23. KAPITEL

Der nächste Morgen kam, ließ sich aber in dem Motelzimmer nicht erkennen. Nicht der kleinste Sonnenstrahl drang durch das sorgfältig abgedichtete Fenster, und den Radiowecker musste Reyes ausgestellt haben, denn Danika sah die hellroten Digitalziffern nicht, die ihr die Uhrzeit verraten hätten.

Danika hatte ihre Augen nur zögernd aufgeschlagen. Aber der Duft von Kaffee drang so verlockend an ihre Nase, dass sie sich schließlich doch aufsetzte. Die Baumwolldecke rutschte ihr bis zur Hüfte hinab, kühle Luft umgab ihre nackten Brüste.

Fröstelnd zog sie die Decke bis zum Kinn hoch, während sie sich in dem kleinen Raum umblickte. Reyes lag nicht mehr im Bett. Und seine Kleider waren vom Fußboden verschwunden.

Wo war er?

Doch die Tür öffnete sich, noch bevor sie nervös werden konnte. Endlich drang eine Flut von hellem Sonnenlicht in den Raum.

Danika blinzelte und musste sogar mit einer Hand ihre Augen abschirmen.

„Wie schön, du bist wach“, sagte Reyes und schloss die Tür. Weil es jetzt wieder so dunkel war wie zuvor, erlaubte sie sich, ihre Hand, die die Baumwolldecke umklammerte, sinken zu lassen. Ihr hungriger Blick suchte den Mann, der ihr letzte Nacht so viel Lust bereitet hatte – und ihr nicht erlaubt hatte, ihm das Gleiche zurückzugeben.

Er blieb neben dem Tisch stehen, eine kleine Tüte in der Hand. „Das Frühstück steht bereit. Tut mir leid, dass die Auswahl so kümmerlich ist, aber ich hab dieses Motel primär ausgewählt, um die Straße im Blick zu haben. Zu deiner Sicherheit.“

Sie riss ihren Blick von ihm los – er hatte den steifsten, härtesten Penis, den sie je gesehen hatte – und besah sich das Frühstück auf dem Tisch: Eine Tasse Kaffee, drei Schokoriegel und eine Chipstüte erwarteten sie. „Perfekt“, sagte sie und meinte es ehrlich. Nicht weil sie Chips und Schokoriegel besonders gern mochte, sondern weil er sich die Mühe gemacht hatte, die Sachen herbeizuschaffen. Ihr Magen knurrte. „Was ist in der Tüte?“

„Ein Hemd“, sagte er nur.

Was war los mit ihm? Er war wieder so distanziert, als hätte es die letzte Nacht nicht gegeben. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie ihn. In den letzten Tagen war ihr aufgefallen, dass er seine T-Shirts mindestens dreimal täglich gewechselt hatte. Sie meinte, den Grund dafür zu kennen: Er wollte nicht, dass sie die getrockneten Blutflecken sah.

Und dass er bereits heute Morgen ein neues Shirt gekauft hatte, bedeutete wohl, dass er sich zuvor geritzt hatte. Schon wieder.

„Zieh dein Hemd aus“, sagte sie.

Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Er ging ins Bad und rief ihr über die Schulter zu: „Frühstücke, dusche und zieh dich an. Heute treffen wir deine Familie.“

Bei dem Gedanken tat ihr Herz einen Sprung, vor Freude, aber auch vor Nervosität, die sie letzte Nacht versucht hatte beiseitezuschieben. Ob es ihnen gut ging? Ob ihre Familie sie wohl genauso schmerzlich vermisste, wie sie, Danika, ihre Familie vermisste? Wieso waren sie zusammen, ohne sie?

Danika schob diese Fragen einen Moment beiseite, sprang aus dem Bett und huschte ins Bad. Nackt drehte sie sich um, breitete die Arme aus und stemmte sie gegen den Türrahmen, sodass sie Reyes den Ausgang versperrte.

Wenige Zentimeter vor ihr blieb er stehen. Ihre Brustwarzen wurden augenblicklich hart, streckten sich ihm, seinen Händen, seinem Mund entgegen. Der Duft nach Sandelholz, der ihn immer und überall begleitete, hüllte sie ein.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Zieh dein Hemd aus.“

Sein dunkler Blick brannte auf ihr, wanderte langsam nach unten, tiefer … und tiefer. Auf ihrer Haut bildete sich eine herrlich prickelnde Gänsehaut, ihre Beine zitterten.

„Du hast den köstlichsten kleinen Körper, den ich jemals gesehen habe“, sagte er mit glutvoller Stimme.

„D…danke. Und jetzt das Hemd. Du kannst mich nicht ablenken.“

Er legte seine freie Hand direkt unter ihre an den Türrahmen, weil er sich offensichtlich an irgendetwas festhalten musste. Das Holz ächzte unter seinem Gewicht, er selbst aber versuchte, lässig und unangestrengt zu wirken. „Ich weiß, warum dir immer so kalt ist.“

„Ich hab gesagt, dass es dir nicht gelingen wird, mich abzulenken. Außerdem ist mir durchaus nicht immer kalt. Ich kann mich an zwei Gelegenheiten erinnern, wo ich das Gefühl hatte, bei lebendigem Leib zu verbrennen.“

Seine Lippen verzogen sich leicht, sein Blick wurde noch glühender. „Na gut, nicht immer.“

„Und warum ist mir kalt? Weil die Luft kalt ist?“

Bei dieser trockenen Bemerkung wurde aus den verzogenen Lippen ein breites Grinsen. Pure Elektrizität schoss durch ihren Körper, ihre Nervenenden sprühten Funken. Dieses Lächeln, oh, dieses Lächeln! Genauso betörend wie seine Liebkosungen.

„Du bist ein Tor zum Himmel und zur Unterwelt.“ Er beugte sich zu ihr hinunter … seine Lippen streiften ihr Ohr.

Sie erschauerte.

„Manchmal verbindet sich deine Seele mit dem Jenseits und saugt Visionen daraus auf, die du dann siehst.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn das stimmt, dann hätte ich mein ganzes Leben lang frieren müssen. Aber ich kenne diese betäubende Kälte erst, seitdem ich dir begegnet bin.“

„Ich muss für dich …“ Auf der Suche nach dem passenden Wort schloss er kurz die Augen. „… eine Art Leitung, ein Kanal sein. Denn jedes Mal, nachdem ich mit dir geschlafen habe, schwebe ich im Himmel.“

Jetzt grinste sie. „Das bedeutet nur, dass ich besser im Bett bin, als ich dachte.“ Am Anfang hatten sie geglaubt, dass sie das Allsehende Auge sei, jetzt hielten sie sie für eine Art Tor? Hallo, ich bin doch nur ein stinknormales, manchmal etwas verrücktes Mädchen.

Zumindest wünschte sie sich das. Sehnlichst. Sie wollte kein Ausnahmewesen sein. Sie wollte nicht für den Rest ihres – kurzen? – Lebens verfolgt werden. Sie brauchte und verdiente Ruhe und Entspannung, verdammt noch mal. Mit Reyes. Sie könnten an einen Strand fahren, im weißen Sand faulenzen, und er könnte sich als ihr Heilmasseur ausgeben.

„Mit etwas Training könntest du wahrscheinlich lernen, Kontrolle über deine Visionen zu erlangen. Dann könntest du entscheiden, ob du lieber den Himmel oder die Hölle besuchen möchtest, wie lange du bleiben und wen du dort beobachten willst.“

Noch während er sprach, schüttelte sie schon den Kopf. Obwohl die Kälte in ihren Körper zurückgekehrt war, war sie schweißbedeckt. „Ich will nicht mehr darüber reden. Ich will, dass du dein verdammtes Hemd ausziehst!“

Er legte seinen Kopf schief, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Okay. Wenn er dem Thema seiner selbst zugefügten Qualen so offensichtlich aus dem Weg ging, dann würde sie ihm eine härtere Nuss vorsetzen. Vielleicht würde er dann noch darum betteln, über seine frischen Wunden sprechen zu dürfen. „Hör mir zu. Du bekommst einen Orgasmus, wenn du mit mir schläfst, und soweit ich es beurteilen kann, ritzt du dich dabei nur ganz wenig. Weit entfernt von dem, was dir die anderen Frauen antun mussten. Das bedeutet, dass dein Dämon zahmer ist, wenn du mit mir zusammen bist, stimmt’s?“

Er zögerte erst, nickte dann aber etwas steif und mit argwöhnischem Blick.

Sie war überrascht, denn sie hatte bloß ins Blaue spekuliert. Wenn der Dämon sich nur durch sie und sonst keine Frau besänftigen ließ, dann musste irgendetwas dahinterstecken. War sie tatsächlich ein Tor? „Wenn ich das Allsehende Auge und ein Tor bin, dann liegt die Vermutung nahe, dass ich deinen Dämon irgendwohin schicke, während du in mir bist.“

Sein Mund klappte auf.

„Und ich frage mich, wohin der Dämon geht. Wer weiß, vielleicht reist er zur Hölle, um seine Kumpel zu treffen. Willst du die Theorie mal überprüfen?“

Benommen taumelte er ein paar Schritte zurück. „Ich … ich …“

„Das ist doch eine gute Nachricht.“ Sie trat auf ihn zu. „Stimmt doch, oder? Du kannst mit mir schlafen, ohne Angst zu haben, mich zu verderben.“

„Ich wage nicht mehr zu hoffen“, flüsterte er mit brüchiger Stimme. „Du weißt, was passiert, wenn man hofft.“

Shit. Darauf wusste sie nichts zu erwidern.

„Du wolltest meine Wunden sehen.“ Es entstand eine drückende Pause, während der Reyes völlig reglos dastand. Dann ließ er die Tüte fallen, die er immer noch in der Hand hielt, und griff nach dem Saum seines T-Shirts. Er zog es sich über den Kopf und entblößte seine Brust. „Hier, bitte.“

Ihr Plan hatte funktioniert. Sie hatte gepunktet. Doch jetzt, wo sie seine Haut sah, wünschte sie, sie hätte lieber das Gespräch fortgesetzt. Sein gesamter Oberkörper war mit Schnittwunden überzogen, einige verunstalteten sogar das Schmetterlingstattoo. Es gab lange und kurze Schnitte, und alle verbanden sich zu einem Bild des Schmerzes.

„Hast du dir die selbst zugefügt?“

„Ja.“

Ob er ihr wohl jemals erlauben würde, ihm dabei zu helfen? Wahrscheinlich nicht, dachte sie, und eine tiefe Frustration überkam sie. Es sei denn …

An einem der nächsten Tage würde sie ihn überrumpeln müssen. Wenn sie tatsächlich in der Lage war, seinen Dämon wegzuschicken, bräuchte er keinen Schmerz mehr. Was er brauchte, war Seelenfrieden. Und nur indem sie ihn ritzte, würde sie beweisen, dass sie tatsächlich in der Lage war, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne sich in eine kleine schmerzlüsterne Nutte zu verwandeln.

Mit diesem Gedanken im Kopf legte sie ihm ihre flache Hand auf die Brust und drückte dagegen. Sie war stark, aber er war deutlich stärker, und er hätte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, wenn er es nicht gewollt hätte.

Aber er wollte.

„Wir sind fertig miteinander“, sagte sie und knallte ihm die Badezimmertür vor der Nase zu.

Frauen. Würde er sie jemals verstehen?

Er tat Danika einen Gefallen, indem er sie von der dunklen Seite seines Lebens fernhielt, und sie schaute ihn an, als würde er sie betrügen. Sogar jetzt noch, zwei Stunden später, verfolgte ihn ihr gekränkter Gesichtsausdruck.

Was, wenn sie recht hat? Was, wenn Schmerz dich verlässt, während du mit ihr schläfst?

Sollte er es wagen und versuchen, diese irrsinnige Hypothese zu überprüfen? Konnte er ihr unwiederbringlichen Schaden zufügen, wenn sie falschlag? Er wusste es einfach nicht.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er.

Sie nickte. Sie war ungewöhnlich still auf ihrem Weg durch die Wohngebiete von Oklahoma. Sie versuchten sich im Schatten der großen, rot geziegelten Häuser und außer Sichtweite der anderen Fußgänger zu halten. Autos und Lastwagen brummten an ihnen vorbei. Ihm war bislang nicht ein einziger Jäger aufgefallen und auch sonst niemand, der ihnen intensiv nachblickte.

„Nur noch ein kleines Stück“, sagte er und streckte seine Hand nach ihrer aus. Vorhin hatte Torin ihnen die Adresse der drei Frauen gemailt. Sie waren nicht umgezogen und hatten sich auch nicht getrennt.

Danika nickte wieder, und ihr Pferdeschwanz wippte. Sie sah blass und abgespannt aus und gab vor, seine ausgestreckte Hand nicht zu bemerken.

Reyes hasste es, sie in einer solchen Stimmung zu sehen.

Er hatte Angst davor, festzustellen, dass ihre Großmutter längst tot und begraben war und deshalb kein Signal mehr aussendete. Würde Danika sich dann wieder daran erinnern, dass sie ihn eigentlich hasste? Würde sie ihn verfluchen oder sich von ihm trösten lassen?

Würde sie sich wünschen, doch lieber mit den Jägern zusammengearbeitet zu haben?

Blanke Angst überkam ihn. Eigentlich müsste er sie auf das Schlimmste vorbereiten, aber er brachte keinen Laut heraus. Und dann standen sie plötzlich vor dem Haus, einem heruntergekommenen Gebäude mit vernagelten Fenstern und Graffitis an den Wänden.

„Ich geh zuerst rein“, sagte er.

„Nein.“ Ein Schauer … der Angst? … der Vorfreude? … lief ihr über den Rücken. „Sie werden ausrasten, wenn sie dich sehen.“

Reyes legte seine Hände auf ihre Wangen. Die Wolken zogen hastig über den Himmel und verdunkelten ihn, aber kurz darauf stach ein Bündel Sonnenlicht durch die Wolkendecke und fiel direkt auf Danika, verlieh ihrer glatten, makellosen Haut den gebührenden Glanz. Sie glühte förmlich und sah überhaupt nicht mehr aus wie ein Teil dieser Welt, sondern wie etwas Jenseitiges.

Ich habe diese Frau besessen, ich habe sie geschmeckt.

Sein Körper spannte sich an, bereitete sich darauf vor, sie erneut zu besitzen und zu schmecken. Jetzt nicht … vielleicht nie wieder. Sein Dämon schnurrte glücklich, und Reyes wusste nicht, ob es daran lag, dass er sich nicht erlauben würde, noch einmal mit ihr zu schlafen, oder weil eine minimale Chance bestand, dass er letztlich doch wieder schwach wurde.

Wo war dieses Schnurren gewesen, als er Danika das letzte Mal geliebt hatte?

Wo gehst du hin, während ich mit ihr zusammen bin? Er konnte nicht anders, er musste die Kreatur in seinem Innern einfach fragen.

Ins Feuer.

Ins Feuer. In die Hölle?

Schon bald werde ich sie ziehen lassen müssen. Es ist das Beste für sie. Es ist sicherer.

Aus all den Gründen, die er schon so oft aufgezählt hatte … und noch aus tausend anderen. Wenn er mit ihr schlief, öffnete sie das Tor zum Himmel – was bedeutete, dass sie gleichzeitig wohl auch die Höllenpforte öffnete. Es lag also nahe, dass sie, während er nach dem Sex in den Himmel aufstieg, zur Hölle fuhr. Und sie konnte einfach nicht noch mehr Böses in ihrem Leben gebrauchen, wo sie eh schon Nacht für Nacht von Albträumen gequält wurde.

Aber sie ziehen zu lassen … Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ob sie sich wohl eines Tages in einen Menschenmann verliebte, der ihr nicht wehtun, sie nicht ruinieren und zerstören würde? In einen Mann, der ihr Kinder schenken würde und …

Ein Brüllen ertönte in seinem Kopf. Sie gehörte ihm. Und seinem Dämon. Niemand außer ihm würde sie jemals anfassen. Nicht ohne zu sterben.

„Reyes, du tust mir weh.“

Sofort ließ er seine Arme sinken. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und musste sich nicht länger fragen, wie sein Dämon zu ihr stand. „Tut mir leid, schrecklich leid.“

Sie lächelte ihn müde an und fuhr ihm mit einem Finger über die Nase. „Hey, mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut.“

Jetzt versucht sie auch noch, mich zu trösten. Ich verdiene eine solche Frau einfach nicht.

Und obwohl er sie am liebsten gegen die Hauswand gedrückt, ihren Mund mit seinen Lippen gesucht und sich in ihrem Duft verloren hätte, ging er schnurstracks zur Vordertür. „Bist du bereit reinzugehen?“

Auf ihrem wunderhübschen Gesicht lag Unentschlossenheit. Sie senkte die Augen, ihre langen Wimpern warfen gezackte Schatten auf ihre Wangen.

„Was ist los?“

„Warum wollten sie mich nicht hier bei sich haben?“

„Sie …“

Reyes nahm eine unmerkliche Bewegung hinter dem Fenster direkt über ihnen wahr. Die zwei Bretter, die über das Fenster genagelt waren, bedeckten es nicht ganz, sondern ließen in der Mitte einen kleinen Sichtschlitz frei. Und der Schatten, den er hinter diesem Spalt gesehen hatte, war zu groß für eine Frau. Reyes war davon ausgegangen, dass die Frauen, wenn sie denn noch lebten, lediglich untergetaucht waren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie von Jägern gefangen gehalten würden. Denn wenn sie gekidnappt worden wären, so hatte er geglaubt, hätten die Jäger ihn oder die anderen Krieger längst kontaktiert, um ihre Forderungen zu stellen oder einen Deal vorzuschlagen. Wie dumm!

„Danika“, sagte er und blickte sich angespannt um. Er musste sie verstecken, musste sie in Sicherheit bringen.

Zu spät.

Die Tür wurde aufgerissen, und drei Männer traten hervor. Sie waren allesamt bewaffnet und richteten ihre Waffen auf Danika, so als wüssten sie genau, dass es reine Munitionsverschwendung wäre, auf Reyes zu feuern.

Eine unbändige Wut kochte in ihm hoch, die noch stärker wurde, als er Danikas entsetztes Keuchen hörte. „Oh mein Gott.“

„Hände hoch, Dämon“, rief ihm einer der Männer zu, „und Marsch nach drinnen. Eine falsche Bewegung und das Mädchen ist fällig.“

Sie würden Danika wehtun? Reyes biss sich in die Innenseite seiner Wange, zerfetzte sich vorsätzlich das Fleisch. Augenblicklich kam sein Dämon zum Vorschein und strich böse knurrend herum. Fertig, Schmerz?

Oh ja, lachte das Böse.

„Danika“, sagte Reyes. „Schließ deine Augen.“

Er vergewisserte sich nicht mehr, ob sie ihm gehorchte. Er ließ nur noch seinen Dämon heraus.

All das Blut, die Schreie, das Gemetzel.

Irgendwann hatte sich Danika die Hände auf die Ohren gepresst, um nichts mehr zu hören. Sie zitterte am ganzen Körper, vollkommen haltlos. Dumm, wie sie war, hatte sie Reyes’ Rat ignoriert und die Augen nicht geschlossen. Sie hatte helfen wollen. Schließlich war Kämpfen etwas, auf das sie vorbereitet war – hatte sie zumindest geglaubt.

Doch dann hatte sich Reyes plötzlich von einem Krieger in eine Art wild gewordenes Gerippe verwandelt. Die Haut, die sie so liebte, war verschwunden, und stattdessen sah man die Knochen und Zähne, so lang, kräftig und scharf wie die eines Haies.

Die Jäger hatten auf Reyes geschossen, was der aber nicht einmal zu bemerken schien. Er hatte weder in seinem Tun innegehalten, noch war er langsamer geworden. Er hatte die Jäger einfach weiter verschlungen. Sogar jetzt noch sprang er von einem zum nächsten und hieb seine Klauen in ihr Fleisch. Man hörte grausige Geräusche wie aus einem Horrorfilm: Knurren, Schnappen, Reißen, Ächzen.

Mit weit aufgerissenen Augen schaute Danika zu, ängstlich bemüht, ihm bloß nicht in die Quere zu kommen, sich unsichtbar zu machen, damit er am Ende nicht womöglich auch über sie herfiel. Wie gern wäre sie geflohen und hätte sich versteckt. Reyes war bereits von Kopf bis Fuß blutbespritzt, alles an ihm war glitschig, seine Haare, seine Kleidung, seine Stiefel. Wie gern wäre sie einfach losgerannt – aber sie tat es nicht. Ihre Angehörigen waren irgendwo in diesem Haus – und sie hatte keine Ahnung, wie es ihnen ging.

Ich hätte eher kommen und nach ihnen sehen sollen.

Inmitten des furchtbaren Durcheinanders griff sie sich eine herumliegende Pistole vom Boden und huschte hinter Reyes in das Gebäude. Wo waren sie? Sie schaute in den nächstgelegenen Raum – leer. Im Nachbarzimmer befanden sich vier Jäger, die fluchend neue Munition in ihre Pistolen luden.

Einer von ihnen sah sie, richtete seine Waffe auf sie und schrie: „Du dreckige Dämonen-Nutte! Mir ist es scheißegal, für was sie dich alle halten.“ Sie hob ebenfalls ihre Waffe und feuerte zur selben Zeit wie der Jäger. Das Nächste, was sie mitbekam, war, wie sie zu Boden geworfen wurde und Dreck schluckte. Dann nahm sie schemenhaft wahr, wie Reyes zu ihr eilte, und hörte nur noch Schreie.

Oh Gott. Danika richtete sich schwankend auf, ihre Beine trugen sie kaum. Sie taumelte vorwärts, wild entschlossen, ihre Suche fortzusetzen. Reyes hatte ihr nichts angetan, er war immer noch in der Lage, sie zu beschützen. Sie bogen um eine Ecke und sahen ein Treppenhaus. Mit gezückter Waffe in der zitternden Hand hetzte sie die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Noch eine Ecke.

Drei Jäger lauerten zitternd und blass am Ende des Flures. Als sie sie sahen, schossen sie. Doch auch diesmal war Reyes zur Stelle, warf sie zu Boden und stellte sich selbst den Kugeln. War er verletzt? Oh Gott, oh Gott.

Du weißt doch: Er mag Schmerzen. Ihm geht’s gut. In ihren Ohren dröhnte es, und ihr Herz raste.

Als sie wieder aufblickte, lagen die drei Männer bereits reglos am Boden, und Reyes war verschwunden. Wieder rappelte Danika sich auf und stürmte vorwärts, wobei sie gleich zweimal stolperte. Sie wusste, dass sie sich die Knie aufgeschlagen haben musste, aber ihr Adrenalinspiegel war so hoch, dass sie nicht das Geringste spürte.

Im unteren Flur schrie eine Frau.

„Mom!“, rief Danika, die ihre Stimme sofort erkannte. „Ich bin hier oben.“

„Danika?“

Noch ein Schrei.

„Danika, Baby, lauf weg, bring dich in Sicherheit!“

Und sie lief – aber nicht weg, sondern vorwärts. Einen Moment später stand sie keuchend und schwitzend in einem Schlafzimmer. Ihre Mutter und ihre Schwester waren an die Heizung gekettet, ihre Großmutter ans Bett, die Beine eingegipst.

Reyes war gerade dabei, die Ketten aufzubrechen. Immer noch war statt seines Gesichts nur der Schädel zu sehen. Er blutete und zitterte am ganzen Körper. Sie hätte nicht an ihm zweifeln sollen – und würde es nie wieder tun. Selbst in seinem jetzigen Zustand wollte er nur ihr Bestes. Die drei Frauen traten nach ihm, zitternd vor Angst, aber er ließ sich nicht beirren, bis er sie schließlich befreit hatte.

Danika sauste zu ihnen, kniete sich vor sie hin und nahm ihre Mutter und ihre Schwester gleichzeitig in die Arme. Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen und vermischten sich mit denen der beiden.

„Danika, er ist … er ist …“, stammelte ihre Schwester.

„Ich weiß, ich weiß. Hab keine Angst. Er wird dir nichts tun. Er ist ein guter Typ.“ Ihre Familie lebte. Sie waren wieder vereint, lagen sich in den Armen. Danika war überglücklich, unsagbar erleichtert und ergriffen, auch wenn ihr der Schock noch in den Gliedern saß.

„Ich habe geglaubt, du wärst tot“, brachte ihre Mutter zwischen Schluchzern hervor. „Sie haben mir gesagt, dass du tot bist.“

„Ich bin jetzt hier, ich bin hier.“ Sie wischte sich übers Gesicht, ließ die beiden Frauen los und richtete sich auf. „Wir werden uns nie wieder trennen, das schwöre ich. Es tut mir so leid, dass ich so lange gebraucht habe, euch zu finden.“

Jetzt waren sie alle drei auf den Beinen, wenn auch wackelig, und gingen zu dem Bett, auf dem Grandma Mallory lag. Auch ihr liefen die Tränen über die eingefallenen Wangen. Danika umklammerte die zitternde Hand der alten Frau.

„Was ist mit dir passiert?“, flüsterte sie und fuhr mit den Fingern über eines der eingegipsten Beine.

„Das Monster mit den Flügeln“, schniefte Mallory. „Er hat mich gefunden, überwältigt und … und …“ Ihr Kinn zitterte.

Danika hätte ihrer Großmutter am liebsten gesagt, sie bräuchte nicht weiterzusprechen, wenn sie nicht wollte, aber sie musste wissen, was passiert war. Also legte sie sich die Hand auf den Mund, damit ihr nicht Worte entschlüpften, die sie jetzt noch nicht sagen wollte. Dann nickte sie Mallory zu, um ihr zu signalisieren, dass sie zuhörte.

„Er hätte mich töten können, nachdem er mich zu Boden geschleudert hatte, aber das tat er nicht. Er hat mich über seine Schulter geworfen und in dieses Gebäude getragen. Ich glaube, ich habe früher von ihm geträumt. Ich versuche seit so langer Zeit schon, diese Träume auszublenden, dass sie mir nur noch wie Nebelfetzen im Sturm vorkommen, aber ich vermute, dass auch er mich während dieser nächtlichen Horrorszenen gesehen hat, denn er hat mich angeschaut, als würde er mich kennen. Ich weiß nicht, warum, aber ich hab ihm gesagt, er solle seine vergangenen Fehler nicht noch einmal begehen. Daraufhin ist er zurückgewichen und hat mich hiergelassen.“

Tränen strömten ihr über das Gesicht. Lieber Gott. Die ganze Zeit über hatten sie beide nicht ohne Grund geträumt. Welches Unglück hätte vermieden werden können, wenn sie, Danika, ihre Träume analysiert hätte, statt sie zu fürchten? Doch wahrscheinlich spielte es gar keine Rolle. Letzten Endes hatten Mallorys Träume sie vielleicht sogar gerettet. Und Danika hatte immer noch die Möglichkeit, Reyes zu retten – ein für alle Mal.

„Es tut mir leid, es tut mir so leid“, sagte ihre Großmutter. „Dafür ist jetzt keine Zeit. Du möchtest wissen, wie ich hierher gelangt bin. Ich konnte mich nicht bewegen, saß in diesem Gebäude fest. Die Kerle mit den Waffen waren mir vermutlich gefolgt, denn sie fanden mich etwas später. Deine Schwester und deine Mutter hatten sie bereits in ihrer Gewalt.“

Danika ließ ihre Hand sinken und ihren Blick von einem Familienmitglied zum anderen wandern. Alle drei weinten, waren blass und hatten Prellungen unter den Augen. „Ist eine von euch …?“

„Nein“, antwortete ihre Schwester Ginger. „Nein, uns geht es gut. Die meiste Zeit haben sie uns allein gelassen. Sie haben uns zu essen gegeben und dafür gesorgt, dass wir gesund bleiben. Offensichtlich hatten sie vor, mit uns als Köder unsere früheren Entführer anzulocken.“

So wie sie auch mich benutzen wollten, dachte Danika wütend. Zum Glück hatte Reyes … Ihr Blick kreiste durch den Raum, entdeckte ihn aber nirgends. Gönn ihm ein bisschen Ruhe. Genieß den Moment mit deiner Familie. Denn in diesem Moment wusste Danika tief in ihrem Innern, dass sie sich definitiv auf Reyes’ Seite stellen würde, dass sie ihm helfen würde, die Jäger ein für alle Mal zu vernichten.

Niemand, der ihrer Familie so zusetzte, durfte ungeschoren davonkommen. Und Reyes gehörte zu ihrer Familie.