6
Der Donner grollte, tiefer als auf Erden, und rollte über die Hügel vor Bakhalla, wie das Rumpeln und Grollen von Giganten, als Cletus und Arvid in Mondars Residenz eintrafen. Doch über der Stadt war der Himmel klar. Über den Hausdächern bis hin zum Hafen füllte die gelbe Sonne von Kultis den Himmel und das Meer gleichsam mit rosigem Gold.
Mondars Haus, von Bäumen und blühenden Büschen umgeben, ein Gemisch von einheimischen und akklimatisierten Erdenpflanzen, stand einsam auf einem kleinen Hügel in einem der östlichen Vororte der Stadt. Der Komplex bestand aus einer Reihe von Gebäuden, die ursprünglich eher nach nützlichen als nach ästhetischen Gesichtspunkten zusammengestellt worden waren. Nun aber schien die Zweckmäßigkeit etwas in den Hintergrund gedrängt zu sein, nur die Form der Gebäude erinnerte noch entfernt an die ehemals praktischen Überlegungen, denn in jeder Beziehung hatte ein sanfter, künstlerischer Einfluß gewaltet, der bei aller Praxisnähe unübersehbar war.
Die harten, weißen Blocks der Gebäudekomplexe, die jetzt im Schein der untergehenden Sonne glühten, endeten nicht abrupt am Rande des grünen Rasens, sondern waren durch Baumgruppen, Patios und halboffene Räume mit weinumrankten Spalieren erweitert worden. Nachdem Cletus und Axvid aus ihrem Wagen gestiegen und diese Vorgärten betreten hatten, konnten sie nicht jederzeit mit Bestimmtheit sagen, ob sie sich nun wirklich schon im eigentlichen Gebäudekomplex befanden oder nicht.
Mondar empfing sie in einem halboffenen Raum, der von drei soliden Wänden und einem dieser weinumrankten Spaliere begrenzt wurde. Er führte sie tiefer ins Haus hinein, in einen langen, geräumigen, hallenartigen Raum mit tief hängender Decke, der mit dicken Teppichen belegt und mit bequemen, gepolsterten Sesseln und Liegen ausgestattet war. Einige Gäste waren schon anwesend, unter ihnen Melissa und Eachan Khan.
„Ist de Castries schon hier?“ wandte sich Cletus an Mondar.
„Da ist er“, erwiderte der Gastgeber. „Er und Pater Ten haben soeben ein Gespräch mit einem meiner Exoten-Freunde beendet.“ Währenddessen führte er die beiden zu einer kleinen Bar, die in einer Ecke des Raumes aufgebaut war. „Bestellen Sie sich, was Sie trinken möchten. Ich muß noch ein paar Leute begrüßen – aber ich möchte Sie später gern sprechen, Cletus. In Ordnung? Ich werde Sie aufsuchen, sobald ich wieder frei bin.“
„Auf jeden Fall“, sagte Cletus. Als Mondar sie verließ, wandte er sich der Bar zu. Arvid nahm gerade ein Glas Bier entgegen.
„Sir?“ fragte Arvid. „Darf ich Ihnen vielleicht …“
„Nein, danke, im Augenblick gar nichts“, sagte Cletus. Er blickte erneute in die Runde und erblickte Eachan Khan, der mit einem Glas in der Hand in der Nähe eines großen Fensters stand. „Bleiben Sie noch eine Weile in der Nähe, Arvid. So kann ich Sie leichter finden, wenn ich Sie später brauchen sollte.“
„Jawohl, Sir“, gab Arvid zurück.
Cletus ging auf Eachan Khan zu. Er stand mit steinernem Gesicht da, als wolle er jede Unterhaltung, die etwa aufkommen mochte im Keim ersticken. Als er den Offizier erblickte, entspannte sich sein Gesicht – sofern sein Gesicht überhaupt je entspannt wirken konnte.
„Guten Abend“, sagte Eachan. „Wie ich hörte, haben Sie Ihren Kommandeur aufgesucht?“
„Neuigkeiten haben flinke Beine“, versetzte Cletus.
„Schließlich sind wir ein Militärposten“, gab Eachan zurück. Er schaute für einen Augenblick über Cletus hinweg, dann faßte er ihn wieder ins Auge. „Außerdem habe ich auch gehört, daß Sie etwas über eine neue Infiltration von Neuländer-Guerillas durch den Etter-Paß geäußert haben.“
„Das stimmt“, sagte Cletus. „Halten Sie es nicht ebenfalls für wahrscheinlich?“
„Für sehr wahrscheinlich sogar – jetzt, wo Sie darauf hingewiesen haben“, sagte Eachan. „Übrigens – ich habe mir jene drei Bände über Taktik beschafft, die Sie bereits veröffentlicht haben. Die exotische Bibliothek besitzt ein paar Exemplare. Bisher habe ich die Bücher nur flüchtig durchblättern können“ – sein Blick versenkte sich plötzlich tief in Cletus’ Augen – „aber es hört sich alles recht vernünftig an. Sehr vernünftig sogar … Trotzdem bin ich mir immer noch nicht sicher, ob Ihr Täuschungsmanöver anwendbar ist. Eine Schlacht ist schließlich keine Fechtmeisterschaft, wie deCastries meinte.“
„Nein“, meinte Cletus, „aber das Prinzip ist anwendbar. Stellen Sie sich zum Beispiel eine taktische Falle vor, die Sie einem Gegner stellen, indem Sie ihn dazu verleiten, einen angeblich schwachen Punkt Ihrer Stellungen anzugreifen. Dann aber ziehen sich Ihre Truppen zurück und locken den Feind in einen Kessel, wo er umzingelt und von starken Verbänden vernichtet wird.“
„Das ist ein alter Hut“, sagte Eachan.
„Nein“, fuhr Cletus fort, „ich bin noch nicht fertig. Stellen Sie sich die gleiche Situation vor, nur daß man diesmal in einer Reihe von Gefechten dem Feind das Gefühl zahlreicher kleiner Siege vermittelt. In der Zwischenzeit aber bringen Sie den Gegner dazu, bei jedem Aufeinandertreffen größere Verbände seiner verfügbaren Kräfte einzusetzen. Dann, wenn er fast alle seine Reserven in die Schlacht wirft, um einen vermeintlichen weiteren Sieg zu erringen, locken Sie ihn in die Falle, wo er schließlich – viel zu spät – erkennen muß, daß man ihn in eine Position hineinmanövriert hat, wo er Ihnen auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert ist.“
„Sehr schlau“, sagte Eachan und runzelte die Stirn. „Vielleicht ein bißchen zu schlau …“
„Nicht notwendigerweise“, versetzte Cletus. „Sowohl das kaiserliche China als auch Rußland haben sich einer rüderen Version dieser Taktik bedient, indem sie die Invasoren immer tiefer ins Land lockten, bis der Angreifer plötzlich merkte, daß seine Versorgungswege zu lang und seine Stützpunkte zu weit weg waren und er sich von allen Seiten vom Feind umzingelt sah … Siehe Napoleon und sein Rückzug aus Moskau.“
„Trotzdem …“, Eachan brach plötzlich ab, und sein Blick ging durch Cletus hindurch. Cletus drehte sich um und sah, daß sich deCastries im Raum befand. Der hochgewachsene, dunkle und elegante Minister der Koalition für außerirdische Angelegenheiten stand an der gegenüberliegenden Wand und war mit Melissa in ein Gespräch vertieft.
Cletus’ Blick wanderte von den beiden Gestalten zurück zu Eachan, und er sah, daß dessen Gesicht so kalt und ruhig geworden war wie die erste Eisschicht auf der Oberfläche eines tiefen Teiches an einem windstillen Wintertag.
„Sie kennen deCastries jetzt schon eine Weile?“ fragte Cletus. „Sie und Melissa?“
„Alle Frauen mögen ihn.“ Eachans Stimme klang grimmig, während sein Blick immer noch auf Melissa und Dow haftete.
„Ja“, sagte Cletus. „Übrigens …“. Er brach ab und wartete. Eachan löste widerstrebend seinen Blick von den beiden und schaute ihn erneut an.
„Was ich sagen wollte“, fuhr Cletus fort. „General Traynor hat während unseres Gespräches etwas Merkwürdiges erwähnt. Er sagte, in Bakhalla seien keine Fallschirmjäger stationiert. Das hat mich etwas überrascht. Ich habe, bevor ich hierher kam, einiges über die Dorsai gelesen, und ich war der Meinung, daß Fallschirmspringen zum Trainingsprogramm Ihrer Söldnertruppen gehört.“
„Das stimmt“, erwiderte Eachan trocken. „Aber General Traynor ist wie die meisten kommandierenden Offiziere der Allianz und der Koalition. Er meint, unsere Ausbildung sei nicht gut genug, um die Leute für solche etliche andere Einsätze an der Front zu qualifizieren.“
„Hm“, meinte Cletus. „Eifersucht? Oder glauben Sie, daß man Ihre Söldner als eine Art Konkurrenz betrachtet?“
„Das will ich nicht behaupten“, sagte Eachan frostig. „Sie mögen Ihre eigenen Schlüsse ziehen.“ In seinem Blick war etwas wie der Wunsch zu erkennen, wieder durch den Raum zu Melissa und Dow zu wandern.
„Ach, und da ist noch etwas, was ich Sie fragen wollte“, sagte Cletus. „In den Ordern für Bakhalla, die ich noch auf der Erde eingesehen habe, finden sich die Namen einiger Marineoffiziere, die als Marineingenieure abkommandiert sind – für irgendwelche Hafen- und Flußarbeiten. Aber ich habe bisher noch keine Marineoffiziere gesehen.“
„Kommandeur Wefer Linet“, erwiderte Eachan prompt, „der Mann in Zivil dort am Ende der Couch am anderen Ende des Raumes. Kommen Sie, ich werde Sie vorstellen.“
Cletus folgte Eachan quer durch den Raum zu einer Sitzgruppe, wo ein halbes Dutzend Männer im Gespräch beieinander saßen. Hier war man Dow und Melissa schon viel näher – doch immer noch zu weit, um etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen.
„Kommandeur“, sagte Eachan, als sie bei der Sitzgruppe angekommen waren und ein kleinwüchsiger Mann um die Dreißig mit kantigem Gesicht von seinem Sitz hochschnellte, das Glas in der Hand. „Ich möchte Ihnen Oberst Cletus Grahame vorstellen, der soeben von der Erde eingetroffen ist, um im Stab von General Traynor seinen Dienst anzutreten – übrigens ein Experte in taktischen Fragen.“
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Oberst“, sagte Wefer Linet, während er Cletus’ Hand mit festem Griff schüttelte. „Denken Sie sich etwas für uns aus, etwas anderes, als Flußmündungen auszubaggern oder Kanäle zu reinigen, und meine Leute werden von Ihnen begeistert sein.“
„Ganz bestimmt“, erwiderte Cletus lächelnd. „Das verspreche ich Ihnen.“
„Gut so“, versetzte Wefer energisch.
„Haben Sie schon jene großen Unterwasser-Bulldozer bekommen?“ fragte Cletus. „Ich habe vor etwas sieben Monaten etwas im Allianz Streitkräfte Journal gelesen.“
„Den Mark V, oh ja.“ Linets Gesicht erhellte sich. „Wir haben sechs Geräte dieses Typs zur Verfügung. Möchten Sie demnächst mit einem dieser Bulldozer fahren? Es sind ganz hübsche Maschinen. Fledermaus Traynor wollte sie aus dem Wasser holen und sie bei der Urwaldrodung einsetzen. Es wäre besser als alles, was ihr Leute von der Armee fertigbringen könntet. Aber diese Geräte sind nicht fürs Festland bestimmt. Ich konnte von mir aus dem General keine Absage erteilen, aber ich habe auf unmittelbare Befehle von der Erde bestanden und Däumchen gedreht. Zum Glück wurde sein Ansinnen abgewiesen.“
„Ich werde auf Ihr Angebot zurückkommen“, sagte Cletus. Eachan war immer noch mit steinerner Konzentration damit beschäftigt, Melissa und Dow zu beobachten. Cletus schaute sich um und erblickte Mondar, der sich mit zwei Damen unterhielt, die wie Diplomatenfrauen aussahen.
Der Exot drehte sich um, als hätte er Cletus’ Blick gespürt, dann lächelte er und nickte ihm zu. Cletus erwiderte sein Nicken und wandte sich wieder an Wefer, der weitschweifig erklärte, wie seine Mark V funktionierten, und das bei Tiefen von mehr als tausend Fuß und unter den widrigsten von Strömung und Gezeiten verursachten Umständen.
„Wahrscheinlich werde ich während der nächsten Tage außerhalb der Stadt zu tun haben“, sagte Cletus. „Wenn ich aber wieder in der Stadt bin …“
„Rufen Sie mich an, wann immer Sie Zeit haben“, sagte Wefer. „Im Augenblick arbeiten wir im Haupthafen von Bakhalla. Ich kann Sie innerhalb von zehn Minuten in meine Kommandoeinheit einschleusen und vorher bei den Docks abholen, wenn Sie mich eine halbe Stunde vorher anrufen, um die notwendigen Vorkehrungen zu treffen … Hallo, mein exotischer Freund. Der Oberst wird in den nächsten Tagen auf einem Mark V mitfahren.“
Mondar war zu ihnen getreten, während Wefer seine Ausführungen fortsetzte.
„Gut“, sagte der Exote mit einem Lächeln. „Er wird es sicher interessant finden.“ Dann schaute er Cletus an. „Ich nehme an, Sie wollten deCastries sprechen. Für diesmal sind seine Besprechungen mit meinen Leuten zu Ende. Sie können jetzt mit ihm reden. Da steht er, auf der anderen Seite, bei Melissa.“
„Ja … ich weiß“, sagte Cletus. Er schaute sich nach Wefer und Eachan um. „Ich wollte gerade hinübergehen. Wenn mich die Herren entschuldigen wollen?“
Er verließ Wefer mit dem Versprechen, ihn bei der nächsten Gelegenheit anzurufen. Während er sich abwandte, bemerkte er, wie Mondar Eachan leicht am Arm berührte und ihn beiseite nahm.
Cletus humpelte zu Dow und Melissa hinüber, die immer noch beieinander standen. Als Cletus näher kam, wandten sich die beiden ihm zu, wobei Melissa plötzlich verärgert die Augenbrauen zusammenzog. Dow aber lächelte freundlich.
„Nun, Oberst“, sagte er, „wie ich hörte, hat man Ihnen auf dem Weg vom Raumhaften hierher einen heißen Empfang bereitet.“
„Wie es in Bakhalla wohl nicht anders zu erwarten war“, meinte Cletus.
Die beiden lachten unbekümmert, und die Falte zwischen Melissas Brauen verschwand.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie zu Dow. „Ich glaube, Vater möchte mir etwas mitteilen. Er hat mir soeben zugewinkt. Ich bin gleich zurück.“
Sie ging, und die Blicke der beiden Männer trafen sich.
„Also konnten Sie sich mit Ruhm bekleckern, indem Sie ganz allein eine ganze Guerilla-Bande erledigten“, sagte Dow.
„Nicht ganz. Da war noch Eachan mit seiner Pistole.“ Cletus beobachtete sein Gegenüber. „Melissa hätte um ein Haar daran glauben müssen.“
„Durchaus möglich“, meinte Dow, „und das wäre jammerschade gewesen.“
„Das glaube ich auch“, sagte Cletus. „Sie hat etwas Besseres verdient.“
„Die Leute bekommen stets, was sie verdienen“, versetzte deCastries. „Selbst die Melissas. Aber ich glaube nicht, daß sich ein Gelehrter mit Einzelpersonen befaßt.“
„Mit allem und jedem“, meinte Cletus.
„Ich verstehe“, sagte deCastries. „Mit Fingerfertigkeit ganz gewiß. Sie wissen ja, daß ich unter der mittleren Tasse schließlich doch einen Zuckerwürfel gefunden habe? Ich erwähnte es Melissa gegenüber und sie sagte mir, sie wüßte von Ihnen, daß unter jeder Tasse ein Zuckerwürfel lag.“
„Ich fürchte, das ist richtig“, erwiderte Cletus.
Die beiden Männer schauten sich an.
„Der Trick ist gut“, meinte deCastries. „Aber ich glaube nicht, daß er ein zweites Mal funktioniert.“
„Nein“, sagte Cletus. „Das nächste Mal muß man einen anderen Trick anwenden.“
DeCastries lächelte hinterhältig.
„Das hört sich nicht danach an, als würden Sie in einem Elfenbeinturm leben, Oberst“, sagte er. „Ich kann mir nicht helfen, ich habe das Gefühl, daß Sie eher zur Praxis als zur Theorie neigen. Ich glaube …“ – seine Augen blitzten amüsiert unter den dunklen Brauen – „… wenn es darauf ankommt, dann handeln Sie lieber statt zu beten.“
„Zweifellos“, gab Cletus zu. „Doch das Handicap für einen Gelehrten besteht darin, daß er auch Idealist sein muß. Und auf lange Sicht, wenn diese neuen Welten ihr Schicksal ohne jedwede Beeinflussung von der Erde bestimmen können, dürfte sich die Theorie vielleicht länger und segensreicher auswirken als die Praxis.“
„Das haben Sie bereits an Bord erwähnt“, sagte deCastries. „Sie sagten, daß weder die Allianz noch die Koalition eine Welt wie Kultis beeinflussen dürften. Wollen Sie das immer noch behaupten, wo Ihre Vorgesetzten von der Allianz hier überall herumschwirren?“
„Oh ja, warum auch nicht?“ erwiderte Cletus. „Niemand würde es bestreiten – außer vielleicht Sie.“
„Ich fürchte, das stimmt“, meinte deCastries. Er nahm ein Weinglas von dem Tischchen, neben dem er gerade stand, hielt es kurz gegen das Licht und drehte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann ließ er das Glas sinken und schaute Cletus wieder an. „Aber es würde mich interessieren zu hören, wie Sie sich die Sache vorstellen.“
„Ich habe vor, den Dingen etwas nachzuhelfen“, sagte Cletus.
„Wirklich?“ fragte deCastries. „Aber Sie haben nichts zu bieten, weder entsprechende Mittel noch Streitkräfte, noch politischen Einfluß. Ich zum Beispiel verfüge dagegen über all diese Dinge, was meine Position bedeutend stärkt. Wenn ich der Ansicht wäre, eine umfangreichere Veränderung sei durchführbar – selbstverständlich zu meinem Vorteil –, wäre ich durchaus daran interessiert, die Dinge zu ändern, die auf uns zukommen.“
„Nun“, sagte Cletus, „wir können es ja beide versuchen.“
„Ein faires Angebot.“ DeCastries hielt das Weinglas in der Hand und schaute über den Rand hinweg Cletus an. „Aber Sie haben mir immer noch nicht verraten, wie Sie sich das vorstellen. Ich habe Ihnen bereits meine Einsatzmöglichkeiten aufgezählt – Geld, Streitkräfte, politische Macht. Was können Sie dagegen setzen? Nichts als Theorien?“
„Manchmal genügen auch Theorien“, meinte Cletus.
DeCastries schüttelte bedächtig den Kopf. Er stellte das Weinglas wieder auf dem Tischchen ab und pustete leicht auf seine Fingerspitzen, die das Glas berührt hatten, als seien sie schmutzig geworden.
„Oberst“, sagte er ruhig, „entweder sind Sie eine neue Art Agent, den mir die Allianz an die Fersen heften will – was ich unverzüglich erfahre, sobald ich wieder Kontakt zur Erde habe –, oder Sie sind ein immerhin interessanter Narr. In diesem Fall werden die Ereignisse für sich sprechen, und das wird nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen als festzustellen, ob Sie nun ein Agent sind oder nicht.“
Er betrachtete Cletus für eine Weile, doch der Oberst hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Es tut mir leid sagen zu müssen“, fuhr deCastries fort, „daß Sie mir immer mehr wie ein Narr vorkommen. Eigentlich schade. Wären Sie ein Agent, könnte ich Ihnen einen besseren Posten anbieten als den, den Sie augenblicklich bei der Allianz bekleiden. Aber ich würde niemals einen Narren anheuern – er wäre für mich viel zu unberechenbar. Tut mir leid.“
„Was aber“, fragte Cletus, „wenn sich herausstellt, daß ich ein recht erfolgreicher Narr bin?“
„Dann liegt die Sache natürlich anders. Aber das ist wohl kaum zu erwarten. Und darum kann ich nichts weiter dazu sagen, als daß es mir leid tut. Ich habe gehofft, Sie würden mich nicht enttäuschen.“
„Mir scheint, ich habe ein besonderes Talent dazu, die Menschen zu enttäuschen“, meinte Cletus.
„Wie etwa damals, als Sie sich entschlossen hatten zu malen, statt auf die Akademie zu gehen, und sich dann schließlich doch für eine militärische Laufbahn entschieden?“ murmelte deCastries. „Auch ich habe meine Umgebung auf meine Weise enttäuscht. Ich habe eine Menge Onkel und Vettern in der Welt der Koalition – alles äußerst erfolgreiche Manager, Geschäftsleute, wie mein Vater einer war. Ich aber habe mich für die Politik entschieden …“ Er brach ab, weil in diesem Augenblick Melissa wieder zu ihnen stieß.
„Es war nichts … Oh, Cletus“, sagte sie, „Mondar läßt Ihnen ausrichten, daß er in seinem Arbeitszimmer ist, wenn Sie ihn sprechen wollen. Es befindet sich in einem anderen Gebäude hinter dem Haus.“
„Wie kann ich ihn finden?“ fragte Cletus.
Sie zeigte auf einen Bogengang am anderen Ende des Raumes. „Da hindurch, immer geradeaus und dann nach links“, sagte sie. „Am Ende des Korridors ist eine Tür, die zum Garten hinausführt. Die Arbeitsräume befinden sich in dem Gebäude direkt hinter diesem Garten.“
„Danke“, sagte Cletus.
Er fand den Korridor, von dem Melissa gesprochen hatte, und folgte ihm bis in den Garten, in einen kleinen, terrassenartig abgesetzten Raum, dessen Pfade zu einer Baumallee führten, wo die Baumwipfel sich in einem heißen, feuchten Wind bogen und in einen Himmel voller Mondlicht und Wolkenfetzen ragten. Doch da war kein Gebäude und kein Haus weit und breit.
Im gleichen Augenblick jedoch, als Cletus noch zögernd dastand, sah er ein paar Lichter, die über seinem Kopf durch die Bäume blinkten. Hinter dem schmalen Baumgürtel öffnete sich eine Art Hof vor einem niedrigen, garageähnlichen Gebäude mit tief herabgezogenem Dach, das so geschickt in die Landschaft eingepaßt war, daß man annehmen konnte, das Haus sei halb in den Boden versunken. Das Licht, das er soeben erblickt hatte, drang aus niedrigen Fenstern, hinter denen schwere Vorhänge hingen. Direkt vor ihm stand eine Tür. Und als er sich der Tür näherte, glitt sie geräuschlos auf. Er trat ein, und die Tür schloß sich hinter ihm. Instinktiv blieb er einen Augenblick stehen.
Er stand in einem Raum mit gedämpfter Beleuchtung, die aber ausreichte, um das Zimmer zu erhellen. Das Zimmer sah eher nach einer Bibliothek als nach einem Studio aus, obwohl gewissermaßen doch beides zutraf. Die Luft war merkwürdig dünn und trocken wie auf einem hohen Berggipfel. In den Regalen, die in alle vier Wände eingelassen waren, stand eine überraschende Anzahl von alten Drucken. Eine Art Schreibpult und eine Einrichtung, mit der man auch die höchsten Borde erreichen konnte, nahmen je eine Ecke des Raumes ein. Mondar, der einzige, der sich außer Cletus im Zimmer befand, saß weitab auf einem geräumigen Stuhl ohne Armlehnen, die Beine gekreuzt, wie ein Buddha in der Lotus-Position.
Sonst hatten weder der Augenblick noch der Ort etwas Besonderes an sich – doch als Cletus durch die Tür trat, war ihm, als stiege eine tiefe, warnende Stimme aus seinem Inneren auf, eine instinktive Warnung, sobald er die Schwelle überschritten hatte. Er spürte eine unfaßbare, lebendige Spannung, die in der Luft lag – eine massive, unsichtbare Kraft von besonderer Ausgewogenheit. Für einen Augenblick waren seine Sinne getrübt.
Dann war sein Geist wieder klar, und für einen flüchtigen, aber zeitlosen Augenblick erblickte er das, was im Raum vorhanden war – und das, was nicht vorhanden war.
Er sah gewissermaßen die gleiche Szene in zwei verschiedenen Versionen, die sich überlagerten und dennoch deutlich voneinander getrennt waren. Das eine Bild zeigte den Raum, wie er war, mit Mondar auf seinem Stuhl, einen ganz gewöhnlichen Raum mit ganz gewöhnlichen Dingen.
Das andere Bild zeigte zwar den gleichen Raum, doch hier war alles anders. Diesmal saß Mondar nicht auf seinem Stuhl, sondern schwebte in Lotusposition einige Zentimeter über dem Sitzkissen. Vor und hinter ihm standen in langer Reihe Bildnisse, die sich ständig wiederholten, halb durchsichtig, doch jedes deutlich erkennbar. Die Bilder in unmittelbarer Nähe vor und hinter ihm waren Duplikate seiner selbst, die Gestalten aber, die in einiger Entfernung von ihm standen, hatten andere Gesichter – Gesichter von exotischem Schnitt, aber von jeweils anderen Menschen, die in endloser Reihe vor und hinter ihm standen, so weit das Auge reichte.
Cletus wurde sich bewußt, daß da in Reih und Glied mit ihm auch seine eigenen Spiegelbilder standen. Er konnte die Gestalten sehen, die vor ihm standen, und irgendwie war er sich auch der anderen Gestalten hinter seinem Rücken bewußt. Vor ihm stand ein Cletus mit heilen Knien, doch der nächste und die beiden übernächsten waren irgendwie anders, vor allem größer. Doch da war ein Faden, der durch sie alle hindurchging und sie miteinander verband, ihre Lebensimpulse miteinander verknüpfte, der durch ihn hindurchging und ihn mit einem Mann verband, der hinter ihm stand und dem der linke Arm fehlte, weiter und weiter durch die Reihen, bis er bei einem kräftigen alten Mann endete, der einen Brustharnisch trug, auf einem weißen Roß saß und eine Art Marschallstab in der Hand hielt.
Aber das war noch nicht alles. Der Raum war erfüllt von lebhaften Kräften und Strömungen, die sich aus weiter Ferne kommend in diesem Punkt vereinten, wie Fäden goldenen Lichts hin und her liefen, alles miteinander verwoben und einige der Cletus-Bilder mit den Mondar-Bildern verbanden, ja sogar von Cletus selbst zu Mondar liefen. Sie beide, ihre Vorfahren und ihre Nachkommen hingen in diesem Netz aus Licht, gewoben in diesem Augenblick, da Cletus diese Doppelszene wahrnahm.
Dann wandte Mondar plötzlich seinen Blick Cletus zu, und der ganze Spuk war verschwunden. Nichts als der normale Raum blieb zurück.
Doch Mondars Augen funkelten Cletus an wie zwei Saphire, durchglüht von dem gleichen Licht, das in Farbe und Beschaffenheit jenen Fäden glich, die die Luft im Raum zwischen den beiden ausgefüllt zu haben schienen.
„Ja“, sagte Mondar. „Ich hab’s gewußt … fast vom ersten Augenblick an, als ich Sie im Speisesaal des Raumschiffes erblickt hatte. Ich wußte, daß Sie ein Potential besitzen. Hätte ich lediglich vorgehabt, Sie zu bekehren oder auf die übliche Art zu gewinnen, so hätte ich es von jenem Augenblick an versucht. Haben Sie mit Dow gesprochen?“
Cletus betrachtete das reglose Gesicht und die blauen Augen seines Gegenübers und nickte dann langsam.
„Mit Ihrer Hilfe“, sagte er. „War es wirklich notwenig, Melissa ebenfalls auszuschalten? DeCastries und ich hätten über Ihren Kopf hinweg miteinander reden können.“
„Ich wollte ihm alle nur möglichen Vorteile lassen“, sagte Mondar mit glühenden Augen. „Ich wollte jeden Zweifel bei Ihnen ausschalten, daß er Ihnen das höchstmögliche Angebot unterbreiten würde … Hat er Ihnen einen Posten angeboten?“
„Er sagte mir, dies sei unmöglich bei einem interessanten Narren“, versetzte Cletus, „woraus ich messerscharf schloß, daß er durchaus daran interessiert ist, einen solchen Narren zu kapern.“
„Natürlich ist er das“, meinte Mondar. „Aber er braucht Sie nur für das, was Sie für ihn leisten können. An Ihrer Zukunft ist er nicht interessiert, am wenigsten daran, was Sie aus sich machen könnten … Cletus, wissen Sie eigentlich, woraus wir Exoten uns herleiten?“
„Ja“, erwiderte Cletus. „Ich habe darüber nachgelesen, bevor ich um meine Versetzung nach hier bat. Die Gesellschaft für die Erforschung und Entwicklung der exotischen Wissenschaften … also meine Quellen besagen, daß sie sich aus einem Kult der Schwarzen Magie im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert entwickelt haben, die sich Kapellengilde nannte.“
„Richtig“, sagte Mondar. „Die Kapellengilde war die Hervorbringung eines Mannes namens Walter Blunt. Er war ein brillianter Mann, Cletus, doch wie die meisten Menschen seiner Zeit wehrte er sich gegen die Tatsache, daß seine Umgebung, die Welt, in der er lebte, die Fläche, der Raum sich plötzlich über alle denkbaren Welten im Umkreis von Lichtjahren im interstellaren Raum erstreckte. Wahrscheinlich kennen Sie die Geschichte dieser Zeit ebensogut wie ich – wie sich diese erste instinktive Raumangst außerhalb des Sonnensystems aufbaute und sich schließlich in einer Reihe von blutigen sozialen Eruptionen manifestierte. Damit war der Keim gelegt für Gesellschaftssysteme und Kulte aller Art, mit denen der Versuch unternommen wurde, sich psychisch dem Gefühl der Verletzbarkeit und Bedeutungslosigkeit anzupassen, das tief im Unterbewußtsein jedes einzelnen lag. Blunt war eine Kämpfernatur, ein Anarchist. Und seine Reaktion war die Revolution …“
„Die Revolution?“ fragte Cletus.
„Jawohl, Revolution – buchstäblich“, erwiderte Mondar. „Blunt wollte einen Teil der vorhandenen, objektiven physischen Realität zerstören – indem er primitive physische Mittel einsetzte. Er nannte seine Vorhaben eine ’kreative Vernichtung’. Er rief das Volk zur Zerstörung auf, doch er brachte es nicht fertig, selbst die impulsivsten Neurotiker seiner Zeit über den emotionellen Abgrund zu hieven. Und dann wurde er als Leiter der Gilde von einem jungen Bergbauingenieur abgelöst, der bei einem Grubenunglück einen Arm verloren hatte …“
„Welchen Arm?“ fragte Cletus scharf.
„Den linken – zumindest nehme ich an, daß es der linke Arm war“, meinte Mondar. „Warum?“
„Nichts weiter“, versetzte Cletus. „Fahren Sie fort.“
„Er hieß Paul Formain …“
„Vielleicht Fort-Mayne?“ unterbrach ihn Cletus erneut.
„Ohne t“ sagte Mondar. „F-o-r-m-a-i-n“, buchstabierte er und schaute Cletus fragend an. „Sind Sie an der Sache irgendwie persönlich interessiert, Cletus?“
„Nur, weil alles so schön zusammenpaßt“, erwiderte Cletus. „Sie sagen, er war einarmig, also muß der rechte Arm stark entwickelt gewesen sein, um den Verlust auszugleichen. Und sein Name erinnert doch in etwa an fort-mayne, ein Begriff, der die Methoden der Normannen beschreibt, die sie den unterjochten Engländern gegenüber anwandten, nachdem sie England im elften Jahrhundert erobert hatten. Fort-mayne – wörtlich ‚harte Hand’. Das heißt, daß den Eroberern jedes Mittel recht war, um die eingeborenen Engländer zu kontrollieren. Und Sie sagen, er hätte die Führung der Gilde übernommen, indem er diesen Blunt absetzte?“
„Ja“, meinte Mondar stirnrunzelnd. „Ich kann zwar die Zusammenhänge erkennen, aber ich weiß noch immer nicht, warum sie von Bedeutung sind.“
„Vielleicht sind sie es auch nicht“, gab Cletus zurück. „Also weiter. Formain übernahm die Kapellengilde und gründete Ihren Exotenbund?“
„Um ein Haar hätte er die Gilde auslöschen müssen“, fuhr Mondar fort. „Statt dessen machte er die Revolution zur Evolution. Zur Evolution des Menschen, Cletus.“
„Evolution“, wiederholte Cletus nachdenklich. „Meinen Sie nicht auch, daß die menschliche Rasse ihre Evolution bereits hinter sich hat? Und was kommt dann?“
„Das können wir freilich nicht wissen“, sagte Mondar und faltete die Hände im Schoß. „Kann sich ein Affe einen Menschen vorstellen? Aber wir sind davon überzeugt, daß der Samen einer weiteren Evolution im Menschen weiterlebt, auch wenn die Saat bisher noch nicht aufgegangen ist. Wir Exoten sind dazu bestimmt, nach diesen Keimen zu suchen und sie zu beschützen, sobald wir sie gefunden haben, damit sie wachsen und blühen können, bis der voll entwickelte Mensch Teil unserer Gemeinschaft geworden ist.“
„Tut mir leid“, sagte Cletus kopfschüttelnd. „Ich würde einen ziemlich armseligen Exoten abgeben, Mondar. Ich muß meine eigene Arbeit verrichten.“
„Dies ist aber ein Teil Ihrer Arbeit – und umgekehrt!“ Mondar beugte sich vor, und seine Hände glitten auseinander. „Unsere Mitglieder werden in keiner Weise beeinflußt. Jedes Mitglied kann auf seine Weise für die Zukunft forschen und arbeiten, wie er es für richtig hält. Wir verlangen lediglich, daß jeder seine Fähigkeiten der Gemeinschaft zur Verfügung stellt, sobald Not am Mann ist. Dafür bietet ihm die Gemeinschaft alle ihre Fähigkeiten, um ihn physisch und geistig zu fördern, damit sich seine Arbeit noch erfolgreicher gestaltet. Cletus, jetzt wissen Sie, was Sie tun können. Überlegen Sie, wozu Sie fähig wären, wenn Sie all jenes Wissen verwenden könnten, das wir Ihnen zur Verfügung stellen würden!“
Cletus schüttelte erneut den Kopf.
„Wenn Sie unser Angebot ablehnen“, fuhr Mondar fort, „so stehen die Zeichen für Sie auf Sturm. Das signalisiert den Wunsch Ihres Unterbewußtseins den Weg von deCastries einzuschlagen – sich von der Verlockung leiten zu lassen, Menschen und Situationen direkt zu manipulieren, statt sich mit Dingen zu befassen, die bedeutend wertvoller, dafür aber weniger anregend sind – nämlich die Auseinandersetzung mit Ideen, um Grundsätze zu finden, die die Menschen unserer Welten am Ende über jegliche Manipulationen, ganz gleich welcher Art, stellen.“
Cletus lachte, und sein Lachen klang etwas grimmig. „Sagen Sie“, meinte er, „trifft es zu, daß ihr Exoten weder Waffen tragt noch welche anwendet, auch nicht zum Zwecke der Selbstverteidigung? Ist das der Grund, warum Sie Söldner wie die Dorsai anwerben oder mit politischen Gruppen wie etwa der Allianz Verträge abschließen, um sich selbst zu verteidigen?“
„Schon, aber nicht unbedingt aus jenen Gründen, die die meisten Leute annehmen, Cletus“, sagte Mondar schnell. „Für den Kampf, den wir führen, haben wir keinerlei moralische Gründe. Es geht lediglich darum, daß die Emotionen, die dabei eine Rolle spielen, dem gesunden Menschenverstand widersprechen, so daß Leute meines Schlages es vorziehen, keine Waffen anzurühren. Doch das soll Ihre Leute keineswegs berühren. Wenn Sie an Ihrem Buch über militärische Taktik weiterschreiben oder sogar Waffen tragen möchten …“
„Ich glaube, wir reden aneinander vorbei“, meinte Cletus. „Eachan Khan hat mir etwas verraten. Erinnern Sie sich noch, als Sie heute in dem umgekippten Wagen saßen und er Ihnen nahelegte, sich nicht lebend von den Neuland-Guerillas gefangennehmen zu lassen – aus offensichtlichen Gründen? Sie erwiderten, daß Sie jeden Augenblick sterben könnten. ’Kein Mensch außer mir’, sagten Sie, ’kann über diesen Leib verfügen’.“
„Und Sie meinen, Selbstmord sei eine Art Gewaltakt …“
„Nein“, sagte Cletus. „Ich versuche Ihnen zu erklären, warum ich nie ein Exot werden kann. Bei all Ihrer Gefaßtheit und Gelassenheit, die Sie angesichts einer möglichen Folter und der Notwendigkeit, sich selbst zu töten, zeigten, waren Sie auf ganz besondere Art unbarmherzig, unbarmherzig gegen sich selbst – aber das ist nur die Kehrseite der Medaille. Ihr Exoten seid im wesentlichen gegen alle und jeden unbarmherzig, weil ihr Philosophen seid und Philosophen im großen und ganzen unbarmherzig sind.“
„Cletus!“ Mondar schüttelte den Kopf. „Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen?“
„Natürlich!“ sagte Cletus ruhig. „Und Sie wissen es ebensogut wie ich. Die unmittelbare Lehre eines Philosophen mag sanft sein, doch die Theorie, die hinter seiner Lehre steckt, kennt keine Gewissensbisse – und das ist der Grund, warum soviel Blut und Elend den Pfad der Nachfolger säumt, die angeblich diese Lehre befolgen. Die militanten Anhänger umstürzlerischer Propheten haben mehr Blut vergossen als irgendeine andere Gruppe in der Geschichte der Menschheit.“
„Kein Exot würde jemals Blut vergießen“, erwiderte Mondar sanft.
„Nicht unmittelbar“, versetzte Cletus. „Doch um jene Zukunft zu erbauen, von der sie träumen, sinnt er auf irgendwelche Mittel, um die Gegenwart auszulöschen, so wie wir Sie erleben. Sie können zwar behaupten, daß sich Ihr Ziel von der Revolution zur Evolution gewandelt hat, aber Ihr Vorhaben ist dennoch stets auf die Zerstörung des gegenwärtig Vorhandenen gerichtet, um für etwas anderes Raum zu schaffen. Sie arbeiten an der Zerstörung der Gegenwart – und dazu gehört eine Portion Unbarmherzigkeit, die mir nicht liegt und die ich nicht akzeptieren kann.“
Er hielt inne, Mondar jedoch schaute ihm eine Weile in die Augen.
„Cletus“, sagte Mondar schließlich, „können Sie Ihrer selbst so sicher sein?“
„Ja“, erwiderte Cletus, „ich fürchte, ich kann.“ Er wandte sich der Tür zu. Als er die Tür erreicht und die Hand auf die Klinke gelegt hatte, drehte er sich noch einmal um.
„Trotzdem vielen Dank, Mondar“, sagte er. „Vielleicht werden Sie und Ihre Exoten eines Tages meinen Weg einschlagen. Ich aber möchte nicht den Ihren gehen. Gute Nacht.“
Er öffnete die Tür.
„Cletus“, sagte Mondar hinter seinem Rücken, „wenn Sie jetzt unser Angebot ablehnen, dann tun Sie das auf eigene Gefahr. Bei dem, was Sie vorhaben, sind größere Kräfte am Werk als Sie ahnen.“
Cletus schüttelte den Kopf. „Gute Nacht“, wiederholte er und ging hinaus.
In der Halle stöberte er Arvid auf und sagte dem jungen Leutnant, daß sie aufbrechen würden. Als die beiden den Parkplatz erreichten und Cletus die Tür des Luftfahrzeugs öffnete, barst der Himmel über ihnen in einer gewaltigen Explosion von Blitz und Donner, und die Regentropfen prasselten hernieder wie Hagelkörner.
Die beiden sahen zu, daß sie ins Fahrzeug kamen. Der Regen war eiskalt, und die paar Sekunden, in denen sie dem Platzregen ausgesetzt waren, genügten, um sie bis auf die Haut naß werden zu lassen, so daß ihnen die Jacken an den Schultern klebten. Arvid startete den Wagen und lenkte ihn aus der Parklücke.
„Heute Abend ist die Hölle los“, murmelte er, während sie durch die Stadt fuhren. Dann starrte er Cletus, der neben ihm saß, verblüfft an.
„Warum habe ich das jetzt gesagt?“ fragte er. Aber Cletus gab ihm keine Antwort, und nach wenigen Sekunden wußte Arvid selbst die Antwort auf seine Frage.
„Egal“, sagte er vor sich hin. „Wie dem auch sei, es stimmt auffallend.“