18. KAPITEL

Paris hatte den anderen von den lebenden Bildern am Tempel erzählt, und jeder von ihnen glaubte, er sei derjenige gewesen, der sie gesehen hätte, weil es sein Blut gewesen sei, das sich als Erstes mit dem Regen vermischt hätte. Lucien hatte sich zur Burg gebeamt, war aber noch nicht wieder von dort zurückgekehrt. Sabin hatte mindestens tausendmal versucht, Reyes anzurufen, aber keine Antwort erhalten. Schließlich hatte er aufgegeben und Torin kontaktiert, der ihm erzählte, Reyes sei in der Stadt beim Tanzen.

Tanzen? Das sah dem normalerweise so düsteren Reyes nicht unbedingt ähnlich, dachte Paris und fragte sich, ob Danika wohl irgendetwas damit zu tun hatte. Wie würde Reyes auf die Nachricht reagieren, dass diese Frau bei der Suche nach Pandoras Büchse noch eine entscheidende Rolle spielen würde?

Paris durchschritt sein vorübergehendes Schlafzimmer von einem Ende zum anderen und fuhr sich immer wieder mit der Hand durchs Haar. Die anderen überprüften die Verteidigungsvorrichtungen des eigens angemieteten Wohnhauses. Eigentlich sollte er ihnen dabei helfen, denn er hatte noch mehr Grund als die meisten anderen, sich vor den Jägern in Acht zu nehmen. Doch als seine Freunde bemerkt hatten, dass er die Überwachungsbildschirme nicht wie angewiesen im Auge behielt, sondern gedankenverloren vor sich hin starrte, hatten sie ihn empört weggeschickt.

Er hatte das Wohnzimmer ohne Protest verlassen, froh, eine Zeit lang für sich allein zu sein. Er war verwirrt, aufgewühlt und mit einem einzigen Gedanken beschäftigt: was, wenn. Was, wenn Sienna ins Leben zurückgeholt werden könnte? Was, wenn er einfach nur die Götter darum bitten müsste?

Seit die Titanen dem Tartaros entkommen waren, die griechischen Götter gestürzt hatten und die Macht über den Himmel für sich beanspruchten, hatten sie ihm und seinen Freunden nichts als Kummer bereitet. Sie hatten Aeron befohlen, die vier Menschenfrauen zu töten, und ihn, als er sich widersetzte, zur Strafe in einen wilden Blutrausch versetzt. Sie hatten Anya unbarmherzig verfolgt und zum Tode verurteilt. Und sie hatten zugelassen, dass Sienna starb.

Nein, du hast es zugelassen.

Daran ließ sich nicht rütteln, auch wenn ihm dieser Gedanke noch so verhasst war.

Sehr wahrscheinlich lagen seine Interessen den neuen Göttern nicht mehr am Herzen als den alten. Aber anders als die unnahbaren, distanzierten Griechen sehnten sich die Titanen nach Verehrung und Anbetung. Und die könnte Paris ihnen geben. Für einen gewissen Preis.

Schluss mit dem Auf-und Ablaufen hier. Tu endlich was!

Mit aufgeregt hämmerndem Herzen fiel er auf die Knie. Der grob gewebte Teppich schürfte die Haut an seinen nackten Knien auf. Er hatte seine Kleidung abgelegt, um die launischen Götter durch nichts zu beleidigen. Sollte einer von ihnen – oder zwei oder drei – ihn tatsächlich anhören und sich in irgendeiner Weise beleidigt fühlen, dann könnte er ihn bestrafen. Mehr noch, als ich tatsächlich schon gestraft bin. Er könnte ihn töten, ihn in die Hölle verbannen oder sonst wie quälen.

„Es ist das Risiko wert“, murmelte Paris zu sich selbst, als er sich noch einmal Sinn und Zweck seiner Aktion in Erinnerung rief. Er griff sich einen Dolch und umklammerte ihn so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Jetzt oder nie.

Er hob den Dolch so hoch wie möglich. Das Metall funkelte im Schein der Nachttischlampe. Wen soll ich versuchen herbeizurufen? In seinem Kopf wirbelten mehrere Optionen herum, blitzten die Namen der Götter auf, mit denen er sich in den vergangenen Wochen, in Vorbereitung auf die Durchsuchung des Tempels, auseinandergesetzt hatte.

Kronos, den König der Götter? Kronos würde seine Triebkraft verstehen und respektieren. Aber er schien die Herren der Unterwelt zu hassen, und er war derjenige, der Anyas Tod angeordnet hatte.

Rhea, Kronos’ Frau? Paris wusste nichts über sie. Gaia, die Mutter der Erde? Sie würde vielleicht noch am meisten Interesse für seine Misere aufbringen. Okeanos, den Gott des Wassers? Tethys, die Okeanos liebte? Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung? Hyperion, den Gott des Lichts und Vater der Sonne? Themis, die Göttin der Gerechtigkeit?

Nein, Themis war im Gefängnis, er erinnerte sich daran, wie Anya das erwähnt hatte. Themis hatte den Griechen vor Jahrtausenden geholfen, die Titanen zu besiegen, und entsprechend hatte Kronos sie sofort nach seiner Thronbesteigung einsperren lassen.

Wen sonst könnte er anrufen?

Es gab noch Phoibe, die Göttin des Mondes. Und Atlas, der früher die ganze Welt auf seinem Rücken getragen hatte. Dazu Epimetheus, den Gott, der nachträglich dachte und somit vermutlich der Dümmste aller Götter war. Prometheus hingegen, der vorausschauende Gott, konnte das Gefühl unablässiger Qualen sicherlich am ehesten nachvollziehen. Er hatte Jahrtausende damit zugebracht, sich seine Leber auffressen zu lassen und zuzuschauen, wie sie nachwuchs, nur um wieder aufgefressen zu werden.

Die Mythologie war verzwickt. Die Menschen kannten nur Fragmente der Wahrheit, und die waren obendrein mit Lügen und Unwahrheiten durchsetzt. Paris, der schon vor Urzeiten aus dem Olymp geworfen worden war, wusste nicht, was er glauben sollte. Er wusste nicht, welcher Gott als der stärkste galt, welcher beliebt und welcher verhasst war. Wenn er den falschen Namen anrief … einen Feind heraufbeschwörte … Vielleicht wäre es schlau, eine Frau zu rufen, denn kaum eine konnte dem Dämon Promiskuität widerstehen. Doch gleichzeitig war es natürlich heikel, die Frau eines Gottes zu verführen … Anya hatte ihm erzählt, dass William mit Hera geschlafen hatte, woraufhin Zeus ihm zur Strafe seine Fähigkeit des Beamens genommen hatte – damit er nie wieder blitzartig aus einem Schlafzimmer verschwinden konnte, in dem er nichts zu suchen hatte. Damit er sich vor Ort mit dem wütenden Ehemann auseinandersetzen musste.

Nein, also keine Frauen.

Paris stieß einen Seufzer aus, während seine Gedanken wieder zu Kronos zurückkehrten. Vielleicht sollte er doch gleich den Chef nehmen. Der König der Götter war der Rätselhafteste der ganzen Sippe, er galt als hart und verbittert. Aber er hatte Lucien kürzlich wieder ins Leben zurückgeholt, und das war schließlich genau die Art von Befähigung, die Paris brauchte.

Wenn sich nicht diese ganzen Menschenmassen im Tempel tummeln würden, wäre er noch einmal zurückgekehrt, um das entsprechende Ritual dort zu zelebrieren. Aber so wie es aussah, würde er sich damit begnügen müssen, es hier zu tun. Also schloss er die Augen und sagte: „Kronos, König der Götter, ich rufe dich an.“

Einige Sekunden verstrichen, ohne dass irgendetwas passierte. Paris erwartete nicht, den Gott im Handumdrehen auftauchen zu sehen, er wusste, dass eine Opfergabe nötig war, um ein so hohes Wesen gnädig zu stimmen, sich zu zeigen. Also senkte er langsam und bedächtig seine Arme und schnitt sich mit der Dolchspitze die Brust auf. Zentimeter für Zentimeter klaffte das Fleisch auf, warmes Blut lief seinen Bauch herab und sammelte sich in seinem Bauchnabel.

Immer noch keine Reaktion.

„König der Götter. Ich brauche Euch. Ich ersuche um eine Audienz.“

Das Blut strömte immer noch. Paris stellte ein Glas Wasser auf den Boden, bevor er sich entschloss, mit dem Ritual fortzufahren. Nur für den Fall. Es war Anyas Regenwasser, die Tränen der Erde.

Paris tauchte eine Hand in das Glas, dann ließ er die Tropfen in seine Wunde fallen. Blut und Wasser vermischten sich, das dunkle Rot der Flüssigkeit färbte sich rosa, während sie seinen Bauch herablief und auf den Boden tropfte.

„Ich flehe Euch an, mir einen flüchtigen Blick auf Euch zu gewähren. Demütigst kniend erwarte ich Euch.“ Er hob die Hand mit dem Dolch und schnitt sich erneut kreuz und quer in die Brust. Das Bitten um Anhörung war vertrackter, als man meinen sollte. Beim letzten Mal zum Beispiel war er genauso wie jetzt auf die Knie gefallen, aber anstatt dass sein Flehen erhört wurde, hatte sich ein Dämon in sein Inneres eingeschlichen. „Ich werde für immer hier warten, wenn es Euch beliebt.“

„Ach, tatsächlich?“, tönte eine leise Stimme durchs Schlafzimmer, ironisch und ein bisschen ungehalten.

Paris riss die Augen auf. Obwohl die schlanke Silhouette des Götterkönigs von keinem Lichthof umgeben war, der den düsteren Raum aufgehellt hätte, war Kronos doch deutlich zu erkennen. Paris wäre vor Entsetzen fast umgefallen, er war froh, bereits auf Knien zu sein.

Der Gott hatte dichtes silbernes Haar und einen majestätischen Bart. Seine Augen ähnelten dunklen, unergründlichen Gewässern. Über die Schulter hatte er ein strahlend weißes Leinentuch drapiert, das wallend an seinem Körper herunterfiel. Seine eine Hand umklammerte einen Stab, die Sense des Todes – eine Waffe, die nicht einmal Luzifer besaß.

Kronos war groß, schlank und betagt, hatte aber dennoch eine kraftvolle Ausstrahlung.

Paris wagte nicht aufzustehen. Sein Puls raste. Er verneigte sich tief. Kronos war da, er war tatsächlich gekommen. „Danke, dass Ihr so gnädig wart zu kommen.“

„Das hab ich nicht für dich getan. Ich war einfach … neugierig.“

Vorsicht, Vorsicht, nichts überstürzen. „Wenn es Euch erfreut, erfreut es auch mich.“

„Es erfreut mich nicht. Ich mag keine Rätsel.“

Oh, oh, kein guter Start. „Ich entschuldige mich zutiefst dafür, Euch gestört zu haben, mein König.“

Kronos kicherte, was sich zwar immer noch ironisch, aber nicht länger verärgert anhörte. „Zumindest hast du in all den Jahrtausenden ein wenig Diplomatie und Selbstbeherrschung gelernt, wie ich sehe.“

„Was ich allerdings nicht den Griechen zu verdanken habe“, bemerkte Paris. Wenn Kronos und ihn etwas verband, dann war das ihr gemeinsamer Feind, ihr gemeinsamer Hass.

Wie erwartet entzückten diese Worte den neuen König. „Zeus war mir niemals ebenbürtig.“ Kronos trat einen Schritt vor. Er verströmte einen Duft nach Sternen und Himmel. „Freut mich, dass du das auch endlich erkannt hast.“

Paris bemerkte, dass die Zehen des Königs unter seinem langen Gewand hervorlugten. Sie waren umrahmt von sehr altertümlichen Sandalen und bestückt mit klauenartigen Zehennägeln, was nicht recht zu der ansonsten so würdevollen Erscheinung des Gottes passen wollte.

Vielleicht unterschieden sich die Götter und die Dämonen gar nicht so sehr voneinander?

Kronos umkreiste Paris, berührte ihn aber nicht. „Du bist Paris, der unwillige Träger des Dämons der Promiskuität. Ich habe tiefe Sympathie für deinen Dämon, denn ich weiß nur zu gut, was es heißt, eingesperrt zu sein.“

Oh ja. Sie waren einander ähnlich. „Dann wisst Ihr also auch, was es heißt zu leiden.“

„Ja.“ Wieder entstand eine Pause. Finger fuhren durch Paris’ Haare. „Hast du mich herbeigerufen, damit ich dich von deinem Dämon befreie?“

Mit einer winzigen Handbewegung könnte Kronos den Menschen und den Dämon voneinander trennen. Wenn er das allerdings täte, würde Paris sterben.

Paris konnte sich kaum an sein Leben ohne Dämon erinnern. Ja, natürlich wollte er Frieden. Er wollte Freiheit in seinem eigenen Geist, wollte Herr über seine Gedanken sein, aber das ging nicht, da Promiskuität seine zweite Hälfte war. „Nein, mein König“, sagte er schließlich.

„Eine weise Entscheidung. Das gefällt mir.“

„Als Euer Diener bin ich stolz darauf, Euch eine Freude zu bereiten.“

Wieder war ein leises Kichern zu hören. „Schön gesagt.“

Paris hielt den Kopf gesenkt und sah zu, wie sein Blut den Saum des göttlichen Gewandes tränkte. Der Fleck nahm die Form eines Herzens an. „Ich muss gestehen, dass ich vermutet habe, ein …“

„Ein Monster zu sehen?“

„Ja.“ Er wagte nicht zu lügen. Zu viel stand auf dem Spiel. „Ich dachte, es würde Euch Spaß machen, die Herren der Unterwelt auszulöschen.“

Man hörte das Rascheln von Leintuch, dann stand der Gott plötzlich nicht mehr vor Paris. Dafür streichelte warmer Atem sein Ohr. „Du hast richtig vermutet“, flüsterte der König. Wieder ein Rascheln, dann verschwand der warme Atem. „Ich bin ein Monster. Ich bin das, was das Gefängnis aus mir gemacht hat.“

„Und jetzt sehnt Ihr Euch nach Verehrung und Bewunderung durch Eure Untertanen. Ich werde Euch jeden einzelnen Tag meines Lebens anbeten, wenn Ihr …“

Ein Windstoß fuhr Paris in den Rücken und ließ ihn geradewegs nach vorn auf den Boden kippen. Sein Blut war bereits geronnen und verschmierte jetzt seine Wange, zu dickflüssig, um wieder herunterzutropfen.

„Schau mich an, Dämon.“

Langsam hob Paris den Kopf. Kronos stand wieder vor ihm. Paris war es nicht gewohnt, jemand anderem als sich selbst und seinem Dämon zu gehorchen. Sein Instinkt gebot ihm, sich zu verweigern – schon aus Prinzip. Denn wenn man gehorchte, bot man sich für immer neue Forderungen an.

Aber für Sienna würde er alles tun.

Ohne zu zögern blickte er dem Gott fest in die Augen. Die Schatten des Raumes schienen Arme bekommen zu haben, die sich nach Kronos ausstreckten und ihn schützend einhüllten. Aber seine dunklen Augen glühten.

„Du solltest das Gespräch nicht beginnen, indem du über meine Bedürfnisse spekulierst.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“

Das erneut einsetzende Schweigen schien gar nicht enden zu wollen, doch die Stille im Raum minderte nicht die Spannung, die in der Luft lag.

„Ich muss gestehen, unsicher gewesen zu sein, wie ich mit den Herren der Unterwelt, also auch mit dir, weiter verfahren soll“, sagte Kronos schließlich. „Ihr seid abscheulich, so viel steht fest, und doch dient ihr einem Zweck.“

Abscheulich? Das Wort hätte aus dem Mund eines Jägers stammen können. Doch tatsächlich hatte Paris früher einmal dasselbe gedacht. Er und seine Freunde hatten schreckliche Gräueltaten begangen. Verbrechen an der Welt und den Sterblichen. Sogar an den Griechen, deren Vertrauen sie missbraucht hatten. Aber dafür hatten sie jahrhundertelang versucht ihre Schuld zu sühnen. „Einem Zweck?“

„Als wenn ich dir das erklären müsste“, spottete Kronos.

Dazu gab es nichts weiter zu sagen. Zumindest nichts, was ihm weiterhelfen würde.

„Ich weiß, was du begehrst, Dämon. Die Frau. Sienna. Du willst, dass sie zu dir zurückkehrt.“

Es war hart für ihn, seinen intimsten Wunsch laut ausgesprochen zu hören. Aber auch sein Dämon, der sich in wilder Raserei gegen die Wände seines Gehirns warf, hatte sein Problem damit – allerdings aus einem ganz anderen Grund. Denn während Paris die Idee hatt, nur eine Frau zu haben und ihr treu zu sein, absolut berauschend fand, war der Gedanke für seinen Dämon einfach entsetzlich.

„Ja.“

„Sie ist tot.“

„Wie Ihr einst am Beispiel von Lucien bewiesen habt, seid Ihr mächtiger als der Tod.“

Ein leises Kichern war zu hören. „Was für ein Schmeichler, oh, was für ein süßer Schmeichler. Aber trotzdem werde ich dir diesen Wunsch nicht gewähren. Was geschehen ist, ist geschehen. Sie ist fort.“

Dem erdrückenden Gewicht der Enttäuschung nachzugeben, das jetzt auf seinen Schultern lastete, war keine Option. Ein Krieger gab nicht auf, bis der letzte Atemzug getan war – und selbst dann, vermutete Paris, gab es noch Verhandlungsspielraum. „Ich werde um sie feilschen.“

„Ja, mit deiner Anbetung und Verehrung“, amüsierte sich Kronos. „Aber lass dir gesagt sein, Dämon: Das füllt die Waagschale nicht. Du hast nichts, das wertvoll genug wäre.“

Ausnahmsweise einmal war Promiskuität mehr darauf bedacht, Schmerz auszuteilen, als Vergnügen einzustreichen: Beide, Paris und sein Dämon, brausten auf bei diesen Worten, waren kurz davor, zuzuschlagen. „Da wird es doch sicher etwas geben“, stieß Paris schließlich zwischen den Zähnen hervor.

„Nein, nichts. Ich brauche keine weiteren Krieger. Und ich habe Freiheit, Macht und Reichtümer, die deine Vorstellungskraft übersteigen. Du hast meinen Käfig, das stimmt, aber um den kann ich nicht feilschen, da ich mein Wort gegeben habe, und mein Wort ist Gesetz. Falls du meine anderen Waffen findest … dann vielleicht.“

„Bitte“, beeilte sich Paris zu sagen, der fürchtete, der Gott könne sich jeden Moment verflüchtigen, „Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ich werde alles tun, was Ihr verlangt, wenn Ihr mir nur diesen einen Wunsch erfüllt. Ohne Sienna bin ich verloren. Ich brauche sie, sie ist der ruhende Pol in meinem Sturm. Sie ist mein Anker. Ohne sie bin ich nur eine leere Hülle. Habt Ihr nie etwas Vergleichbares gefühlt? Habt Ihr Euch niemals etwas so sehr gewünscht, dass Ihr Euer Leben dafür hergegeben hättet?“

Erst war es still, dann war ein Seufzer zu vernehmen. „Deine Verzweiflung macht mich neugierig. Seit Anya ihren größten Schatz weggeben hat, um einen Mann zu retten, habe ich mich öfter gefragt, was das Herz für die Liebe alles zu tun bereit ist.“

Bei diesen Worten blühte jede Zelle in Paris’ Körper wieder auf.

Der Gott neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Sag mir, warum du von all den Dingen, um die du mich bitten könntest, diese Frau wählst? Warum gehst du nicht aufs Ganze und bittest mich, den Krieger Aeron von seinem Auftrag zu erlösen?“

„Ich … ich …“ Fuck. Was war er doch für ein mieser Freund. Das hätte er fordern sollen, und zwar schon vor Wochen. „Ich schäme mich, Euch sagen zu müssen, dass ich keine Antwort darauf habe.“

Wieder strichen Finger durch Paris’ Haar, ganz leicht, fast zärtlich. „Das klärt meine Verwirrung nicht. Sie war doch deine Feindin, und trotzdem ist sie dir mehr wert als ein lebenslanger Freund. Er würde dich retten. Sie würde dich töten. Du liebst ihn. Sie liebst du nicht.“

Nein, das tat er nicht, und deshalb empfand er seine Schuld noch schwerer. „Kann ich nicht beides haben?“

„Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich dir überhaupt einen Wunsch erfüllen werde.“

Im vergeblichen Bemühen, diese fürchterliche, ins Unermessliche wachsende Schuld auszublenden, schloss Paris die Augen. „Mein Körper hat mit Siennas Körper harmoniert wie mit keinem anderen, seit ich verflucht worden bin. Ich dachte … ich hoffte, sie könnte mich vielleicht vor mir selbst retten.“

„Na, das ist ja ein ziemlich egoistischer Wunsch. Ich dachte, du hättest in deinen Jahren auf der Erde gelernt, dich zu beherrschen, aber du scheinst immer noch Sklave von Promiskuität zu sein?“

Schönen Dank auch dafür, in der Wunde herumzubohren. „Ja.“

„Wenn ich sie dir zurückgebe, wird sie dich verraten, das ist dir doch klar, oder? Dein Freund hingegen wird weiterhin leiden und dich dabei lieben, obwohl du ihm eine Frau vorgezogen hast.“

Diese Worte waren zu viel für ihn – und zu wahrhaftig. Paris sackte zusammen und fiel nach vorn, er hielt sich seinen Magen und versuchte die Tränen zu unterdrücken.

„Das reicht jetzt. Denk über das nach, was ich gesagt habe, Dämon, und dann sehen wir weiter.“ Im selben Moment war Kronos verschwunden.

„Was machst du, Sabin?“

„Ich rüste mich für den Krieg“, antwortete er und beäugte die Krieger, die sich in ihrer provisorischen römischen Bleibe inzwischen häuslich eingerichtet hatten und ihm allesamt aufmerksam zuschauten. „Das wisst ihr doch.“

Vor einer Weile hatte sich Lucien kurz nach Buda gebeamt, um Gideon und Kane, die inzwischen genesen waren, nach Rom zurückzuholen. Der Deckenputz bröckelte bereits auf den Kopf von Katastrophe.

Lucien hatte die beiden dazu überreden können, Sabin zur Vernunft zu bringen. Sabin hingegen glaubte, dass umgekehrt die beiden zur Vernunft gebracht werden müssten.

„Was? Warum?“, fragte Maddox.

„Ich ziehe in den Krieg, denn darin bin ich gut.“ Er widmete sich wieder ganz seiner Sig Sauer und lud Kugeln ins Magazin. „Die Jäger, die wir im Tempel getötet haben, sind nicht die einzigen hier. Etliche andere treiben sich noch herum, wahrscheinlich auf der Suche nach uns. Und damit nicht genug: Paris hat in seiner Vision vorhin gesehen, wie Reyes’ Frau unsere Büchse in den Händen hielt. Wollte sie sie uns reichen oder denen?“

Diese verhängnisvolle Frage löste ein düsteres Schweigen im Wohnzimmer aus. Keiner hatte eine Antwort darauf. „Sie hat Ashlyn damals das Leben gerettet. Ich mag sie“, sagte Maddox schließlich – und es war gar nicht mal als zärtlicher Gruß an Ashlyns Adresse gerichtet. Die war nämlich in einem anderen Zimmer. Maddox meinte tatsächlich ernst, was er sagte.

Aber Sabin war noch nicht fertig. „Wir wissen, dass Danika eine Zeit lang bei den Jägern war. Wir wissen auch, dass sie uns hasst. Durchaus möglich, dass immer noch Jäger hier in der Nähe sind, dass sie uns gefolgt sind, um uns die Büchse in dem Moment abzujagen, in dem wir sie finden.“

„Und das wissen wir nicht schon seit Langem“, pflichtete Gideon bei. Seine Finger verschwanden in seinem dichten blauen Haar, als er sich die Schläfen massierte.

Strider klopfte sich auf die Hüfte und nickte befriedigt, als er seine Messer spürte. „Ich bin dabei.“

Sabin schaute zu Amun hinüber. Der Mann tat selten den Mund auf. Als Hüter des Dämons der Geheimnisse konnte er nichts sagen, ohne Intimitäten zu enthüllen, die seine Zuhörer gar nicht wissen wollten oder besser nicht wissen sollten. Aber jetzt nickte sogar er.

Anya stemmte ihre Hände in die Hüften. „Ohne Lucien gehe ich nirgendwohin.“

„Liebe“, spöttelte Sabin. Ein paarmal in den vergangenen Jahrhunderten war er selbst schwach geworden, und jedes Mal hatte es sich als großer Fehler erwiesen. Zuletzt hatte vor elf Jahren Dean Stefanos Ehefrau Darla sein Herz erobert. Nach ihrem Tod hatte Sabin geschworen, sich solche Gefühle nie mehr zu erlauben. Er hatte Frauen immer wieder in tiefe Depressionen gestürzt, weil sie ununterbrochen an sich und ihrem Tun zweifelten. In extremen Fällen, wie dem von Darla, führten diese Depressionen zum Selbstmord. Bei Sabin standen die Liebe und das Unglück, das sie mit sich brachte, einfach in keinem guten Verhältnis.

Gideon zuckte mit den Achseln. „Du weißt, wie ich es hasse, gegen die Jäger zu kämpfen.“

Gut, er war also auch dabei.

„Ihr wollt in den Krieg ziehen? Einfach so?“ Maddox schnippte mit den Fingern. „Ohne Vorbereitung? Das hatten wir schon in Buda, und ihr wisst, wie es ausgegangen ist. Eine Bombe hätte Torin fast umgebracht. Eine Seuche hat sich in der Stadt ausgebreitet. Du warst mitverantwortlich dafür, dass die Jäger auf einmal vor unserer Tür standen. Aber offenbar hast du dich kein Stück geändert.“

Als sie sich vor einigen Tausend Jahren getrennt hatten, hatte sich Maddox, in der Hoffnung auf Frieden, auf Luciens Seite geschlagen – wodurch Sabin ein großer Krieger verloren gegangen war. Maddox wollte nicht, dass sie sich wieder entzweiten, aber …

„Du hast dich auch nicht geändert“, knurrte Sabin. „Ohne Krieg kann es keine Eintracht geben. Die Geschichte – nicht zuletzt die Geschichte, die wir gelebt haben – hat das immer wieder gezeigt. Wir müssen für das, was wir wollen, kämpfen, oder es wird uns entrissen.“

„Auch ich sehe die Jäger lieber tot als lebendig“, stieß Maddox zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wirklich.“ Als Hüter der Gewalt war er stürmisch, aufbrausend und leidenschaftlich, ähnlich wie viele Menschenfrauen. Und dieser innere Orkan bewirkte, dass Maddox zumindest in seinem äußeren Umfeld Ruhe und Frieden brauchte. Das wusste Sabin, und er wusste auch, dass Maddox seinen Dämon mittlerweile kontrollierte, indem er einfach an seine Frau dachte. „Aber ich will, dass meine Freunde noch eine Weile leben. Ihr rennt da einfach raus, ohne zu wissen, wie viele Jäger auf euch warten und was für Waffen sie haben – Waffen, die sie auch gegen eure Frauen einsetzen können. Ihr …“

Die bildschöne Ashlyn betrat den Raum.

Sabin hätte nicht gedacht, dass Maddox sie bemerkt hatte, doch der presste augenblicklich die Lippen aufeinander und hörte auf zu sprechen. Er schien die Nähe des Mädchens immer irgendwie zu spüren, ob an ihrem lieblichen Geruch oder durch reine Intuition, vermochte Sabin nicht zu sagen.

Maddox’ violette Augen schweiften durch den Raum, und als sie auf Ashlyn trafen, wurde sein Gesichtsausdruck weich. Auch Sabin musterte sie jetzt. Sie war honigfarben und ebenso süß und entzückend anzusehen wie eine Kamee. Sie wirkte immer so … zerbrechlich. Vielleicht fiel es ihm deshalb so schwer, sich vorzustellen, wie sie ein wildes Tier wie Maddox gebändigt hatte. Zweifellos würde sie ihn auch dazu bringen, ihrem gemeinsamen Baby die Windeln zu wechseln.

Als Maddox sie zu sich heranwinkte, näherte sie sich lächelnd. Sobald sie in Reichweite war, umschlang Maddox sie mit beiden Armen.

Damit war das Kriegsthema fürs Erste vom Tisch: Maddox würde jeden umbringen, der es wagen würde, seine Frau zu ängstigen.

„Hallo, ihr alle.“

Von allen Seiten wurde sie mit lautem Hallo begrüßt.

Maddox sah sie stirnrunzelnd an. „Du bist blass. Du solltest dich noch eine Weile ausruhen. Komm, ich bringe dich zurück in unser …“

„Nein, noch nicht. Ich … ich habe etwas gehört“, sagte sie, und ihre Miene verdüsterte sich schlagartig.

Alle, auch Maddox, waren plötzlich wie erstarrt. Ashlyn besaß die einzigartige Fähigkeit, jedes Gespräch, das jemals geführt worden war – egal an welchem Ort der Erde, egal in welcher Sprache –, zu hören. Das Stimmengewirr in ihrem Kopf verstummte lediglich, wenn Maddox in der Nähe war. Niemand wusste, warum das so war, aber Ashlyn selbst behauptete gern, es wäre ein Zeichen dafür, dass sie beide füreinander bestimmt wären.

Sabin hatte schon mehrfach darauf gedrängt, dass sie sich Ashlyns Gabe zunutze machen sollten, doch Maddox hatte es jedes Mal mit der Begründung abgelehnt, dass die vielen Stimmen seine Frau quälen würden. Dagegen konnte er es Ashlyn kaum verbieten, eigenständig loszuziehen und zu lauschen – was Sabin Ashlyn schon bei verschiedener Gelegenheit nahegelegt hatte.

„Hast du das Haus verlassen?“, fragte Maddox, und in seiner Stimme lag ein winziger Hauch von Ärger.

„Vielleicht“, antwortete sie ausweichend. „Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, ich würde mich nicht genügend ausruhen, und dass du es gerne gesehen hättest, wenn ich vorhin noch etwas geschlafen hätte, bevor ich mit Anya rausgegangen bin, um Gespräche über die Büchse aufzuschnappen. Aber Anya hat sich ohnehin die ganze Zeit nur beschwert, dass ihr sie von der Schlacht beim Tempel ausgeschlossen habt, also hab ich kaum etwas gehört. Aber ich werde noch verrückt vom vielen Ausruhen. Da kann ich mich ja gleich ins Grab legen. Also bin ich kurz spazieren gegangen, das ist alles.“

Braves Mädchen, dachte Sabin. So wie er Maddox kannte, war Anya vorhin wohl ohnehin nicht Ashlyns einzige Beschützerin gewesen. Wahrscheinlich war Maddox ihnen heimlich gefolgt und hatte sie, während sie arbeiteten, von einem sicheren Schattenplatz aus beobachtet. Aber das sagte Sabin nicht laut.

„Ashlyn“, gemahnte Maddox streng. „Die Zeiten sind gefährlich. Ich will gar nicht wissen, wer dort draußen alles auf der Lauer liegt und dich beobachtet.“

„Und ich will das jetzt eigentlich nicht wieder alles aufrollen. Es ist einfach passiert, okay? Und wie du siehst, bin ich unbeschadet zurückgekehrt.“

„Ja, diesmal“, grummelte er. „Diesmal ist dir nichts passiert. Ich kann einfach nicht glauben, dass du das Haus verlassen hast, ohne mir Bescheid zu sagen. Legst du es darauf an, von unseren Feinden gekidnappt zu werden? Sie würden keine Sekunde zögern, dich erst für ihre Zwecke zu benutzen und dann umzubringen.“ Mit jedem Wort wuchs sein Zorn.

„Ich war doch vorsichtig. Außerdem möchte ich gerne meinen Teil beitragen. Ich will euch in Sicherheit wissen, und wenn ich dafür ein Risiko eingehen muss, dann werde ich das tun.“

„Ja, aber du setzt auch unser Baby einem Risiko aus.“

Plötzlich lag ein entsetzlich gequälter Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Ich liebe unser Baby und würde es niemals unnötigen Gefahren aussetzen. Aber nur, damit du es weißt: Du bist mir genauso wichtig wie unser Kind. Deine Sicherheit ist das Wichtigste überhaupt für mich. Und nur für den Fall, dass du’s vergessen hast: Wir sind schicksalhaft miteinander verbunden – wenn du stirbst, sterbe ich auch.“

Maddox erschauerte bei all diesen Ermahnungen.

„Für alle Fälle hab ich mich vor meinem Spaziergang verkleidet, aber ich hab niemanden gesehen, der auch nur annähernd so wirkte wie ein Jäger. Jedenfalls niemanden mit einem Tattoo am Handgelenk. Und wenn es euch beruhigt: Das Gespräch, das ich gehört habe, lag schon ein paar Stunden zurück.“

Maddox vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. „Ich will dich nicht verlieren. Wenn du stirbst, würde ich einen tausendfach qualvolleren Tod sterben als all die, die ich bereits gestorben bin.“

„Ich will dich auch nicht verlieren. Deshalb mache ich das ja.“

„Erzähl uns, was du gehört hast“, befahl Sabin und fügte – nach einem Anraunzer von Maddox – ein „Bitte“ hinzu. Sachte, sachte. Höflichkeit war nicht gerade Sabins Stärke, da gab es definitiv noch Nachbesserungsbedarf.

Ashlyn wickelte ihre Finger um Maddox’ Handgelenk und hielt ihn fest wie einen wertvollen Schatz. „Du hattest recht“, sagte sie, zu Sabin gewandt. „Hier sind tatsächlich Jäger. Sie suchen nach euch. Oder besser gesagt: Sie haben nach euch gesucht.“

Sie hatte das also auch gehört. Sabin versuchte ein Grinsen in Maddox’ Richtung zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Guck, projizierte sein Dämon Zweifel in Maddox’ Kopf, wir müssen etwas gegen sie unternehmen. Krieg ist die einzige Lösung.

Du lagst falsch, fügte der Dämon noch hinzu, und auch diese Worte, das wusste Sabin, schlichen sich in Maddox’ Geist ein, du liegst immer falsch.

„Sabin“, bellte Maddox.

„Entschuldigung.“ Sabins Dämon konnte nicht anders, und Sabin wiederum konnte ihm nicht jedes Mal, wenn er in anderen Köpfen Zweifel säte, Einhalt gebieten. Der Dämon ergriff einfach jede sich bietende Gelegenheit, ließ nichts aus. Deshalb kann ich auch keine Frau haben.

„Ich habe ungefähr zwölf verschiedene Stimmen herausgehört. Jetzt schwärmen sie gerade in Buda aus“, berichtete Ashlyn. „Sie haben nämlich gerade erfahren, wo sich das zweite Artefakt befindet. Sie sind auf dem Weg, es sich zu holen.“