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Wäh­rend der nächs­ten vier Ta­ge ver­such­te Cle­tus be­wußt, Me­lis­sa und ih­ren Va­ter zu mei­den – wo­bei er gleich­zei­tig so­wohl von de­Ca­stries als auch von Pa­ter Ten ge­flis­sent­lich über­se­hen wur­de. Mon­dar da­ge­gen schloß sich ihm im­mer mehr an, ein Um­stand, den Cle­tus nicht un­be­dingt an­ge­nehm, im­mer­hin aber in­ter­essant fand.

Am fünf­ten Tag nach dem Start von der Er­de schwenk­te das Raum­schiff in die Park-Kreis­bahn um Kul­tis ein. Kul­tis war, ähn­lich sei­nem Schwes­ter­pla­ne­ten Ma­ra, ei­ne blü­hen­de, war­me Welt mit da­hin­schwin­den­den Eis­kap­pen und zwei großen Kon­ti­nen­ten, ähn­lich der Er­de wäh­rend der Gon­wana­l­and-Pe­ri­ode ih­rer geo­lo­gi­schen Ver­gan­gen­heit. Aus den Städ­ten der Kul­tis-Ko­lo­ni­en stie­gen Raum­fäh­ren auf, um die Pas­sa­gie­re auf­zu­neh­men.

Ei­ner plötz­li­chen Ein­ge­bung fol­gend ver­such­te Cle­tus, das Haupt­quar­tier der Al­li­anz in Bak­hal­la an­zu­ru­fen, um Mel­dung zu er­stat­ten und In­for­ma­tio­nen ein­zu­ho­len. Doch die Ver­bin­dun­gen zwi­schen Raum­schiff und Bo­den wa­ren al­le durch die Grup­pe nach Neu­land in der vor­de­ren Hal­le be­setzt. Was be­deu­te­te, wie Cle­tus nach ei­ni­gen Rück­fra­gen er­fuhr, daß Pa­ter Ten für Dow de­Ca­stries sprach. Das al­ler­dings roch ver­dammt nach Günst­lings­wirt­schaft an Bord ei­nes Schif­fes, das an­geb­lich un­ter neu­tra­ler Flag­ge fuhr. Cle­tus’ Ah­nung wan­del­te sich in Miß­trau­en. Ei­ner die­ser An­ru­fe konn­te sehr wohl mit ihm zu tun ha­ben.

Als er sich vom Fern­spre­cher ab­wand­te und sich um­schau­te, er­blick­te er Mon­dars blau­es Ge­wand. Der Exot stand an der ge­schlos­se­nen Lu­ke in der Hal­le mitt­schiffs, nur ei­ni­ge Schrit­te von Me­lis­sa und Eachan Khan ent­fernt. Cle­tus hum­pel­te rasch zu ihm hin­über.

„Al­le Fern­spre­cher be­setzt“, sag­te er. „Ich woll­te das Haupt­quar­tier der Al­li­anz an­ru­fen und An­wei­sun­gen ein­ho­len. Sa­gen Sie, wa­ren die Neu­land-Gue­ril­las in der Nä­he von Bak­hal­la in jüngs­ter Zeit ak­tiv?“

„Di­rekt vor un­se­rer Haus­tür“, er­wi­der­te Mon­dar, wäh­rend er Cle­tus ge­nau ins Au­ge faß­te. „Was ist los? Fürch­ten Sie, es könn­te sich nach­tei­lig für Sie aus­wir­ken, daß Sie Dow beim Abendes­sen am ers­ten Abend un­se­rer Rei­se aus­ge­trickst ha­ben?“

„Ich weiß nicht.“ Cle­tus zog ei­ne Au­gen­braue hoch. „Glau­ben Sie, daß de­Ca­stries je­den klei­nen Oberst den Gue­ril­las zum Fraß vor­wirft, der ihm über den Weg läuft?“

„Nicht un­be­dingt je­den“, ver­setz­te Mon­dar mit ei­nem Lä­cheln. „Sie brau­chen sich je­den­falls kei­ne Sor­gen ma­chen. Sie wer­den zu­sam­men mit Me­lis­sa, Eachan und mir per Kom­man­do­fahr­zeug nach Bak­hal­la fah­ren.“

„Sehr be­ru­hi­gend“, sag­te Cle­tus, doch sei­ne Ge­dan­ken wa­ren schon halb wo­an­ders. Mon­dar schi­en zu­min­dest zu ah­nen, wel­che Aus­wir­kun­gen Cle­tus’ Stra­te­gie auf de­Ca­stries hat­te. Das war durch­aus in Ord­nung, dach­te er. Der Weg, den er sich ge­steckt hat­te, um sein Ziel zu er­rei­chen, war un­durch­sich­tig ge­nug, um Leu­te ir­re­zu­füh­ren, die we­ni­ger wach­sam wa­ren. Es war die glei­che Me­tho­de, der sich auch de­Ca­stries be­dien­te, und Mon­dar war der ge­eig­ne­te Mann, um als Kon­troll­per­son zu die­nen.

Ein Gong er­tön­te, und die Ge­sprä­che in der Hal­le ver­stumm­ten.

„Raum­fäh­re nach Bak­hal­la dockt an“, dröhn­te die Stim­me des Ers­ten Of­fi­ziers aus dem Laut­spre­cher. „Raum­fäh­re nach Bak­hal­la dockt mit­schiffs an. Al­le Pas­sa­gie­re sol­len sich be­reit­hal­ten, um an Bord zu ge­hen …“

Cle­tus spür­te, wie er vor­wärts ge­trie­ben wur­de, so­bald sich die Lu­ke öff­ne­te und den Ver­bin­dungs­tun­nel aus schim­mern­dem Me­tall frei­leg­te, der zur Raum­fäh­re führ­te. Er und Mon­dar wur­den durch die Men­ge ge­trennt.

Die Fäh­re war nichts an­de­res als ein voll­ge­stopf­ter, un­be­que­mer raum- und at­mo­sphä­ren­tüch­ti­ger Bus. Sie röhr­te, rum­pel­te, schwank­te und lan­de­te schließ­lich auf ei­nem kreis­run­den, mit brau­nem ris­si­gen Be­ton ge­pflas­ter­ten Platz, um­ge­ben von ei­nem breit­blätt­ri­gen Ur­wald – ein grü­ner Vor­hang, von feu­er­ro­ten und leuch­tend gel­ben Strei­fen durch­zo­gen.

Cle­tus schlurf­te aus der Tür der Fäh­re und stell­te sich et­was ab­seits von der Men­ge, um sich zu ori­en­tie­ren. Au­ßer ei­nem klei­nen Ge­bäu­de in et­wa fünf­zig Me­tern Ent­fer­nung gab es kei­ne An­zei­chen von Men­schen au­ßer de­nen in der Fäh­re und auf der Be­ton­pis­te. Der Ur­wald er­hob sich ei­ni­ge hun­dert Fuß hoch rings­her­um wie ei­ne Wand. Ein ganz ge­wöhn­li­cher, ei­ni­ger­ma­ßen an­ge­neh­mer Tag in den Tro­pen, dach­te Cle­tus. Er hielt nach Mon­dar Aus­schau – und wur­de plötz­lich von ei­ner Art laut­lo­sem, emo­tio­na­len Blitz ge­trof­fen.

Im glei­chen Au­gen­blick wuß­te er, was es war, weil er die­se Er­schei­nung vom Hö­ren­sa­gen kann­te. Es war ein so­ge­nann­ter „Re­ori­en­tie­rungs­schock“ – ein plötz­li­cher Schlag, bei dem die Un­ter­schie­de zwi­schen die­ser und der bis­her be­kann­ten Welt un­ver­mit­telt deut­lich wur­den. Der Ein­druck, den die­se erd­ähn­li­che Um­ge­bung auf ihn mach­te, hat­te sei­ne Wir­kung auf ihn nicht ver­fehlt.

Jetzt, als der Schock vor­über war, merk­te er ur­plötz­lich, daß der Him­mel nicht blau, son­dern eher blau­grün war. Die Son­ne war grö­ßer und von tiefe­rem Gold­gelb als die Son­ne auf Er­den. Die ro­ten und gel­ben Strei­fen im Blatt­werk stamm­ten nicht von Blu­men oder Ran­ken. Die Far­ben, die sich über das Laub er­gos­sen und durch das Laub durch­schim­mer­ten, wa­ren durch­aus echt und na­tür­lich. Die Luft war feucht und von ei­nem Duft durch­weht, der an ge­rös­te­te Nüs­se und frisch ge­mäh­tes Gras er­in­ner­te. Sie war er­füllt von dem Sum­men von In­sek­ten und tie­ri­schen Ru­fen, de­ren Ska­la von den höchs­ten Tö­nen ei­ner Flö­te bis zu den Brumm­tö­nen ei­nes lee­ren Fas­ses reich­ten, das wie ei­ne Trom­mel ge­schla­gen wird. Doch all die­se Tö­ne wa­ren fremd für ein Ohr, das an ir­di­sche Ge­räusche ge­wöhnt war.

Die­ser An­sturm von Licht, Far­ben, Dürf­ten und Tö­nen ver­setz­te Cle­tus selbst jetzt, nach­dem der Schock vor­bei war, in ei­ne Art Tran­ce, aus der er erst wie­der er­wach­te, als er Mon­dars Hand auf sei­nem El­len­bo­gen spür­te.

„Da kommt un­ser Kom­man­do­fahr­zeug“, sag­te Mon­dar, ihn am Arm füh­rend. Der Wa­gen war so­eben hin­ter dem Ter­mi­nal auf­ge­taucht, da­hin­ter wa­ren die Kon­tu­ren ei­nes ge­räu­mi­gen Bus­ses zu er­ken­nen. „So­fern Sie nicht den Bus vor­zie­hen, der al­ler­dings mit Ge­päck, Ehe­frau­en und ge­wöhn­li­chen Zi­vil­per­so­nen voll­ge­stopft sein wird.“

„Vie­len Dank, lie­ber nicht. Ich neh­me Ihr An­ge­bot an“, mein­te Cle­tus.

„Hier geht’s lang“, sag­te Mon­dar.

Cle­tus folg­te ihm, wäh­rend die bei­den Fahr­zeu­ge her­an­roll­ten und hiel­ten. Das Kom­man­do­fahr­zeug ent­pupp­te sich als Mi­li­tär­ve­hi­kel, und zwar als ein Luft­kis­sen­fahr­zeug mit Plas­maan­trieb und Rä­dern, die sich bei be­son­ders un­ebe­nem Ge­län­de aus­fah­ren lie­ßen. Im all­ge­mei­nen sah es aber aus wie ei­ne ge­pan­zer­te Ver­si­on je­ner Ge­län­de­wa­gen, die bei der Hoch­wild­jagd be­nutzt wur­den. Eachan Khan und Me­lis­sa sa­ßen be­reits auf den zwei vor­de­ren Pas­sa­gier­sit­zen. Auf dem Fah­rer­sitz saß ein jun­ger Ge­frei­ter hin­ter dem Steu­er, ein Va­rio-Ge­wehr an den Sitz ge­lehnt.

Cle­tus warf einen in­ter­es­sier­ten Blick auf die klo­bi­ge Waf­fe, wäh­rend er über die rech­te Trep­pe ins Fahr­zeug klet­ter­te. Es war die ers­te Waf­fe die­ser Art, die er als Teil re­gu­lä­rer Be­waff­nung sah, ob­wohl er sie be­reits auf der Aka­de­mie ge­se­hen und so­gar ge­le­gent­lich be­dient hat­te. Es war ei­ne Art Kreu­zung – oder viel­mehr ein Waf­fen­ba­stard –, ur­sprüng­lich als Auf­ruhr­be­kämp­fungs­waf­fe kon­zi­piert und im Feld so gut wie un­brauch­bar, weil ihr kom­pli­zier­ter Me­cha­nis­mus auch für ge­rings­te Ver­un­rei­ni­gun­gen an­fäl­lig war und un­ter Um­stän­den be­reits wäh­rend der ers­ten hal­b­en Stun­de ei­nes Ge­fechts ver­sa­gen konn­te.

Die Waf­fe ließ sich für un­ter­schied­lichs­te Ka­li­ber – von Schrot­kör­nern bis zu Acht-Un­zen-Kar­tät­schen – be­lie­big ver­stel­len, ein an sich un­prak­ti­sches Ge­rät, das je­doch Cle­tus’ tak­ti­sche Vor­stel­lun­gen be­leb­te, wenn er an einen un­or­tho­do­xen Ein­satz ei­ner sol­chen Waf­fe in un­vor­her­ge­se­he­nen Si­tua­tio­nen dach­te.

Doch jetzt saß er mit Mon­dar im Wa­gen. Mit ei­nem Zi­schen sei­ner Kom­pres­so­ren hob sich der schwe­re Wa­gen zwan­zig Zen­ti­me­ter von der Be­ton­pis­te ab und glitt auf sei­nem Luft­pols­ter da­hin. Der Ur­wald vor ih­nen tat sich auf, und einen Au­gen­blick spä­ter husch­ten sie über einen un­ge­pflas­ter­ten ge­wun­de­nen Pfad da­hin, der von Däm­men und Ban­ket­ten be­grenzt wur­de, die oh­ne all­zu großen Er­folg den Ur­wald zu­rück­zu­drän­gen such­ten, der sich im­mer wie­der über ih­ren Köp­fen wölb­te.

„Ich wun­de­re mich, daß Sie auf die­ser Stre­cke die Pflan­zen nicht ab­bren­nen oder mit che­mi­schen Mit­teln ver­nich­ten, um auf bei­den Stra­ßen­sei­ten Raum zu schaf­fen“, sag­te Cle­tus zu Mon­dar.

„Das ge­schieht ent­lang der wich­ti­gen mi­li­tä­ri­schen Rou­ten“, mein­te der Exot. „Doch im Au­gen­blick kom­men wir nicht nach, und die Pflan­zen hier­zu­lan­de wach­sen schnell nach. Wir ver­su­chen zwar, ei­ne der auf der Er­de hei­mi­schen Korn- oder Gras­sor­ten durch Zucht so zu ver­än­dern, daß sie ein­hei­mi­schen For­men und Pflan­zen von den Ban­ket­ten ver­drängt – aber un­se­re La­bors sind, wie fast al­les hier, per­so­nell un­ter­be­setzt.“

„Auch die … Ver­sor­gungs­la­ge ist schwie­rig“, stieß Eachan Khan her­vor und be­rühr­te wie zum Schutz die rech­te Spit­ze sei­nes grau­en, ge­wichs­ten Schnurr­barts, als das Fahr­zeug plötz­lich ein großes Kriech­tier über­fuhr, das durch die fest­ge­stampf­te Stra­ßen­de­cke ge­bro­chen war. Die Rä­der muß­ten aus­ge­fah­ren wer­den, um über das Hin­der­nis hin­weg­zu­kom­men.

„Was hal­ten Sie von dem Va­rio-Ge­wehr des Fah­rers?“ frag­te Cle­tus den Dor­sai-Söld­ner, wo­bei sein Kie­fer un­ter den Er­schüt­te­run­gen des Wa­gens er­zit­ter­te.

„Die Ent­wick­lung leich­ter Waf­fen geht mei­ner Mei­nung nach in die falsche Rich­tung …“ Das Kriech­tier blieb zu­rück, und der Wa­gen glitt wie­der sanft über sein Luft­pols­ter da­hin. „Nad­ler, Va­rio-Ge­weh­re, Ul­tra­schall, was auch im­mer be­nutzt wird, um Be­stand­tei­le in den Waf­fen des Geg­ners zu blo­ckie­ren oder zu zer­stö­ren – die­se Din­ger sind al­le viel zu kom­pli­ziert. Und je kom­pli­zier­ter sie sind, um so schwie­ri­ger die Ver­sor­gungs­la­ge und um so grö­ßer das Pro­blem, die ei­ge­nen Trup­pen be­weg­lich zu hal­ten.“

„Was schla­gen Sie al­so vor?“ frag­te Cle­tus. „Zu­rück zur Arm­brust, zum Mes­ser und zum Kurz­schwert?“

„Warum nicht?“ mein­te Eachan Khan über­rascht, und sei­ne fla­che, kurz an­ge­bun­de­ne Stim­me schi­en plötz­lich von neu­er Be­geis­te­rung er­füllt. „Im Fal­le ei­nes Fal­les und zum rich­ti­gen Zeit­punkt ist ein Mann mit ei­ner Arm­brust mehr wert als ein gan­zes Korps schwe­rer Ar­til­le­rie, das ei­ne hal­be Stun­de zu spät ein­trifft und zehn Mei­len von der Ein­satz­stel­le ent­fernt lan­det. Wie heißt es so schön … Ein Huf ging ver­lo­ren, weil ein Na­gel fehl­te …?“

„Und we­gen des Huf­ei­sens ging ein Pferd ver­lo­ren und we­gen des Pfer­des ein Mann …“ be­en­de­te Cle­tus das Zi­tat. Und die bei­den Män­ner blick­ten sich ge­gen­sei­tig mit un­ver­hoh­le­nem Re­spekt an.

„Wahr­schein­lich ha­ben Sie Aus­bil­dungs­pro­ble­me“, sag­te Cle­tus nach­denk­lich. „Bei den Dor­sai, mei­ne ich. Sie müs­sen Leu­te mit un­ter­schied­li­cher Vor­bil­dung an­heu­ern, und Sie möch­ten Sol­da­ten aus ih­nen ma­chen, die in mög­lichst vie­len mi­li­tä­ri­schen Si­tua­tio­nen ein­ge­setzt wer­den kön­nen.“

„Wir kon­zen­trie­ren uns auf Grund­sätz­li­ches“, sag­te Eachan. „Au­ßer­dem ge­hört es zu un­se­rem Pro­gramm, klei­ne, be­weg­li­che und schlag­kräf­ti­ge Ein­hei­ten zu ent­wi­ckeln und dann dem Auf­trag­ge­ber na­he­zu­le­gen, die­se Ein­hei­ten ent­spre­chend ih­rer Aus­bil­dung ein­zu­set­zen.“ Er nick­te Mon­dar zu. „Die bes­ten Er­fah­run­gen ha­ben wir hier­zu­lan­de bis­her mit den Exo­ten ge­macht. Die meis­ten In­ter­es­sen­ten möch­ten un­se­re Pro­fis in ih­re klas­si­sche Or­ga­ni­sa­ti­on ein­bau­en. Das funk­tio­niert zwar, aber die­se Art Ein­satz ist nicht voll wirk­sam, we­der was den ein­zel­nen Mann noch was die Ein­hei­ten be­trifft. Das ist ein Grund für die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem re­gu­lä­ren Mi­li­tär. Ihr kom­man­die­ren­der Of­fi­zier hier­zu­lan­de, Ge­ne­ral Tray­nor …“ Eachan brach ab. „Nun, das ist nicht mein Bier.“

Er ließ das The­ma ganz plötz­lich fal­len, rich­te­te sich auf und schau­te durch die Fens­ter­öff­nun­gen in der Me­tall­wand des Fahr­zeugs auf den Ur­wald hin­aus. Dann dreh­te er sich um und wand­te sich dem Fah­rer zu, der auf dem Au­ßen­sitz saß.

„Ist da drau­ßen ir­gend et­was los?“ rief er. „Von hier aus kann ich das schlecht be­ur­tei­len.“

„Nein, Sir, Oberst!“ rief der Fah­rer zu­rück. „Al­les mäus­chen­still, wie an ei­nem Sonn­ta­g­na …“

Plötz­lich war ein ex­plo­si­ons­ar­ti­ges Ge­tö­se um sie her­um. Das Fahr­zeug kam ins Schlin­gern, und Cle­tus spür­te, wie der Wa­gen kipp­te, wäh­rend ih­nen die Erd­klum­pen um die Oh­ren flo­gen. Für einen kur­z­en Mo­ment er­blick­te er den Fah­rer, wie er, das Va­rio-Ge­wehr in der Hand, kopf­los in den Stra­ßen­gra­ben auf der rech­ten Sei­te stürz­te. Der Wa­gen schlit­ter­te seit­wärts da­hin, und dann gab es einen Au­gen­blick, wo al­les Den­ken aus­ge­löscht war.

Dann war es, als wür­de ganz plötz­lich ei­ne Ne­bel­wand auf­rei­ßen. Das Fahr­zeug lag auf der rech­ten Sei­te, nur der ge­pan­zer­te Bo­den so­wie die lin­ke und die hin­te­re Fens­ter­öff­nung la­gen frei. Mon­dar war be­reits da­bei, die Ma­gne­si­umja­lou­sie am Heck­fens­ter her­un­ter­zu­las­sen, wäh­rend Eachan Khan die­je­ni­ge über der lin­ken Fens­ter­öff­nung schloß. Nun sa­ßen sie in ei­nem dämm­ri­gen Me­tall­kas­ten mit nur we­ni­gen schma­len Öff­nun­gen, die sich vorn und um das Pan­zer­ab­teil hin­ter dem Füh­rer­sitz be­fan­den und durch die das Son­nen­licht ein­fiel.

„Sind Sie be­waff­net, Oberst?“ frag­te Eachan Khan, wäh­rend er ein klei­nes Pfeil­schuß­ge­rät, un­ter sei­ner Tu­ni­ka her­vor­hol­te und einen lan­gen Lauf auf­schraub­te. Fes­te Ge­schos­se aus Sport­waf­fen – theo­re­tisch Zi­vil­waf­fen, aber un­ter Ur­wald­be­din­gun­gen von töd­li­cher Treff­si­cher­heit – prall­ten ge­gen die Pan­zer­plat­ten, und Quer­schlä­ger pfif­fen dicht an ih­nen vor­bei.

„Nein“, sag­te Cle­tus grim­mig. Die Luft im Fahr­zeug war be­reits ver­braucht, und es roch nach ver­seng­tem Gras und Mus­kat.

„Scha­de“, mein­te Eachan Khan. End­lich hat­te er den Lauf an­ge­schraubt, steck­te ihn durch ei­ne der Öff­nun­gen und blin­zel­te ins Ta­ges­licht. Dann feu­er­te er – und ein großer Mann mit blon­dem Bart, der einen Tarn­an­zug trug, brach aus dem Ur­wald am an­de­ren En­de der Stra­ße und lag dann ganz still da.

„Im Bus wird man die Schüs­se hö­ren, so­bald er auf­holt“, sag­te Mon­dar in der Däm­me­rung hin­ter Cle­tus’ Rücken. „Er wird an­hal­ten, und man wird Hil­fe her­bei­ru­fen. Ein Be­frei­ungs­kom­man­do kann uns in­ner­halb ei­ner Vier­tel­stun­de auf dem Luft­weg er­rei­chen, so­bald die Nach­richt in Bak­hal­la ein­trifft.“

„Ja“, sag­te Eachan Khan ru­hig und gab einen wei­te­ren Schuß ab. Man hör­te, wie je­mand vom Baum fiel und auf den Bo­den krach­te, doch dies­mal konn­te man nie­man­den er­bli­cken. „Viel­leicht kom­men sie noch recht­zei­tig. Dumm, daß uns die­se Gue­ril­las nicht pas­sie­ren lie­ßen und auf den Bus ge­war­tet ha­ben. Grö­ße­res Ge­päck, we­ni­ger Schutz und mehr Beu­te … Ich wür­de an Ih­rer Stel­le den Kopf ein­zie­hen, Oberst.“

Der letz­te Satz war an Cle­tus ge­rich­tet, der ver­ge­bens ver­such­te, die Ja­lou­sie an der Un­ter­sei­te des Wa­gens zu öff­nen. Schließ­lich ge­lang es ihm, die Ja­lou­sie teil­wei­se hoch­zu­zie­hen und ei­ne Öff­nung frei­zu­le­gen, die groß ge­nug war, um den to­ten Fah­rer im Stra­ßen­gra­ben zu er­bli­cken und sich dann hin­durch­zu­zwän­gen. Cle­tus klet­ter­te ins Freie.

Aber die Schüt­zen, die sich im Ur­wald ver­bor­gen hiel­ten, be­ka­men so­fort Wind von der Sa­che und schmet­ter­ten ei­ne Sal­ve ge­gen den Pan­zer­bo­den des Fahr­zeugs – doch die Ge­schos­se ver­fehl­ten ihr Ziel, weil der Wa­gen ge­kippt war, so daß kei­ne Ku­gel durch die Öff­nung drang, die Cle­tus ge­schaf­fen hat­te. Me­lis­sa aber, die plötz­lich er­kann­te, was er vor­hat­te, pack­te ihn am Arm, be­vor er noch ganz drau­ßen war.

„Nein“, sag­te sie. „Das hat kei­nen Zweck! Sie kön­nen dem Fah­rer nicht mehr hel­fen. Er wur­de ge­tö­tet, als die Mi­ne hoch­ging.“

„Zum Teu­fel … da­mit …“ fluch­te Cle­tus, sei­ne gu­te Kin­der­stu­be ver­ges­send. „Er hat das Va­rio-Ge­wehr bei sich.“

Er be­frei­te sich aus ih­rem Griff, wand sich un­ter dem Pan­zer­wa­gen hin­aus, sprang auf die Fü­ße und hech­te­te auf den Stra­ßen­gra­ben zu, wo der Leich­nam des Fah­rers ver­bor­gen lag. Aus dem Ur­wald pras­sel­te ei­ne Sal­ve, er stol­per­te, als er den Rand des Gra­bens er­reich­te, dreh­te sich um die ei­ge­ne Ach­se und war plötz­lich ver­schwun­den. Me­lis­sa hielt die Luft an. Im Gra­ben rühr­te sich et­was, dann tauch­te ein Arm über dem Gra­ben­rand auf, rag­te in den Him­mel, wie ein letz­tes, ver­zwei­fel­tes Not­ruf­zei­chen.

Ir­gend­wo im Ur­wald knall­te ein ein­zi­ger Schuß, der die hal­be Hand und einen Teil des Hand­ge­lenks weg­riß. Blut spritz­te auf, aber die Hand wur­de nicht zu­rück­ge­zo­gen. Und fast um­ge­hend hör­te die Blu­tung auf, wie ab­ge­ris­sen, als wä­re kein Herz mehr da, kein klop­fen­des Herz, das den Blutstrom be­leb­te.

Me­lis­sa er­schau­er­te beim An­blick die­ses Arms, und ihr Atem ging schwer. Ihr Va­ter blick­te nach drau­ßen und leg­te für einen Au­gen­blick die Hand auf ih­re Schul­ter.

„Im­mer mit der Ru­he, mein Kind“, sag­te er. Für einen Mo­ment um­klam­mer­te er ih­re Schul­ter, dann muß­te er wie­der an sei­ne Schieß­schar­te, weil im­mer wie­der neue Ge­schos­se ge­gen das Fahr­zeug prall­ten. „Es kann nicht mehr lan­ge dau­ern, bis sie uns über­wäl­tigt ha­ben“, mur­mel­te er.

Mon­dar, der im Däm­mer­licht da­saß, die Bei­ne ge­kreuzt und wie durch Me­di­ta­ti­on ent­rückt, streck­te die Hand aus und er­griff die Hand des Mäd­chens. Ihr Blick haf­te­te im­mer noch an dem Arm, der über den Gra­ben­rand bau­mel­te, doch ih­re Hand um­klam­mer­te Mon­dars Hand mit ei­ser­nem Griff. Sie sag­te kein Wort, aber ihr Ge­sicht war so weiß und so starr wie ei­ne Mas­ke.

Plötz­lich hör­te das Feu­er aus dem Ur­wald auf. Mon­dar dreh­te sich um und schau­te Eachan an.

Der Dor­sai blick­te über sei­ne Schul­ter zu­rück, und ih­re Bli­cke tra­fen sich.

„Es geht nur noch um Se­kun­den“, mein­te Eachan tro­cken. „Sie sind ein Narr, wenn Sie zu­las­sen, daß man Sie le­ben­dig zu fas­sen kriegt.“

„Wenn es wei­ter nichts ist – ich bin stets be­reit zu ster­ben“, er­wi­der­te Mon­dar hei­ter. „Kein Mensch au­ßer mir kann über die­sen Leib ver­fü­gen.“

Eachan feu­er­te ei­ne neue Sal­ve ab.

„Der Bus“, mein­te Mon­dar ru­hig, „müß­te schon na­he ge­nug her­an­ge­fah­ren sein, um den Fah­rer die Schüs­se hö­ren und Alarm schla­gen zu las­sen.“

„Zwei­fel­los“, mein­te der Dor­sai. „Aber es wä­re höchs­te Zeit, daß wir Hil­fe be­kom­men, wenn es noch et­was nüt­zen soll. Es kann, wie ge­sagt, je­de Mi­nu­te los­ge­hen. Und mit ei­ner ein­zi­gen Pis­to­le … da kom­men sie schon!“

Durch die Öff­nung, über die Schul­tern des Of­fi­ziers hin­weg, konn­te Mon­dar die Ge­stal­ten in ih­ren Tarnan­zü­gen er­bli­cken, die in zwei Wel­len plötz­lich auf bei­den Sei­ten der Stra­ße aus dem Ur­wald her­vor­bra­chen und auf das Fahr­zeug zu­lie­fen. Das Mün­dungs­feu­er des klei­nen Pfeil­wer­fers in Eachans Hand blitz­te im­mer wie­der auf, wie ein ma­gi­sches Licht. Im all­ge­mei­nen Tru­bel konn­te man den Knall nicht hö­ren, da­für aber fie­len die An­grei­fer rei­hen­wei­se um.

Doch die An­grei­fer hat­ten nur einen Ab­stand von et­wa fünf­zehn Me­ter zu über­brücken. Dann wa­ren der Ur­wald und der klei­ne Licht­fleck, den Mon­dar se­hen konn­te, von Tarnan­zü­gen ver­deckt.

Die Waf­fe in Eachans Hand ver­sag­te, weil ihm die Mu­ni­ti­on aus­ge­gan­gen war – doch in dem­sel­ben Au­gen­blick, als die Ge­stalt des ers­ten Gue­ril­las die Öff­nung ver­dun­kel­te, durch die Cle­tus hin­aus­ge­klet­tert war, bell­te im Rücken der An­grei­fer ei­ne Waf­fe auf, und sie schwan­den da­hin wie Sand­bur­gen un­ter ei­ner hef­ti­gen Bran­dung.

Die Waf­fe bell­te noch ein­mal auf und ver­stumm­te. Stil­le brei­te­te sich über der Stät­te aus, so wie das Was­ser in ei­ne Ver­tie­fung zu­rück­strömt, die ein fal­len­der Stein in die Ober­flä­che ei­nes Berg­sees drückt. Eachan drück­te sich an den zur Salz­säu­le er­starr­ten Ge­stal­ten von Me­lis­sa und Mon­dar vor­bei und klet­ter­te aus dem Fahr­zeug. Die bei­den folg­ten ihm be­nom­men.

Hin­kend, auf sein künst­li­ches Knie­ge­lenk ge­stützt klet­ter­te Cle­tus aus dem Gra­ben, das Va­rio-Ge­wehr des to­ten Fah­rers hin­ter sich her­schlei­fend. Er hat­te ge­ra­de die Stra­ße er­reicht und sich auf­ge­rich­tet, als Eachan vor ihm auf­tauch­te.

„Aus­ge­zeich­net“, sag­te der Dor­sai mit ei­nem An­flug von Wär­me in sei­ner sonst so küh­len Stim­me. „Vie­len Dank, Oberst.“

„Kei­ne Ur­sa­che, Oberst“, er­wi­der­te Cle­tus et­was wack­lig. Jetzt, da die Span­nung ge­wi­chen war, be­gann sein noch hei­les Knie un­ter der Re­ak­ti­on im Ho­sen­bein sei­ner Uni­form zu zit­tern.

„Wirk­lich aus­ge­zeich­net“, sag­te Mon­dar so ru­hig wie im­mer, wäh­rend er sich zu den bei­den ge­sell­te. Me­lis­sa war ste­hen­ge­blie­ben und starr­te in den Gra­ben, wo der to­te Fah­rer lag. Sein Arm war es ge­we­sen, der über dem Gra­ben­rand auf­ge­taucht war, wahr­schein­lich von Cle­tus ab­sicht­lich hoch­ge­ho­ben, wäh­rend er sich wie ein Schwer­ver­wun­de­ter im Gra­ben ver­bor­gen ge­hal­ten hat­te. Me­lis­sa er­schau­er­te, wand­te sich ab und den an­de­ren zu.

Sie starr­te Cle­tus aus krei­de­weißem Ge­sicht an, in dem sich jetzt ei­ne selt­sa­me Mi­schung von Ge­füh­len aus­drück­te.

„Da kom­men un­se­re Ret­ter“, mein­te Mon­dar und schau­te zum Him­mel. Zwei Kampf­glei­ter mit In­fan­te­rie an Bord lan­de­ten auf der Stra­ße. Hin­ter ih­nen war das Brems­ge­räusch von Dü­sen zu hö­ren, und als sie sich um­dreh­ten, er­blick­ten sie den Bus, der so­eben um die Ecke bog. „Und un­se­re Si­gnal­ab­tei­lung ist auch schon da“, setz­te er lä­chelnd hin­zu.