10
Am Himmel von Bakhalla gingen allmählich die Sterne auf, als Cletus und Melissa im Marinehafen eintrafen und von einem Mitglied aus Wefer Linets Stab empfangen wurden. Ihr Begleiter führte sie an die Rampe, wo eines der massiven, schwarzen, zweistöckigen Boote des Typs Mark V über den goldenen Wellen des Hafens von Bakhalle schaukelte. Cletus hatte Wefer sofort angerufen, nachdem er sich von Eachan und Melissa getrennt hatte, um Vorsorge für den nächtlichen Ausflug zu treffen.
Wefer war begeistert. Die Marinevorschriften, wie er Cletus wissen ließ, verboten zwar strikt die Anwesenheit einer Zivilperson wie Melissa an Bord eines Kriegsschiffes wie der Mark V. Was ihn betraf, so machte er sich darüber jedoch keine Gedanken. Nach Cletus’ Anruf trug er ins Logbuch lediglich die Bezeichnungen „Dorsai“ und „Khan“ ein – und die Eintragung hätte nicht besser passen können als auf diesen Söldnerführer, der offensichtlich kein Zivilist war. Also erwartete er um 19.00 Uhr Oberst Grahame und Oberst Khan an Bord der Mark V.
Er wartete also gespannt auf das Eintreffen seiner Gäste. Gleichzeitig schien aber der kleine Scherz, den er sich geleistet hatte, indem er die Marinevorschriften geschickt umging, auch auf Offiziere und Mannschaft übergegriffen zu haben. Der Leutnant, der Cletus und Melissa an der Reling erwartete, redete die junge Dame mit „Oberst“ an, und kaum waren sie an Bord der Mark V, hatten auch die drei anderen Matrosen Gelegenheit, mit breitem Grinsen den gleichen Scherz zu machen.
Doch gerade dieser harmlose Scherz war dazu angetan, bei Melissa das Eis zu brechen. Als sie zum viertenmal mit „Oberst“ angeredet wurde, mußte sie herzlich lachen – und von diesem Augenblick an begann sie der Ausflug aufrichtig zu interessieren.
„Haben Sie irgendeinen besonderen Wunsch, wo Sie hinfahren möchten?“ fragte Wefer, als sich die Mark V in Bewegung setzte und langsam über die Rampe in die Bucht glitt.
„Fahren wir flußaufwärts“, sagte Cletus.
„Flußaufwärts also, Leutnant.“
„Aye, Sir“, sagte der Leutnant, der sie an der Reling empfangen hatte. „Alle Tanks vorn und achtern abgleichen!“ Er stand am Ruder, etwas weiter links von Wefer, Cletus und Melissa, unmittelbar vor dem großen, gebogenen, halbrunden Schirm, der sich vor und über ihnen wölbte und durch den man hindurchsehen konnte, als sei er aus Glas, um dann im trüben Wasser die Umrisse von Schiffsböden und sonstigen festen Gegenständen unter der Wasseroberfläche des Hafens zu erblicken.
Überall um sie herum war ein leises Zischen und Rumpeln. Die Schwingungen und das Geräusch der schweren Laufräder auf der Rampe verstummten plötzlich, und die Wasserlinie auf dem Schirm glitt bis zur Horizontmarke hinauf, während das schwere Fahrzeug seinen Ballast ausbalancierte, das Wasser, wo nötig, durch Druckluft ersetzte und umgekehrt, bis schließlich das Boot jene Wassermenge verdrängt hatte, die seinem Gewicht auf dem Trockenen entsprach, und leicht wie ein Blatt im Wind auf den schlammigen Boden des Hafenbeckens sechzig Fuß tief hinabschwebte.
„Alle Kraft voraus, Kurs dreißig Grad waagerecht“, befahl der Leutnant. Damit begann die Unterwasserfahrt von Bakhalla stromaufwärts.
„Wie sie bemerkt haben“, erläuterte Wefer im Ton eines stolzen Vaters, der die Begabung seines ersten Stammhalters ins rechte Licht rückt, „hat das Fahrgestell hier keinen Kontakt mit dem Boden. Unter uns liegen mindestens zehn Fuß lockerer Schlamm und Schlick, erst dann kommt fester Grund, über den die Mark V rollen kann. Natürlich könnten wir hinabtauchen und den Boden berühren, wenn wir es wünschten. Aber warum eigentlich? Wir kommen im Wasser ebensogut voran und sind bedeutend beweglicher, wenn wir unser Fahrgestell als eine Art Ruder benutzen … Schauen Sie her …“
Er zeigte auf den Bildschirm. Etwa zweihundert Meter voraus fiel der Boden plötzlich ab. Es entstand eine Lücke von mindestens fünfzig Meter, bevor der Boden wieder sichtbar wurde.
„Das hier ist der Hauptkanal – die direkte Zufahrt zum Meer“, sagte Wefer. „Sie wird täglich gereinigt – nicht weil hier Schiffe verkehren würden, deren Tiefgang eine Wassertiefe von etwa einhundertundzehn Fuß erfordert, sondern weil dadurch ein Kanal für die Strömung geschaffen wird, der den Hafen vor dem Verschlammen bewahrt. Ein Großteil unserer Aufgabe besteht darin, die vorhandenen Strömungsbilder des Wassers zu erforschen und zu nutzen. Indem wir diesen Kanal sauberhalten, sparen wir uns die Hälfte der Entschlammungsarbeiten. Nicht daß wir dies nötig hätten, aber bei der Marine ist es nun einmal Brauch, dafür zu sorgen, daß alles möglichst sauber und wirkungsvoll verläuft.“
„Soll das heißen, daß Sie genügend Einheiten vom Typ Mark V zur Verfügung haben, um den Hafen sauberzuhalten, selbst wenn der Kanal nicht vorhanden wäre?“
Wefer schnaufte gut gelaunt. „Durchaus …“ gab er zurück. „Sie haben keine Ahnung, zu welchen Dingen eine solche Mark V fähig ist! Ich könnte mit dieser Maschine allein den Hafen sauberhalten, selbst wenn der Strömungskanal nicht vorhanden wäre! – Ich möchte Ihnen das Boot einmal zeigen.“
Er führte Cletus und Melissa durch das Boot, von der Taucher-Fluchtkammer im massiven Fahrgestell bis hinauf zum Geschützturm, von wo aus die Mark V ihre beiden schweren Energiegeschütze oder den Unterwasser-Laser abfeuern konnte.
„Jetzt wissen Sie auch, warum Traynor diese Mark V für den Dschungeleinsatz haben wollte“, schloß Wefer, als sie ihre Tour beendet hatten und wieder im Kontrollraum vor dem halbrunden Bildschirm standen. „Dieses Fahrzeug verfügt zwar nicht über die Feuerkraft, die Urwaldpanzer der Armee besitzen, doch in fast jeder anderen Hinsicht, von der Geschwindigkeit an Land einmal abgesehen, ist sie jedem anderen Fahrzeug dieser Art beispielslos überlegen …“
„Sir“, unterbrach ihn der Leutnant, der hinter ihm stand. „Ein Schiff mit großem Tiefgang nähert sich auf dem Kanal. Wir müssen tauchen und uns auf unsere Räder setzen.“
„In Ordnung. Tun Sie, was Sie für richtig halten, Leutnant“, erwiderte Wefer. Er wandte sich dem Bildschirm zu und zeigte auf das V-förmige Objekt, das die Flußoberfläche in etwa zweihundert Metern Entfernung vor ihnen durchpflügte. „Melissa, Cletus …
Sehen Sie das? Das ist ein Schiff mit einem Tiefgang von neun oder zehn Fuß. Der Kanal ist knapp fünfzig Fuß tief, also müssen wir bis zum Boden tauchen, um sicherzugehen, daß dieses Schiff in einigen Faden Abstand an uns vorbeischwimmt.“
Er warf noch einmal einen Blick auf dieses V-förmige Etwas, das auf dem Bildschirm immer größer wurde, dann lachte er. „Dacht’ ich’s mir doch!“ sagte er. „Es ist eines der Flußpatrouillenboote, Cletus. Wollen Sie’s mal von oben sehen?“
„Vielleicht mit einem Schwimmersensor?“ fragte Cletus ruhig.
Wefers Kinnlade fiel herunter. „Woher wissen Sie das?“ fragte er und starrte Cletus an.
„Da war vor knapp zwei Jahren ein Artikel im Marine Journal“, erwiderte Cletus. „Das ist jene Art von Gerät, das jeder einigermaßen vernünftige Seemann an Bord haben möchte.“
Wefer schaute ihn immer noch fast anklagend an. „Wirklich?“ fragte er. „Was wissen Sie sonst noch über die Mark V, wovon ich nichts weiß?“
„Ich meine, daß Sie mit etwas Glück in der Lage sind, eine Bootsladung Neuländer-Saboteure nebst Nachschub zu kapern, die für Bakhalla bestimmt ist, wenn Sie sich nur ein bißchen bemühen. Haben Sie eine Flußkarte?“
„Eine Karte?“ Wefers Gesicht leuchtete auf. Er lehnte sich vor und drückte ein paar Knöpfe unter dem Bildschirm. Das Bild auf dem Schirm erlosch. Dafür erschien eine Karte, die das Flußbett und seine Nebenarme von der Hafenmündung bei Bakhalla bis etwa dreißig Meilen flußaufwärts zeigte. Ein roter Fleck, eine Draufsicht der Mark V, der das Boot darstellen sollte, bewegte sich langsam den Fluß hinauf. „Was für Guerillas? Und wo?“
„Etwa sechs Kilometer flußaufwärts von hier“, erwiderte Cletus. Er streckte die Hand aus und wies mit dem Zeigefinger auf einen Punkt vor dem sich bewegenden roten Fleck der Mark V, wo ein Nebenarm, fast so groß wie der Hauptfluß, in diesen einmündete. Oberhalb dieser Stelle teilte sich der Nebenarm in zahlreiche kleine Ströme auf, dann kam weiter nichts als Marschland.
„Wie Sie wissen, ist die Tide heute ungewöhnlich hoch“, sagte Cletus. „Also führt der Fluß ab dieser Stelle Hochwasser, so daß der Pegel hier im Hauptkanal etwa acht Fuß höher liegt als sonst. Diese Wassertiefe reicht aus, um zu ermöglichen, daß ein kleiner Schlepper den Hafen von Bakhalla erreicht, mit Vorräten, ja sogar Leuten auf einem Unterwasserfahrzeug im Schlepptau. Natürlich ist dies nur eine Vermutung meinerseits, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Guerillas eine solche Gelegenheit auslassen würden, um ihre Leute in der Stadt mit Nachschub und Verstärkung zu versorgen.“
Wefer starrte auf die Karte und klopfte sich vergnügt auf die Schenkel. „Sie haben recht!“ brach es aus ihm hervor. „Leutnant, nehmen Sie Kurs auf die Stelle, die uns Oberst Grahame soeben gezeigt hat. Drosseln sie alle Geräusche und lassen Sie den Geschützturm klarmachen.“
„Aye, Sir“, erwiderte der Leutnant.
Sie erreichten die Stelle zwischen Nebenarm und Hauptbett, die Cletus bezeichnet hatte. Die Mark V kroch aus dem Kanal und glitt in das ziemlich seichte Wasser in Ufernähe gegenüber der Nebenflußmündung. Hier machten sie halt, wobei der Geschützturm kaum fünf Fuß unter der Wasseroberfläche lag. Der Schwimmsensor am Oberteil des Rumpfes wurde ausgeklinkt und tauchte über der Wasserfläche auf – ein kleiner, schwimmfähiger, rechteckiger Kasten mit einem dünnen Metallfühler, der etwa einen Meter herausragte. Das Gerät war durch einen dünnen Draht mit der Kommunikationsanlage der Mark V verbunden. Dieser Fühler hatte die Aufgabe, die Gegend nur mit Hilfe des vorhandenen Lichts abzutasten, doch seine Leistung war beachtlich. Das Bild, das auf dem halbrunden Bildschirm auf der Brücke der Mark V erschien, war fast so klar wie bei Tageslicht, obwohl die Flußmündung nur von schwachem Mondlicht erleuchtet wurde.
„Kein Schiff in Sicht“, murmelte Wefer, während er das Bild auf dem Schirm justierte, um den ganzen Bereich von 180 Grad hereinzubekommen, den der Fühler abtastete. „Ich glaube, wir können nichts weiter tun, als hier Posten zu beziehen und auf sie zu warten.“
„Sie könnten inzwischen ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen“, schlug Cletus vor.
Wefer schaute ihn von der Seite an. „Welche Art Maßnahmen?“
„Damit sie nicht flußabwärts fahren können, sofern es ihnen gelingen sollte, sich an uns vorbeizuschleichen“, sagte Cletus. „Gibt es etwas, was Sie davon abhält, den Kanal flußabwärts zu barrikadieren, sobald sie kommen, so daß sie genau unter uns auf Grund laufen müssen?“
Wefer schaute ihn erstaunt an, doch dann wich sein Erstaunen einer plötzlichen Heiterkeit. „Natürlich!“ rief er aus. „Leutnant, Kurs flußabwärts!“
Die Mark V rumpelte etwa hundert Meter flußabwärts. Die massiven Schaufeln am Bug wurden ausgefahren, und das Boot begann in großen Mengen Sand und Schlick in den Hauptkanal hineinzuschaufeln. Eine Viertelstunde später war der Kanal fast vollständig blockiert. Wefer neigte dazu, an diesem Punkt anzuhalten, doch Cletus schlug vor, einen Wall in Form einer breiten, abschüssigen Rampe aufzubauen, die allmählich etwa sechs Fuß hoch unter der Oberfläche emporragte. Dann, ebenfalls auf Cletus’ Vorschlag hin, machte die Mark V kehrt und schwamm in den Seitenarm zu einer Stelle, die etwa fünfzig Meter hinter jenem Punkt lag, wo der Seitenkanal in den Hauptfluß einmündete.
Hier war das Wasser so seicht, daß der Geschützturm der Mark V über die Oberfläche hinausragte. Doch der Bulldozerteil des Bootes brauchte nur wenige Minuten, um eine flache Mulde zu schaffen, in der das Boot unter Wasser in Wartestellung gehen konnte.
Und dann warteten sie. Es dauerte drei Stunden – fast bis Mitternacht –, bevor der Sensor, der über dem Wasser schwebte, im das Ufer des Nebenarms säumenden Laubwerk das Bild eines Schleppers vermittelte, der über den Nebenarm herabtuckerte, bei einer Geschwindigkeit, die gerade ausreichte, um eine Last unter Wasser hinter sich herzuschleppen.
Sie hielten den Atem an und warteten, bis der Schlepper vorübergezogen war. Dann sprang Wefer auf und rannte zum Maschinentelegraf, an dem er vor Stunden seinen Leutnant abgelöst hatte.
„Warten Sie“, sagte Cletus.
Wefer zögerte, indem er Cletus anblickte. „Warten?“ sagte er. „Worauf denn?“
„Sie wissen, daß dieser Schleppzug die Barriere nicht passieren kann, die Sie flußabwärts aufgebaut haben“, erwiderte Cletus. „Warum also sollten wir hier nicht eine Weile warten und zusehen, ob vielleicht ein zweites Boot daherkommt?“
Wefer zögerte immer noch, dann entfernte er sich vom Maschinentelegrafen. „Meinen Sie wirklich, daß hier noch ein weiteres Boot vorbeikommen könnte?“ fragte er nachdenklich.
„Es würde mich nicht sonderlich überraschen“, sagte Cletus freundlich.
Kaum hatte er dies gesagt, meldete auch schon der Sensor einen weiteren Schleppzug, der auf sie zukam. Und kaum war dieser Zug im Hauptfluß angelangt, als ein weiterer Zug auftauchte. Und während Wefer noch mit unglaublichem Staunen und Entzücken auf den großen Bildschirm starrte, zogen nacheinander zwanzig Schleppzüge nur knapp dreißig Yards an der untergetauchten Mark V vorbei.
Nachdem sie einige Minuten den vorbeiziehenden Booten zugeschaut hatten, meinte Cletus, daß es jetzt an der Zeit sei, einmal nachzusehen, was sich weiter flußabwärts tat. Wefer setzte die Mark V in Bewegung. Das Boot löste sich aus seiner seichten Mulde, tauchte wieder bis dicht unter die Oberfläche auf und schwamm flußabwärts.
Sie erreichten den Mittelkanal des Hauptstromes und fuhren bergab. Das Licht ihrer Infrarotscheinwerfer sowie der Sensor, der über ihnen schwebte, enthüllten ein chaotisches Bild dicht vor ihren Augen. Von den zwanzig Zügen, die an ihnen vorbeigeschwommen waren, saß mindestens die Hälfte im Flußbett vor jener Rampe fest, die die Mark V errichtet hatte. Die anderen aber, die noch bewegungsfähig waren, versuchten verzweifelt, ihre gestrandeten Lastkähne, die hilflos an der Wasserfläche dümpelten, wieder freizuschleppen.
Wefer befahl, die Mark V anzuhalten, und starrte mit gemischten Gefühlen auf den Bildschirm.
„Was nun?“ sagte er zu Cletus. „Wenn ich sie hier angreife, werden die Boote, die dazu noch in der Lage sind, umkehren, flußaufwärts fahren und uns entwischen. Natürlich steht mir der Geschützturm zur Verfügung. Dennoch könnten es einige Boote schaffen, an uns vorbeizuziehen und zu entkommen.“
„Es ist nur ein Vorschlag“, meinte Cletus. „Könnte die Mark V nicht ein paar Wellen produzieren?“
Wefer starrte ihn an. „Wellen?“ sagte er – und dann, plötzlich ganz fröhlich: „Wellen! Das ist es!“ Er brüllte ein paar Kommandos ins Bordtelefon. Die Mark V fuhr etwa hundert Meter im Kanal zurück und stoppte. Die beiden Baggerflügel, die eingezogen worden waren, um den Widerstand während der Fahrt zu verringern, wurden ausgefahren und entfalteten sich in ihrer vollen Größe von zehn mal zwanzig Metern. Wefer hob den Bug der Mark V vorsichtig an, bis die obere Hälfte der Baggerflügel durch die Wasseroberfläche drang und das Laufwerk frei im Wasser schwebte. Dann stellte er die Maschinen auf volle Kraft voraus.
Die Mark V rauschte den Fluß entlang, wobei sie das Wasser aufwühlte, steuerte gegen und sank auf den Boden des Kanals, keine fünfzig Meter von den immer noch schwimmenden Zugbooten entfernt. Einen Augenblick lang verdeckte eine Riesenwelle die Sicht nach vorn, dann legte sie sich allmählich, während sich die Wasseroberfläche vor dem Kiel kräuselte.
Die Folge dieses Manövers war ein unbeschreibliches Durcheinander.
Einige Boote, die bereits auf Grund gelaufen waren, wurden von den Wellen überspült, die die Mark V erzeugt hatte, andere wiederum bekamen Schlagseite oder kenterten. Doch die größte Wirkung zeigte sich bei jenen Schleppern, die noch Wasser unter dem Kiel hatten und versuchten, die aufgelaufenen Boote wieder flottzumachen.
Alle diese Boote waren ebenfalls auf Grund gelaufen, oft wurden sie regelrecht in den weichen Boden des Flußbetts gerammt. Eines der Boote ragte, den Bug sechs Fuß tief in Sand und Schlamm gebohrt, mit dem Heck nach oben.
„Ich glaube, die sind jetzt reif“, sagte Cletus zu Wefer.
Was endgültig zur Demoralisierung der Guerillas an Bord der Schlepper beitrug, war der Anblick der dunklen Umrisse der Mark V, die aus den Tiefen des Flusses auftauchte, während ihre zwei schweren Geschütze im Turm hin und her schwangen. Fast alle, denen es gelungen war, auf ihre havarierten Boote zu klettern, sprangen ins Wasser und versuchten verzweifelt, das Ufer schwimmend zu erreichen.
„Geschützturm …“ setzte Wefer erregt an, doch Cletus legte die Hand auf das Sprechgerät.
„Lassen Sie sie laufen“, sagte er. „Die Leute, auf die es ankommt, sitzen immer noch in den Booten fest. Sehen wir zu, daß wir sie kriegen, bevor sie sich von ihrem Schrecken erholt haben und einen Ausbruch wagen.“
Es war ein guter Rat. Die Neuländer, die in ihren Booten eingeschlossen waren und durch die Schaukelei vorübergehend die Nerven verloren hatten, begannen jetzt, sich zu besinnen. Zwar waren sie immer noch mit ihren Lastkähnen vertäut, die hilflos an der Oberfläche dümpelten, doch überall schienen die Decks zu bersten, als die Luken nacheinander aufgingen und die Besatzung ihre Notausgänge sprengte. Wefer lenkte die Mark V mitten in das Chaos und schickte seinen Offizier mit drei Matrosen durch die Deckluke nach oben, um die Neuländer mit Handfeuerwaffen in Schach zu halten, sobald sie an Deck auftauchten. Man befahl ihnen, zur Mark V zu schwimmen, wo man sie dann durchsuchte, ihnen Handschellen anlegte und sie durch die Luke unter Deck führte, wo sie in den vorderen Lagerraum des Bootes gesperrt wurden. Cletus und Melissa hielten sich diskret außer Sichtweite.
Den Lagerraum mit Gefangenen vollgepfropft und die Versorgungsschiffe im Schlepptau, kehrte die Mark V zu ihrer Basis im Hafen von Bakhalla zurück. Nachdem sie ihre Gefangenen und ihr Material abgeliefert hatten, begaben sich Cletus, Melissa und Wefer zu jenem späten Abendessen, das sie sich vorgenommen hatten und das sich jetzt schon fast als ein sehr zeitiges Frühstück entpuppte. Es war fast vier Uhr morgens, als Cletus eine erschöpfte, aber glückliche Melissa in der Wohnung ihres Vaters ablieferte. Je mehr sie sich aber dem Haus näherten, desto stiller und schweigsamer wurde Melissa. Und als sie vor dem Haus angelangt waren, das die Exoten Melissa und Eachan zur Verfügung gestellt hatten, machte sie keine Anstalten, aus dem Wagen zu steigen.
„Wissen Sie“, sagte sie, an Cletus gewandt, „Sie sind schon ein bemerkenswerter junger Mann. Zuerst diese Guerillas auf unserem Weg nach Bakhalla, dann jene, die Sie am Etter-Paß erwischt haben, und jetzt dies.“
„Danke“, sagte er. „Aber ich habe nichts weiter getan, als die optimale Lage im Hinblick auf deCastries einzuschätzen und dann zur Stelle zu sein, wenn sich meine Vorhersagen als richtig erweisen sollten.“
„Warum sprechen Sie von Dow, als hätte er persönlich ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen?“
„Weil es so ist“, sagte Cletus.
„Der Koalitionsminister für außerirdische Angelegenheiten und ein namenloser Oberst des Expeditionscorps der Allianz? Ist das wirklich vernünftig?“
„Warum eigentlich nicht?“ meinte Cletus. „Er hat bedeutend mehr zu verlieren als ein namenloser kleiner Oberst der Allianz.“
„Aber das bilden Sie sich doch nur ein!“
„Nein“, erwiderte Cletus. „Erinnern Sie sich, wie ich ihn damals im Speisesaal an Bord des Raumschiffes mit den Zuckerwürfeln irregeführt habe? Der Minister der Koalition kann es nicht verwinden, daß ihn ein namenloser Oberst der Allianz an der Nase herumgeführt hat – ein kleiner Oberst, wie Sie mich zu bezeichnen belieben. Keiner außer Ihnen weiß – und auch nur deshalb, weil ich es Ihnen gesagt habe –, daß er einen Fehler gemacht hat. Alsdann …“
„War das der Grund dafür, daß sie mir alles erzählt haben?“ warf Melissa rasch ein. „Nur, damit ich es an Dow weitergeben soll?“
„Teils, teils“, sagte Cletus. Er hörte, wie sie in der Dunkelheit tief Atem holte. „Aber eben nur so. Es ist nämlich wirklich gleichgültig, ob Sie es ihm hinterbracht haben oder nicht. Es ging ihm einfach gegen den Strich, einen wie mich frei herumlaufen lassen, einen, bei dem stets die Möglichkeit besteht, ihn zu überrunden.“
„Ach so!“ Melissas Stimme bebte vor Zorn und Empörung. „Und deswegen machen Sie so ein Theater. Sie haben nicht den Schimmer eines Beweises!“
„Vielleicht doch“, versetzte Cletus. „Sie wissen selbst, daß die Guerillas auf unserem Weg nach Bakhalla unseren Wagen überfallen haben und nicht den Bus, ein Umstand, auf den Ihr Vater besonders hingewiesen hat – diesen Bus, der ein weitaus lohnenderes Objekt für einen solchen Überfall abgegeben hätte. Und das, nachdem Pater Ten sämtliche Telefonleitungen beschlagnahmt hatte und die Drähte nach Neuland heißlaufen ließ, bevor wir von Bord gingen.“
„Das war Zufall – nichts als purer Zufall“, gab sie zurück.
„Oh nein“, sagte Cletus ruhig. „Nichts anderes als das Eindringen über den Etter-Paß, eine Möglichkeit für die Neuländer, einen Coup zu starten, hätte mich als taktischen Experten so sehr diskreditieren können, bevor ich überhaupt die Chance gehabt hätte, mir ein Bild über die militärische Situation hierzulande zu machen.“
„Das kann ich einfach nicht glauben“, sagte Melissa heftig. „Sie bilden sich das alles nur ein!“
„Wenn dem so ist, dann leidet deCastries ebenfalls an Verfolgungswahn“, erwiderte Cletus. „Als ich der ersten Falle entschlüpft war, war er beeindruckt genug, um mir einen Job anzubieten – allerdings eine subalterne Position, wo ich nach seiner Pfeife hätte tanzen müssen … Das war auf Mondars Party, als Sie uns verließen, um mit Ihrem Vater zu sprechen, und deCastries und ich für einen Augenblick allein blieben.“
Sie schaute ihn durch die nächtlichen Schatten hindurch an, die den Innenraum des Wagens erfüllten, als wollte sie seinen Gesichtsausdruck im schwachen Licht der Hauslampe und im Dämmerlicht des Himmels ergründen, der sich über ihnen wölbte.
„Sie haben ihn also aufs Kreuz gelegt?“ fragte sie nach längerem Schweigen.
„Das habe ich, und zwar in dieser Nacht“, sagte Cletus. „Nach dem Fiasko am Etter-Paß war ihm klar, daß ich auf die Idee kommen würde, daß die Neuländer den Vorteil der hohen Tide nützen könnten, um Nachschub und Saboteure nach Bakhalla einzuschleusen. Hätte ich die Aktion zugelassen, so hätte ich ihm signalisiert, daß ich sein Mann bin.“
Sie schaute ihn erneut verwundert an. „Aber Sie …“ sagte sie und brach dann ab. „Was erhoffen Sie sich von alldem … von einer solchen Kette von Ereignissen?“
„Nichts weiter als das, was ich Ihnen bereits an Bord gesagt habe“, meinte Cletus. „Ich möchte deCastries zu einem Duell herausfordern und ihn immer tiefer in irgendwelche Konflikte verstricken – bis er sich eines Tages in seinem eigenen Netz falscher Entscheidungen gefangen hat, aus dem er keinen Ausweg mehr findet, und ich ihn vernichten kann.“
Eingetaucht in die Schatten, die immer noch im Innern des Wagens lagen, schüttelte sie langsam den Kopf. „Sie müssen verrückt sein“, sagte sie.
„Oder vielleicht auch vernünftiger denn je zuvor“, erwiderte er. „Wer weiß?“
„Aber …“ Es war, als suchte sie nach einem Argument, das er vielleicht akzeptieren würde. „Was auch geschehen sein mag, Dow hat vor abzureisen. Was wird dann aus all Ihren Plänen? Er kann einfach zur Erde zurückkehren und Sie vergessen – und das wird er vermutlich auch tun.“
„Nicht bevor ich ihn bei einer falschen Entscheidung festgenagelt habe, die eklatant genug ist, daß er sich weder distanzieren noch verstecken kann“, sagte Cletus. „Und das ist meine nächste Aufgabe.“
„Und was ist, wenn ich ihm sage, was Sie vorhaben?“ fragte sie. „Nehmen wir einmal an, daß an all diesen wilden Gerüchten etwas dran ist. Wenn ich morgen nach der Hauptstadt von Neuland fahre und ihm alles erzähle – würde das dann Ihre Pläne zunichte machen?“
„Nicht unbedingt“, sagte Cletus. „Außerdem glaube ich nicht, daß Sie das tun würden.“
„Warum eigentlich nicht?“ neckte sie ihn. „Ich habe Ihnen schon seinerzeit an Bord deutlich gemacht, daß ich seine Hilfe für meinen Vater und für mich brauche. Warum sollte ich ihm keine Neuigkeiten bringen, die für uns vorteilhaft sind?“
„Weil Sie mehr die Tochter Ihres Vaters sind als Sie glauben“, meinte Cletus. „Übrigens wäre es eine vergebliche Anstrengung. Ich bin nämlich nicht bereit zuzulassen, daß Sie sich an deCastries für eine Sache wegwerfen, die Eachan und Ihnen nur Nachteile einbringen würde.“
Sie starrte ihn einen Augenblick lang an, während sie den Atem anhielt, dann brach es aus ihr heraus wie ein Wasserfall.
„Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen“, fauchte sie. „Wollen Sie sich vielleicht in mein Leben und in das Leben meines Vaters einmischen? Sie haben kein Recht, unser Leben zu bestimmen. Woher nehmen Sie überhaupt die Frechheit zu behaupten, Sie wüßten, was für andere Menschen zuträglich oder abträglich ist? Wieso spielen Sie sich zum Richter über Wohl und Wehe der Bevölkerung auf? Wer hat Sie zu dem gemacht was Sie sind … oder was Sie sich einbilden … Sie Gernegroß …“
Dabei rüttelte sie wütend am Türschloß, während die Worte aus ihr heraussprudelten. Dann hatte sie es endlich geschafft. Die Tür schwang auf. Sie sprang aus dem Wagen und wirbelte herum, um den Wagenschlag zuzuschmettern.
„Gehen Sie in Ihr Quartier zurück oder überallhin, wo es Ihnen beliebt?“ rief sie ihm durch das offene Fenster zu. „Ich hatte wahrhaftig keinen Anlaß, mit Ihnen auszugehen, aber mein Vater hat mich darum gebeten. Ich hätte es besser wissen müssen. Gute Nacht!“
Sie wandte sich ab und stürmte die Treppe zum Haus hinauf. Cletus blieb allein zurück in der Stille der Morgendämmerung, unter einem verblassenden Himmel, der sich unerreichbar über seinem Kopf wölbte.