luftmolekül damit zu füllen, sich mit ihrem Duft zu imprägnieren.

„Das hier bedeutet nichts“, stellte sie klar.

„Weniger als nichts“, log er.

„Ich werde mich später dafür hassen.“

„Ich hasse mich jetzt schon dafür.“

Sie wollte etwas erwidern, aber er verschloss ihren Mund mit seinem und schluckte ihre Worte.