17
Drei Tage später erschien Mondar wieder an Cletus’ Krankenlager.
„Nun, Cletus“, sagte er, indem er sich in dem Sessel neben dem Bett niederließ, „Seit ich Sie zuletzt gesehen habe, habe ich die meiste Zeit damit verbracht, Ihre Lage mit anderen Mitgliedern meiner Gruppe zu besprechen, die in gewissen Aspekten, welche Sie angedeutet haben, mehr Erfahrung haben als ich. Wir haben ein Verhaltensmuster ausgearbeitet, das jener Wunderheilung, die Sie anstreben, am nächsten kommt. Das Hauptproblem bestand darin zu entscheiden, was für Sie besser ist: Sie unverzüglich mit der Physiologie Ihres Knies und dem Wachstums- beziehungsweise Regenerationsprozeß des Gewebes vertraut zu machen oder Sie über diese Vorgänge so wenig wie möglich aufzuklären.“
„Und wie lautet die Entscheidung?“ fragte Cletus.
„Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß es besser ist, wenn Sie so wenig wie möglich darüber wissen“, sagte Mondar. „Der Reiz für eine im wesentlichen abnormale Körperreaktion wird vermutlich auf einer primitiven Stufe des Organismus ausgelöst – wobei dieser Organismus Sie sind.“
„Wollen Sie mir also vor Augen führen, was in mir vor sich geht?“
„Im Gegenteil“, erwiderte Mondar. „Sie müssen den Gedanken an einen Regenerationsprozeß aus allen symbolischen Bereichen so weit wie möglich verdrängen. Ihre Entschlossenheit, eine Regeneration zu erzielen, muß nach unten auf eine instinktive Stufe abgeleitet werden. Um das zu erreichen, brauchen Sie aber einige praktische Erfahrung. Wir haben also ein Übungsprogramm zusammengestellt, und ich werde Ihnen die erforderlichen Übungen beibringen, die Sie während der nächsten zwei Wochen durchführen müssen. Ich werde zu Ihnen kommen und täglich mit Ihnen arbeiten, bis Sie die Übungen auch ohne Hilfe absolvieren können. Dann werde ich Sie beobachten, bis ich den Eindruck habe, daß Sie in den betreffenden Bereichen über das notwendige Ausmaß an Kontrolle verfügen. Dann kommen wir wieder auf jene symbolische Operation zurück, wobei das genetische Muster Ihres rechten Knies in Form von einigen Gewebezellen des Fleisches und der Knochen auf jenen Bereich Ihres linken Knies übertragen wird, wo wir eine Regeneration wünschen.“
„Gut“, sagte Cletus. „Wann wollen Sie mit den Übungen beginnen?“
„Sofort, wenn es Ihnen recht ist“, erwiderte Mondar. „Wir wollen damit beginnen, daß wir Ihre Aufmerksamkeit von Ihrem Knie auf ein völlig fremdes Gebiet verlagern. Haben Sie irgendwelche Vorschläge in dieser Richtung?“
„Den besten im ganzen Universum“, gab Cletus zurück. „Ich hatte sowieso vor, mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich möchte zwei Millionen IWE leihen.“
Mondar starrte ihn einen Augenblick an, dann lächelte er. „Im Augenblick habe ich nicht so viel dabei“, meinte er. „Abgesehen davon sind hier draußen zwei Millionen in internationaler Währung eine Menge Geld, viel mehr als auf der Erde. Brauchen Sie es dringend?“
„Am besten vorgestern und allen Ernstes“, erwiderte Cletus.
„Ich möchte, daß Sie mit Ihren Exoten hier in Bakhalla darüber sprechen – und mit sonstwem, wenn nötig. Gehe ich richtig in der Annahme, daß mir Ihre Organisation das Geld leihen könnte, wenn sie den Grund für eine solches Darlehen akzeptiert?“
„Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen“, meinte Mondar gedehnt. „Immerhin müssen Sie zugeben, daß dieser Antrag zumindest ungewöhnlich ist, vor allem von Seiten eines ehemaligen Obersts der Streitkräfte der Allianz, der im wesentlichen mittellos und zu den Dorsai emigriert ist. Was wollen Sie mit einer solchen Summe anfangen?“
„Ich möchte eine ganz neue Art militärischer Einheit aufbauen“, erwiderte Cletus. „Neuartig, was Organisation, Ausbildung, Geräte und taktische Fähigkeiten angeht.“
„Natürlich unter Einsatz der Dorsai-Söldner?“ fragte Mondar, eine Frage, die sich eher wie eine Feststellung anhörte.
„Richtig“, antwortete Cletus. „Ich habe vor, eine Kampftruppe aufzustellen, die mindestens fünfmal so schlagkräftig ist wie jede vergleichbare militärische Einheit, die im Augenblick vorhanden ist. Eine solche Einheit würde in der Lage sein, nicht nur die Allianz, sondern auch die Koalition zu unterbieten, wenn es um den militärischen Nachschub für eine erdferne Kolonie wie etwa die unsere geht. Ich kann den Sold für die Mannschaft und die Offiziere erhöhen und trotzdem eine schlagkräftige Armee bereitstellen, preiswerter als die Dorsai-Söldner – aus dem einfachen Grund, weil ich weniger Leute für die gleiche Aufgabe benötige.“
„Und Sie meinen“, sagte Mondar nachdenklich, „daß eine solche Söldnertruppe ein Darlehen von zwei Millionen in absehbarer Zeit zurückzahlen könnte?“
„Das steht außer Zweifel“, sagte Cletus.
„Vielleicht haben Sie recht“, sagte Mondar, „vorausgesetzt, daß Ihre neuen Söldner wirklich das tun, was von ihnen verlangt wird. Doch wer kann das im voraus wissen? Ich fürchte, Cletus, daß unsere Organisation irgendwelche Sicherheiten verlangen wird, bevor sie Ihnen ein Darlehen in diesem Umfang gewährt.“
„Eine Sicherheit erübrigt sich oft“, sagte Cletus, „wenn der Antragsteller einen guten Ruf hat.“
„Wollen Sie damit sagen, daß Sie selbst bereit wären, unter solchen Umständen ein Darlehen in Höhe von zwei Millionen IWE zu gewähren?“ fragte Mondar erstaunt und zog die Brauen hoch.
„Ich meinte die militärische, nicht die finanzielle Reputation“, erklärte Cletus ruhig. „Ihre Exoten haben erst vor kurzem den Beweis für eine solche militärische Reputation geliefert bekommen. Eine Handvoll Dorsai-Söldner hat etwas fertiggebracht, was selbst einer weitaus besser ausgerüsteten und größeren Truppe der Allianz kaum gelungen wäre – nämlich Neuland als militärische Macht so gut wie zu zerstören und den lokalen Krieg für Ihre Kolonie zu gewinnen. Daraus läßt sich nur eines folgern – daß nämlich Ihre Kolonie nicht auf die Streitkräfte der Allianz angewiesen ist, weil sie sich allein mit Hilfe ihrer Dorsai-Söldner helfen kann. Stimmt das oder stimmt das nicht?“
„Das ist zweifellos ein gutes Argument“, sagte Mondar.
„Also ist die Sicherheit für das Darlehen“, versetzte Cletus, „die beste Sicherheit auf der Welt. Es ist die buchstäbliche Sicherheit für diese Kolonie, geleistet durch die Söldner der Dorsai bis zu dem Zeitpunkt, wo das Darlehen zurückgezahlt wird.“
„Was aber, wenn …“ meinte Mondar vorsichtig, „Ihre Dorsai ihr Versprechen nicht halten? Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, doch bei solchen Projekten ist es angezeigt, jede Möglichkeit zu überlegen. Wenn ich die Sache nicht zur Sprache bringe, so wird es gewiß ein anderer tun. Was geschieht, wenn wir Ihnen das Geld wirklich geben, Sie Ihre Truppen neu ausgebildet haben und dann weder das Darlehen zurückzahlen noch weiter die Sicherheit dieser Kolonie garantieren?“
„Sollte dieser Fall eintreten“, sagte Cletus und breitete die Hände auf der Bettdecke aus, „wer wollte uns dann noch haben? Jeder gute Kaufmann, der sein Handwerk versteht, baut auf zufriedene Kundschaft. Wenn wir Ihr Geld nehmen und dann die Vereinbarung nicht einhalten: Welche andere Kolonie wäre dann bereit, uns eine Chance zu geben?“
Mondar nickte. „Das ist ein stichhaltiges Argument“, sagte er. Dann saß er einen Moment wie abwesend da, als wollte er irgendeinen verborgenen Winkel seines Gehirns zu Rate ziehen.
Schließlich kehrte sein Blick zu Cletus zurück.
„Also gut“, sagte er. „Ich werde Ihren Antrag meinen Exoten vorlegen. Das ist aber auch alles, was ich tun kann. Es wird einige Zeit dauern, bis man sich die Sache überlegt hat, und ich möchte Ihnen keine großen Hoffnungen machen. Wie ich schon sagte, geht es um eine sehr hohe Summe, und eigentlich sehe ich keinen Anlaß, warum wir Ihnen dieses Darlehen gewähren sollten.“
„Ich schon“, meinte Cletus locker. „Wenn ich Sie und Ihre Exoten richtig einschätze, so sind sie daran interessiert, von irgendwelchen äußeren Verpflichtungen unabhängig zu sein – damit Sie Ihre Vorstellungen von der Zukunft frei entfalten können. Die militärische Hilfe der Allianz war für Sie zwar wertvoll, doch Sie waren aus diesem Grund von der Allianz abhängig. Wenn Sie sich Ihre Sicherheit ohne jede Verpflichtung durch Söldner erkaufen können, hätten Sie jene Freiheit des Handelns, die Sie notwendig brauchen. Ein Darlehen von zwei Millionen ist ein kleines Risiko angesichts der Möglichkeit, die Freiheit zu erringen.“
Er schaute Mondar bedeutungsvoll an. Der Exote schüttelte den Kopf, und in seinem Gesichtsausdruck war ein Hauch von Verwunderung.
„Cletus, Cletus“, sagte er, „welch ein Jammer, daß Sie kein Exote sind!“ Er seufzte und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Also gut, ich werde Ihren Darlehensantrag weiterreichen. Jetzt ist es aber Zeit, daß wir mit Ihren Übungen beginnen. Legen Sie sich hin und versuchen Sie, jenes schwebende Gefühl zu erreichen, das Sie mir beschrieben haben. Wie Sie wissen, wird ein solcher Zustand als Regression bezeichnet. Ich werde mich jetzt in den gleichen Zustand versetzen. Wenn Sie soweit sind, treffen wir uns an jenem isolierten Punkt des Lebens, bei jener einzigen Spermazelle, bei jenem Kern, wo Ihr Bewußtsein eingesetzt hat. Sie müssen jetzt versuchen, zu diesem frühen und primitiven Bewußtseinszustand zurückzukehren.“
Drei Wochen später, gut erholt und die Knie in Gehgips, humpelte Cletus an Arvids Seite auf Krücken gestützt durch den Busbahnhof von Bakhalla auf den Luftbus zu, der sie zu jenem Landeplatz der Raumfähren bringen sollte, wo Cletus vor Monaten zum erstenmal auf Kultis gelandet war. Der Zubringerbus mußte wegen Straßenbauarbeiten eingesetzt werden, die jetzt durchgeführt wurden, nachdem die Guerillas ihre Aktivität eingestellt hatten.
Als sie die Bahnhofshalle durchquerten, trat ihnen ein Offizier der Allianz in den Weg. Es war Oberleutnant Bill Athyer – offensichtlich angetrunken. Zwar war er nicht so betrunken, daß er gestottert oder geschwankt hätte, aber er hatte genug getankt, um ihnen den Weg mit einem boshaften Leuchten in den Augen zu versperren. Arvid trat einen kleinen Schritt vor und machte den Mund auf, doch Cletus hielt den jungen Mann zurück, indem er ihm die Hand schwer auf den Arm legte.
„Ab zu den Dorsai, nicht war, Oberst?“ sagte Athyer, Arvid ignorierend. „Jetzt, wo hier alles hübsch in Butter ist, machen Sie sich aus dem Staub?“
Cletus stützte sich auf seine Krücken. Er beugte sich vornüber, mußte aber dennoch hinunterschauen, um in Athyers blutunterlaufene Augen zu blicken.
„Das hab’ ich mir gedacht“, sagte Athyer und lachte. „Nun, Sir, ich möchte es nicht versäumen, Ihnen vor Ihrer Abreise zu danken. Man hätte mich vor einen Untersuchungsausschuß geladen, Sir, wenn Sie nicht gewesen wären. Vielen Dank, Sir.“
„Ist schon gut, Oberleutnant“, sagte Cletus.
„Alles in bester Ordnung, nicht wahr?“ meinte Athyer. „Ich sitze da in meiner Bibliothek wie in Abrahams Schoß, anstatt eine Rüge einstecken und vielleicht auf die nächste Beförderung verzichten zu müssen. Es besteht keine Gefahr mehr, ins Feld geschickt zu werden, wo ich erneut versagen könnte – oder jedenfalls nicht so smart sein könnte wie Sie am Etterpaß, Sir, nicht wahr?“
„Oberleutnant …“ begann Arvid in drohendem Ton.
„Nein“, sagte Cletus, immer noch auf seine Krücken gestützt, „lassen Sie ihn reden.“
„Vielen Dank, Oberst. Herzlichen Dank, Sir … Ich verfluche Sie, Oberst …“ Athyers Stimme klang plötzlich gebrochen und rauh. „Hat Ihnen Ihr kostbares Ansehen so viel bedeutet, daß Sie mich lebendig begraben mußten? Zumindest hätten Sie mich in Frieden lassen können, um mit meinem Kram recht und schlecht fertig zu werden, ohne diese Mildtätigkeitstour zu reiten! Wissen Sie denn nicht, daß ich jetzt im Felde keine Chance mehr habe? Wissen Sie denn nicht, daß ich jetzt ein Gezeichneter bin? Was soll ich jetzt anfangen, für den Rest meiner militärischen Laufbahn in einer Bibliothek unter lauter Büchern vergraben?“
„Versuchen Sie, die Bücher zu lesen!“ Cletus machte keine Anstalten, seine Stimme zu dämpfen. Er wandte sich direkt an die Leute, die mittlerweile stehengeblieben waren und neugierig lauschten, und zum erstenmal in seinem Leben war er hart und unbarmherzig. „Vielleicht werden Sie auf diese Weise lernen, wie man seine Truppe im Kampf führt … Los, Arv, gehen wir.“
Er schwang seine Krücken und machte einen Bogen um Athyer. Arvid folgte ihm. Als sich die Menge hinter ihnen schloß, hörte er, wie ihm Athyers rauhe Stimme nachrief: „Na schön, ich werde lesen!“ erscholl es hinter ihrem Rücken. „Und ich werde so lange weiterlesen, bis ich eines Tages Ihnen die Leviten lesen kann – Oberst!“