21
Cletus erwachte am frühen Nachmittag. Er fühlte sich etwas steif und war leicht benommen, zugleich aber ausgeruht und hungrig wie ein Wolf. Athyer war immer noch in tiefen Schlaf versunken und wirkte wie ein Mensch in schwerer Narkose.
Cletus nahm etwas zu sich und gesellte sich dann zu Swahili und Arvid.
„Wie viele Leute sind schon da?“ fragte er Swahili.
„Bis auf sechsundzwanzig Mann, die sich noch nicht gemeldet haben, sind alle da“, erwiderte Swahili. „Die meisten sind innerhalb einer Stunde, nachdem Sie hier aufgetaucht sind, eingetroffen.“
Cletus nickte. „Gut“, sagte er. „Dann müßten sie ausgeschlafen genug sein, um in der Dämmerung zu operieren. Wir können zunächst jene Leute einsetzen, die bereits ausgeruht sind. Das erste, was wir brauchen, ist ein Flugzeug.“
So geschah es dann, daß ein Broza-LKW-Fahrer, der auf den Luftdüsen die einzige Straße hinabschwebte, die in die kleine Bergwerksiedlung Wasserhütte führte, sich plötzlich einem halben Dutzend bewaffneter Männer gegenübersah, die ihm den Weg verstellten. Die Männer trugen graublaue Uniformen mit der kleinen blauweißen Flagge der VFG auf der rechten Brusttasche. Einer der Männer, ein hochgewachsener, schlanker Offizier mit einem Sternenkreis auf den Schulterstücken, stieg auf das Trittbrett der Fahrerkabine und öffnete die Tür.
„Raus“, sagte Cletus. „wir brauchen den Wagen.“
Zwei Stunden später, kurz vor Sonnenuntergang, fuhr der gleiche Laster in Wasserhütte ein, und zwar über eine Straße, auf der in den letzten zwei Stunden auffallend wenig Verkehr zu verzeichnen war. In der Fahrerkabine saßen zwei Männer ohne Mütze und fuhren den Wagen direkt zu der kleinen Polizeistation, die in der Bergwerksiedlung für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte.
Der Laster fuhr auf den Parkplatz hinter dem Polizeigebäude, und einige Augenblicke später begann es im Gebäude zu rumoren. Doch bald wurde es wieder still, dafür aber begann die Feuerwehrsirene auf dem Dach wie ein gigantisches, verwundetes Tier zu heulen. Die Sirene heulte weiter, während die Bewohner des Ortes aus ihren Häusern und sonstigen Gebäuden strömten und feststellen mußten, daß der Ort umzingelt war und in den Straßen bewaffnete Soldaten mit blauweißen Flaggen auf der rechten Brusttasche ihrer Uniformjacken patrouillierten. Als die Sonne unterging, wußte bereits die ganze Stadt, daß Wasserhütte von fremden Truppen besetzt war.
„Sie müssen übergeschnappt sein! Sie werden nie damit durchkommen!“ tobte der Betriebsleiter der Stibnitminen, als er zusammen mit dem Bürgermeister und dem Polizeichef in Anwesenheit von Cletus auf die Wache gebracht wurde. „Die brozanische Armee ist in Broza-Stadt stationiert – und das ist selbst auf dem Landweg nur vier Stunden von hier entfernt. In einigen Stunden wird man Sie hier aufgestöbert haben, und dann …“
„Die wissen bereits Bescheid“, unterbrach ihn Cletus trocken. „Eines der ersten Dinge, die ich getan habe, war, den Leuten über Polizeifunk mitzuteilen, daß wir Wasserhütte und die Minen besetzt haben.“
Der Bergwerksleiter starrte ihn an. „Sie müssen verrückt sein“, sagte er schließlich. „Glauben Sie wirklich, daß Ihre fünfhundert Mann einigen Divisionen standhalten können?“
„Das wird wohl nicht nötig sein“, meinte Cletus. „Auf jeden Fall ist es nicht Ihr Bier. Alles, was ich von Ihnen und diesen beiden anderen Herren verlange, ist, der Bevölkerung zu versichern, daß sie nicht in Gefahr ist, solange sie die Straßen meidet und keinen Versuch unternimmt, die Stadt zu verlassen.“
Sein Tonfall ließ erkennen, daß er keine weiteren Einwände dulden würde. Nach einigen halbherzigen Protestversuchen erklärten sich schließlich die drei Würdenträger von Wasserhütte bereit, eine entsprechende Warnung über das örtliche Kommunikationssystem zu verbreiten – dann wurden sie in der Polizeiwache unter Arrest gestellt.
Innerhalb von knapp zwei Stunden rückten die ersten Einheiten der Broza-Streitkräfte an. Es handelte sich um einen Lufttransport, und die Truppen umringten die Siedlung sehr schnell in einem Umkreis, der etwa hundert Meter hinter der Grenze des Waldes, der die Stadt umgab, begann. Im Lauf der Nacht hörte man weitere Truppen, schwere Waffen und Panzerfahrzeuge anrücken. In der Morgendämmerung kamen Swahili und Cletus zu dem Schluß, daß nahezu eine Division brozanischer Truppen, mit allen denkbaren Waffen, vom Buschmesser bis zu Energiewaffen ausgestattet, Wasserhütte und die zweihundert Dorsai eingeschlossen hatte, die den Ort besetzt hielten.
Swahili war guten Mutes, als er den Feldstecher Cletus zurückgab, nachdem er das Waldgelände abgesucht hatte. Sie standen oben auf dem Kommunikationsturm beeinander, dem höchsten Gebäude der Stadt.
„Sie werden die schweren Waffen mit Rücksicht auf die Bewohner nicht so ohne weiteres einsetzen“, meinte Swahili. „Das bedeutet, sie müssen zu Fuß anrücken, wahrscheinlich von allen Seiten gleichzeitig. Ich nehme an, sie werden noch vor Ablauf einer Stunde angreifen.“
„Da bin ich anderer Meinung“, erwiderte Cletus. „Ich glaube, sie werden zunächst einen Parlamentär schicken.“
Cletus sollte recht behalten. Während der ersten drei Morgenstunden unternahmen die brozanischen Truppen gar nichts. Dann, gegen Mittag, als die wolkenverschleierte Sonne über Newton die nördliche Landschaft wärmte, tauchte ein Wagen mit einer weißen Flagge aus den Schatten des Waldes auf und fuhr über die Zufahrtsstraße in die Stadt. Der Wagen wurde am Stadtrand von Watershed von Soldaten empfangen, die man auf dieses Treffen vorbereitet hatte, und zur Polizeistation geleitet. Dort stieg ein General Anfang Sechzig aus, flankiert von einem etwa zehn Jahre jüngeren, rundlichen Mann mit den Rangabzeichen eines Obersts, und die beiden gingen ins Haus. Cletus empfing sie im Büro des Polizeichefs.
„Ich bin gekommen, um Ihnen Bedingungen für eine Übergabe anzubieten …“ sagte der General. Dann brach er ab und warf einen kurzen Blick auf Cletus’ Schulterstücke. „Ich kann Ihren Rang nicht erkennen.“
„Marschall“, erwiderte Cletus. „Wir haben erst kürzlich unsere Organisation und unsere Ränge bei den Dorsai revidiert. Ich bin Marschall Cletus Grahame.“
„Oh? Ich bin General James Van Dassel. Und das hier ist Oberst Morton Offer. Wie gesagt, wir sind gekommen, um über die Bedingungen einer Kapitulation zu verhandeln …“
„In diesem Fall wäre es kaum nötig gewesen, daß Sie hier persönlich erscheinen, General“, unterbrach ihn Cletus. „Sie wissen genau, daß von einer Kapitulation keine Rede sein kann.“
„Wirklich nicht?“ Van Dassel zog die Augenbrauen hoch, wobei er versuchte, höflich zu bleiben. „Vielleicht muß ich Ihnen mitteilen, daß eine ganze Division, die mit schweren Waffen ausgerüstet ist, Ihre Stellungen bereits umzingelt hat.“
„Diese Tatsache ist mir bekannt“, sagte Cletus. „Und auch, daß sich, wie Sie nur zu gut wissen, innerhalb unserer Linien etwas mehr als fünftausend Zivilisten befinden.“
„Ja, und wir machen Sie für die Sicherheit dieser Menschen verantwortlich“, sagte Van Dassel. „Ich möchte Sie warnen: Wenn ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wird, werden die äußerst liberalen Kapitulationsbedingungen, die wir anzubieten haben …“
„Stellen Sie meine Geduld nicht auf die Probe, General“, unterbrach ihn Cletus. „Wir halten diese Zivilisten als Geiseln für den Fall feindlicher Aktionen Ihrer Streitkräfte fest. Also lassen Sie uns mit diesem Unsinn über unsere Kapitulation keine Zeit mehr vergeuden. Ich habe Sie hier erwartet, um Sie über die sofortigen Schritte der VFG hinsichtlich Wasserhütte und der Minen zu informieren. Wie Sie zweifellos wissen, hat die VFG dieses Gelände von Broza gekauft und den Bergbaubetrieb aufgebaut. Der internationale Gerichtshof hier auf Newton hat die Enteignung durch Broza für illegal erklärt und Broza ist dem Gerichtsbeschluß, wonach die Minen an die VFG zurückzugeben sind, bis heute nicht nachgekommen. Unsere Expeditions-Streitkräfte haben die VFG bereits davon in Kenntnis gesetzt, daß sich die Minen wieder in ihrem Besitz befinden, und man hat mich informiert, daß die ersten Kontingente der regulären VFG-Truppen hier ab 18.00 Uhr eintreffen werden, um mein Kommando abzulösen und dann als ständige Besatzungstruppe zu fungieren …“ Cletus legte eine Pause ein.
„Ich werde natürlich nicht zulassen, daß irgendwelche Besatzungstruppen hier einmarschieren“, sagte Van Dassel mit beinahe milder Stimme.
„Dann würde ich vorschlagen, daß Sie bei ihrer politischen Führung rückfragen, bevor Sie etwas unternehmen“, sagte Cletus. „Ich wiederhole, daß wir die Stadtbevölkerung als Geiseln betrachten, damit sich Ihre Truppen anständig benehmen.“
„Und ich lasse mich nicht erpressen“, meinte Van Dassel. „Ich gebe Ihnen zwei Stunden Zeit, um Ihre Kapitulationsbereitschaft zu erklären.“
„Und ich, wie gesagt“, erwiderte Cletus, „mache Sie für jede feindliche Aktion Ihres Kommandos bis zur Ablösung durch die regulären Truppen der VFG verantwortlich.“
Nach einer gegenseitigen Erklärung gingen sie höflich auseinander. Van Dassel und sein Oberst kehrten zu den brozanischen Truppen zurück, die die Stadt umzingelten, und Cletus rief Swahili und Arvid, um mit ihnen zu Mittag zu essen.
„Was geschieht, wenn er beschließt, uns anzugreifen, bevor die Verstärkung eintrifft?“ fragte Swahili.
„Das wird er nicht tun“, sagte Cletus. „Seine Situation ist so schon schlimm genug. Die Politiker der Broza werden ihn fragen, wieso er zugelassen hat, daß wir Wasserhütte und die Minen besetzen. Vielleicht kann er sich herausreden, soweit es seine Laufbahn betrifft – aber nur, wenn die Broza keine Verluste zu beklagen haben. Er ist sich darüber im klaren, daß ich das genausogut weiß wie er. Also wird Van Dassel hübsch friedlich bleiben.“
Und Van Dassel rührte sich tatsächlich nicht. Seine Division, die Wasserhütte umzingelte, blieb ruhig, während der Kapitulationstermin verstrich und die Truppen der VFG eingeflogen wurden. Im Laufe der nächsten Nacht zog er seine Streitkräfte lautlos zurück. Bei Sonnenaufgang, als die frisch gelandeten VFG-Truppen in einem Waldstück ein Lager errichteten, war in einem Umkreis von zweihundert Meilen kein brozanischer Soldat mehr zu erblicken.
„Ausgezeichnet!“ rief Walco begeistert aus, als er mit dem Rest seiner Truppen in Wasserhütte eintraf und in das Büro gebeten wurde, das Cletus auf der Polizeiwache übernommen hatte. „Sie und Ihre Dorsai haben ein großartiges Werk vollbracht. Sie können jederzeit abrücken.“
„Sobald wir unseren Sold erhalten haben“, versetzte Cletus.
Walco lächelte dünn. „Ich dachte mir schon, daß Sie auf das Geld scharf sind“, sagte er. „Also habe ich es gleich mitgebracht.“
Er stellte eine schmale Aktentasche auf den Tisch, holte eine Empfangsbescheinigung hervor, überreichte sie Cletus und begann dann, Goldzertifikate auszupacken, die er auf dem Tisch vor Cletus stapelte.
Cletus ignorierte das Formular und schaute ruhig zu, wie der Haufen von Zertifikaten immer größer wurde. Als dann Walco das letzte Zertifikat auf den Stapel legte und mit einem breiten Lächeln zu Cletus aufblickte, wurde sein Lächeln nicht erwidert.
„Das ist weniger als die Hälfte dessen, was wir ausgemacht haben“, sagte Cletus.
Walco lächelte immer noch. „Das stimmt“, versetzte er. „Doch im Originalvertrag war eine Beschäftigungsdauer von drei Monaten vorgesehen. Nun hat es sich aber ergeben, daß sie in der glücklichen Lage waren, Ihr Ziel innerhalb einer knappen Woche zu erreichen, wobei Sie nur ein Viertel Ihrer Streitkräfte zum Einsatz brachten. Wir haben den vollen Sold für die ganze Woche berechnet, und zwar für alle fünfhundert Mann, die im Einsatz waren. Außerdem bezahlen wir einen Garnisonszuschlag, und zwar nicht nur für den Rest Ihrer Mannschaft für diese Woche, sondern auch für Ihre gesamte Streitkraft für diesen Monat – gewissermaßen als eine Art Bonus.“
Cletus schaute ihn vielsagend an, und Walcos Lächeln verblaßte.
„Ich bin sicher, daß Sie sich so gut wie ich erinnern können“, sagte Cletus kühl, „daß der Vertrag für zweitausend Mann und ein Vierteljahr abgeschlossen wurde und volle Bezahlung für alle vorsieht – und keine Vergütung für den Fall, wenn wir nicht in der Lage sind, die Stibnitminen an Sie zu übergeben. Wie viele Leute und wieviel Zeit ich dafür gebraucht habe, ist meine Sache. Ich erwarte die volle Bezahlung für mein ganzes Kommando, und zwar umgehend.“
„Das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage“, sagte Walco kurz angebunden.
„Da bin ich aber anderer Meinung“, versetzte Cletus. „Vielleicht darf ich Sie an etwas erinnern: Ich sagte General Van Dassel, dem brozanischen Kommandeur, der uns hier eingeschlossen hatte, die Zivilisten von Wasserhütte würden als Geiseln festgehalten, um zu erreichen, daß sich seine Truppen anständig verhalten. Wie es scheint, muß ich Sie daran erinnern, daß diese Geiseln sich immer noch in unserer Gewalt befinden – diesmal dienen sie dem Zweck, Sie zu einem anständigen Benehmen zu veranlassen.“
Walcos Gesicht straffte sich. „Sie werden doch einem Zivilisten nichts antun!“ sagte er dann.
„General Van Dassel nimmt es aber an“, erwiderte Cletus. „Nun, ich persönlich gebe Ihnen mein Wort als Dorsai – und dieses Wort wird sich im Lauf der Zeit als wertvoller erweisen als ein unterzeichneter Vertrag –, daß keinem Zivilisten auch nur ein Haar gekrümmt wird. Aber haben Sie den Mut, mir zu glauben? Wenn ich lüge und wenn die Übernahme der Minen mit einem Blutbad einhergeht, das unter den Bewohnern dieser Stadt angerichtet wird, so werden Ihre Chancen, mit Broza zu einer Einigung über diese Minen zu kommen, in Rauch aufgehen. Anstatt mit dem Vogel in der Hand zu verhandeln, werden Sie sich einer Kolonie gegenübersehen, die nichts weiter im Sinn hat, als Rache zu üben – Rache für eine Aktion, die von jeder zivilisierten Gesellschaft verurteilt werden wird.“
Walco stand da und starrte ihn an. „Das dort ist alles, was ich habe“, brachte er schließlich hervor.
„Wir können warten“, erwiderte Cletus. „Sie können ja wieder zurückfliegen, die fehlenden Zertifikate holen und spätestens bis zum Mittag zurück sein.“
Walco verließ ihn mit hängenden Schultern. Nachdem er die Treppen zum Flugzeug hinaufgeschritten war, das ihn hierhergebracht hatte, wandte er sich jedoch noch einmal um.
„Sie glauben“, sagte er zu Cletus, „daß Sie die neuen Welten für dumm verkaufen und Ihren Schnitt machen können“, sagte er böse, „und vielleicht werden Sie mit Ihrer Methode eine Zeitlang Erfolg haben. Doch der Tag wird kommen, wo Ihr Kartenhaus zusammenbricht und Ihnen die Scherben um die Ohren fliegen.“
„Wir werden sehen“, meinte Cletus.
Er schaute zu, wie die Tür hinter Walco geschlossen wurde und das Flugzeug sich in den Himmel von Newton erhob. Dann wandte er sich an Arvid, der neben ihm stand.
„Was ich noch sagen wollte, Arv“, meinte er. „Bill Athyer möchte gelegentlich meine Methoden der Taktik und Strategie in der Praxis studieren. Also wird er mein Adjutant, sobald wir wieder auf Dorsai sind. Für Sie werden wir irgendwo im Feld ein entsprechendes Kommando finden. Es ist sowieso an der Zeit, daß Sie Ihre praktischen Kenntnisse auffrischen.“
Ohne Arvids Antwort abzuwarten, kehrte er dem jungen Mann den Rücken zu und verließ ihn, wobei er sich in Gedanken bereits mit ganz anderen Problemen beschäftigte.