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Während der nächsten vier Tage versuchte Cletus bewußt, Melissa und ihren Vater zu meiden – wobei er gleichzeitig sowohl von deCastries als auch von Pater Ten geflissentlich übersehen wurde. Mondar dagegen schloß sich ihm immer mehr an, ein Umstand, den Cletus nicht unbedingt angenehm, immerhin aber interessant fand.
Am fünften Tag nach dem Start von der Erde schwenkte das Raumschiff in die Park-Kreisbahn um Kultis ein. Kultis war, ähnlich seinem Schwesterplaneten Mara, eine blühende, warme Welt mit dahinschwindenden Eiskappen und zwei großen Kontinenten, ähnlich der Erde während der Gonwanaland-Periode ihrer geologischen Vergangenheit. Aus den Städten der Kultis-Kolonien stiegen Raumfähren auf, um die Passagiere aufzunehmen.
Einer plötzlichen Eingebung folgend versuchte Cletus, das Hauptquartier der Allianz in Bakhalla anzurufen, um Meldung zu erstatten und Informationen einzuholen. Doch die Verbindungen zwischen Raumschiff und Boden waren alle durch die Gruppe nach Neuland in der vorderen Halle besetzt. Was bedeutete, wie Cletus nach einigen Rückfragen erfuhr, daß Pater Ten für Dow deCastries sprach. Das allerdings roch verdammt nach Günstlingswirtschaft an Bord eines Schiffes, das angeblich unter neutraler Flagge fuhr. Cletus’ Ahnung wandelte sich in Mißtrauen. Einer dieser Anrufe konnte sehr wohl mit ihm zu tun haben.
Als er sich vom Fernsprecher abwandte und sich umschaute, erblickte er Mondars blaues Gewand. Der Exot stand an der geschlossenen Luke in der Halle mittschiffs, nur einige Schritte von Melissa und Eachan Khan entfernt. Cletus humpelte rasch zu ihm hinüber.
„Alle Fernsprecher besetzt“, sagte er. „Ich wollte das Hauptquartier der Allianz anrufen und Anweisungen einholen. Sagen Sie, waren die Neuland-Guerillas in der Nähe von Bakhalla in jüngster Zeit aktiv?“
„Direkt vor unserer Haustür“, erwiderte Mondar, während er Cletus genau ins Auge faßte. „Was ist los? Fürchten Sie, es könnte sich nachteilig für Sie auswirken, daß Sie Dow beim Abendessen am ersten Abend unserer Reise ausgetrickst haben?“
„Ich weiß nicht.“ Cletus zog eine Augenbraue hoch. „Glauben Sie, daß deCastries jeden kleinen Oberst den Guerillas zum Fraß vorwirft, der ihm über den Weg läuft?“
„Nicht unbedingt jeden“, versetzte Mondar mit einem Lächeln. „Sie brauchen sich jedenfalls keine Sorgen machen. Sie werden zusammen mit Melissa, Eachan und mir per Kommandofahrzeug nach Bakhalla fahren.“
„Sehr beruhigend“, sagte Cletus, doch seine Gedanken waren schon halb woanders. Mondar schien zumindest zu ahnen, welche Auswirkungen Cletus’ Strategie auf deCastries hatte. Das war durchaus in Ordnung, dachte er. Der Weg, den er sich gesteckt hatte, um sein Ziel zu erreichen, war undurchsichtig genug, um Leute irrezuführen, die weniger wachsam waren. Es war die gleiche Methode, der sich auch deCastries bediente, und Mondar war der geeignete Mann, um als Kontrollperson zu dienen.
Ein Gong ertönte, und die Gespräche in der Halle verstummten.
„Raumfähre nach Bakhalla dockt an“, dröhnte die Stimme des Ersten Offiziers aus dem Lautsprecher. „Raumfähre nach Bakhalla dockt mitschiffs an. Alle Passagiere sollen sich bereithalten, um an Bord zu gehen …“
Cletus spürte, wie er vorwärts getrieben wurde, sobald sich die Luke öffnete und den Verbindungstunnel aus schimmerndem Metall freilegte, der zur Raumfähre führte. Er und Mondar wurden durch die Menge getrennt.
Die Fähre war nichts anderes als ein vollgestopfter, unbequemer raum- und atmosphärentüchtiger Bus. Sie röhrte, rumpelte, schwankte und landete schließlich auf einem kreisrunden, mit braunem rissigen Beton gepflasterten Platz, umgeben von einem breitblättrigen Urwald – ein grüner Vorhang, von feuerroten und leuchtend gelben Streifen durchzogen.
Cletus schlurfte aus der Tür der Fähre und stellte sich etwas abseits von der Menge, um sich zu orientieren. Außer einem kleinen Gebäude in etwa fünfzig Metern Entfernung gab es keine Anzeichen von Menschen außer denen in der Fähre und auf der Betonpiste. Der Urwald erhob sich einige hundert Fuß hoch ringsherum wie eine Wand. Ein ganz gewöhnlicher, einigermaßen angenehmer Tag in den Tropen, dachte Cletus. Er hielt nach Mondar Ausschau – und wurde plötzlich von einer Art lautlosem, emotionalen Blitz getroffen.
Im gleichen Augenblick wußte er, was es war, weil er diese Erscheinung vom Hörensagen kannte. Es war ein sogenannter „Reorientierungsschock“ – ein plötzlicher Schlag, bei dem die Unterschiede zwischen dieser und der bisher bekannten Welt unvermittelt deutlich wurden. Der Eindruck, den diese erdähnliche Umgebung auf ihn machte, hatte seine Wirkung auf ihn nicht verfehlt.
Jetzt, als der Schock vorüber war, merkte er urplötzlich, daß der Himmel nicht blau, sondern eher blaugrün war. Die Sonne war größer und von tieferem Goldgelb als die Sonne auf Erden. Die roten und gelben Streifen im Blattwerk stammten nicht von Blumen oder Ranken. Die Farben, die sich über das Laub ergossen und durch das Laub durchschimmerten, waren durchaus echt und natürlich. Die Luft war feucht und von einem Duft durchweht, der an geröstete Nüsse und frisch gemähtes Gras erinnerte. Sie war erfüllt von dem Summen von Insekten und tierischen Rufen, deren Skala von den höchsten Tönen einer Flöte bis zu den Brummtönen eines leeren Fasses reichten, das wie eine Trommel geschlagen wird. Doch all diese Töne waren fremd für ein Ohr, das an irdische Geräusche gewöhnt war.
Dieser Ansturm von Licht, Farben, Dürften und Tönen versetzte Cletus selbst jetzt, nachdem der Schock vorbei war, in eine Art Trance, aus der er erst wieder erwachte, als er Mondars Hand auf seinem Ellenbogen spürte.
„Da kommt unser Kommandofahrzeug“, sagte Mondar, ihn am Arm führend. Der Wagen war soeben hinter dem Terminal aufgetaucht, dahinter waren die Konturen eines geräumigen Busses zu erkennen. „Sofern Sie nicht den Bus vorziehen, der allerdings mit Gepäck, Ehefrauen und gewöhnlichen Zivilpersonen vollgestopft sein wird.“
„Vielen Dank, lieber nicht. Ich nehme Ihr Angebot an“, meinte Cletus.
„Hier geht’s lang“, sagte Mondar.
Cletus folgte ihm, während die beiden Fahrzeuge heranrollten und hielten. Das Kommandofahrzeug entpuppte sich als Militärvehikel, und zwar als ein Luftkissenfahrzeug mit Plasmaantrieb und Rädern, die sich bei besonders unebenem Gelände ausfahren ließen. Im allgemeinen sah es aber aus wie eine gepanzerte Version jener Geländewagen, die bei der Hochwildjagd benutzt wurden. Eachan Khan und Melissa saßen bereits auf den zwei vorderen Passagiersitzen. Auf dem Fahrersitz saß ein junger Gefreiter hinter dem Steuer, ein Vario-Gewehr an den Sitz gelehnt.
Cletus warf einen interessierten Blick auf die klobige Waffe, während er über die rechte Treppe ins Fahrzeug kletterte. Es war die erste Waffe dieser Art, die er als Teil regulärer Bewaffnung sah, obwohl er sie bereits auf der Akademie gesehen und sogar gelegentlich bedient hatte. Es war eine Art Kreuzung – oder vielmehr ein Waffenbastard –, ursprünglich als Aufruhrbekämpfungswaffe konzipiert und im Feld so gut wie unbrauchbar, weil ihr komplizierter Mechanismus auch für geringste Verunreinigungen anfällig war und unter Umständen bereits während der ersten halben Stunde eines Gefechts versagen konnte.
Die Waffe ließ sich für unterschiedlichste Kaliber – von Schrotkörnern bis zu Acht-Unzen-Kartätschen – beliebig verstellen, ein an sich unpraktisches Gerät, das jedoch Cletus’ taktische Vorstellungen belebte, wenn er an einen unorthodoxen Einsatz einer solchen Waffe in unvorhergesehenen Situationen dachte.
Doch jetzt saß er mit Mondar im Wagen. Mit einem Zischen seiner Kompressoren hob sich der schwere Wagen zwanzig Zentimeter von der Betonpiste ab und glitt auf seinem Luftpolster dahin. Der Urwald vor ihnen tat sich auf, und einen Augenblick später huschten sie über einen ungepflasterten gewundenen Pfad dahin, der von Dämmen und Banketten begrenzt wurde, die ohne allzu großen Erfolg den Urwald zurückzudrängen suchten, der sich immer wieder über ihren Köpfen wölbte.
„Ich wundere mich, daß Sie auf dieser Strecke die Pflanzen nicht abbrennen oder mit chemischen Mitteln vernichten, um auf beiden Straßenseiten Raum zu schaffen“, sagte Cletus zu Mondar.
„Das geschieht entlang der wichtigen militärischen Routen“, meinte der Exot. „Doch im Augenblick kommen wir nicht nach, und die Pflanzen hierzulande wachsen schnell nach. Wir versuchen zwar, eine der auf der Erde heimischen Korn- oder Grassorten durch Zucht so zu verändern, daß sie einheimischen Formen und Pflanzen von den Banketten verdrängt – aber unsere Labors sind, wie fast alles hier, personell unterbesetzt.“
„Auch die … Versorgungslage ist schwierig“, stieß Eachan Khan hervor und berührte wie zum Schutz die rechte Spitze seines grauen, gewichsten Schnurrbarts, als das Fahrzeug plötzlich ein großes Kriechtier überfuhr, das durch die festgestampfte Straßendecke gebrochen war. Die Räder mußten ausgefahren werden, um über das Hindernis hinwegzukommen.
„Was halten Sie von dem Vario-Gewehr des Fahrers?“ fragte Cletus den Dorsai-Söldner, wobei sein Kiefer unter den Erschütterungen des Wagens erzitterte.
„Die Entwicklung leichter Waffen geht meiner Meinung nach in die falsche Richtung …“ Das Kriechtier blieb zurück, und der Wagen glitt wieder sanft über sein Luftpolster dahin. „Nadler, Vario-Gewehre, Ultraschall, was auch immer benutzt wird, um Bestandteile in den Waffen des Gegners zu blockieren oder zu zerstören – diese Dinger sind alle viel zu kompliziert. Und je komplizierter sie sind, um so schwieriger die Versorgungslage und um so größer das Problem, die eigenen Truppen beweglich zu halten.“
„Was schlagen Sie also vor?“ fragte Cletus. „Zurück zur Armbrust, zum Messer und zum Kurzschwert?“
„Warum nicht?“ meinte Eachan Khan überrascht, und seine flache, kurz angebundene Stimme schien plötzlich von neuer Begeisterung erfüllt. „Im Falle eines Falles und zum richtigen Zeitpunkt ist ein Mann mit einer Armbrust mehr wert als ein ganzes Korps schwerer Artillerie, das eine halbe Stunde zu spät eintrifft und zehn Meilen von der Einsatzstelle entfernt landet. Wie heißt es so schön … Ein Huf ging verloren, weil ein Nagel fehlte …?“
„Und wegen des Hufeisens ging ein Pferd verloren und wegen des Pferdes ein Mann …“ beendete Cletus das Zitat. Und die beiden Männer blickten sich gegenseitig mit unverhohlenem Respekt an.
„Wahrscheinlich haben Sie Ausbildungsprobleme“, sagte Cletus nachdenklich. „Bei den Dorsai, meine ich. Sie müssen Leute mit unterschiedlicher Vorbildung anheuern, und Sie möchten Soldaten aus ihnen machen, die in möglichst vielen militärischen Situationen eingesetzt werden können.“
„Wir konzentrieren uns auf Grundsätzliches“, sagte Eachan. „Außerdem gehört es zu unserem Programm, kleine, bewegliche und schlagkräftige Einheiten zu entwickeln und dann dem Auftraggeber nahezulegen, diese Einheiten entsprechend ihrer Ausbildung einzusetzen.“ Er nickte Mondar zu. „Die besten Erfahrungen haben wir hierzulande bisher mit den Exoten gemacht. Die meisten Interessenten möchten unsere Profis in ihre klassische Organisation einbauen. Das funktioniert zwar, aber diese Art Einsatz ist nicht voll wirksam, weder was den einzelnen Mann noch was die Einheiten betrifft. Das ist ein Grund für die Auseinandersetzungen mit dem regulären Militär. Ihr kommandierender Offizier hierzulande, General Traynor …“ Eachan brach ab. „Nun, das ist nicht mein Bier.“
Er ließ das Thema ganz plötzlich fallen, richtete sich auf und schaute durch die Fensteröffnungen in der Metallwand des Fahrzeugs auf den Urwald hinaus. Dann drehte er sich um und wandte sich dem Fahrer zu, der auf dem Außensitz saß.
„Ist da draußen irgend etwas los?“ rief er. „Von hier aus kann ich das schlecht beurteilen.“
„Nein, Sir, Oberst!“ rief der Fahrer zurück. „Alles mäuschenstill, wie an einem Sonntagna …“
Plötzlich war ein explosionsartiges Getöse um sie herum. Das Fahrzeug kam ins Schlingern, und Cletus spürte, wie der Wagen kippte, während ihnen die Erdklumpen um die Ohren flogen. Für einen kurzen Moment erblickte er den Fahrer, wie er, das Vario-Gewehr in der Hand, kopflos in den Straßengraben auf der rechten Seite stürzte. Der Wagen schlitterte seitwärts dahin, und dann gab es einen Augenblick, wo alles Denken ausgelöscht war.
Dann war es, als würde ganz plötzlich eine Nebelwand aufreißen. Das Fahrzeug lag auf der rechten Seite, nur der gepanzerte Boden sowie die linke und die hintere Fensteröffnung lagen frei. Mondar war bereits dabei, die Magnesiumjalousie am Heckfenster herunterzulassen, während Eachan Khan diejenige über der linken Fensteröffnung schloß. Nun saßen sie in einem dämmrigen Metallkasten mit nur wenigen schmalen Öffnungen, die sich vorn und um das Panzerabteil hinter dem Führersitz befanden und durch die das Sonnenlicht einfiel.
„Sind Sie bewaffnet, Oberst?“ fragte Eachan Khan, während er ein kleines Pfeilschußgerät, unter seiner Tunika hervorholte und einen langen Lauf aufschraubte. Feste Geschosse aus Sportwaffen – theoretisch Zivilwaffen, aber unter Urwaldbedingungen von tödlicher Treffsicherheit – prallten gegen die Panzerplatten, und Querschläger pfiffen dicht an ihnen vorbei.
„Nein“, sagte Cletus grimmig. Die Luft im Fahrzeug war bereits verbraucht, und es roch nach versengtem Gras und Muskat.
„Schade“, meinte Eachan Khan. Endlich hatte er den Lauf angeschraubt, steckte ihn durch eine der Öffnungen und blinzelte ins Tageslicht. Dann feuerte er – und ein großer Mann mit blondem Bart, der einen Tarnanzug trug, brach aus dem Urwald am anderen Ende der Straße und lag dann ganz still da.
„Im Bus wird man die Schüsse hören, sobald er aufholt“, sagte Mondar in der Dämmerung hinter Cletus’ Rücken. „Er wird anhalten, und man wird Hilfe herbeirufen. Ein Befreiungskommando kann uns innerhalb einer Viertelstunde auf dem Luftweg erreichen, sobald die Nachricht in Bakhalla eintrifft.“
„Ja“, sagte Eachan Khan ruhig und gab einen weiteren Schuß ab. Man hörte, wie jemand vom Baum fiel und auf den Boden krachte, doch diesmal konnte man niemanden erblicken. „Vielleicht kommen sie noch rechtzeitig. Dumm, daß uns diese Guerillas nicht passieren ließen und auf den Bus gewartet haben. Größeres Gepäck, weniger Schutz und mehr Beute … Ich würde an Ihrer Stelle den Kopf einziehen, Oberst.“
Der letzte Satz war an Cletus gerichtet, der vergebens versuchte, die Jalousie an der Unterseite des Wagens zu öffnen. Schließlich gelang es ihm, die Jalousie teilweise hochzuziehen und eine Öffnung freizulegen, die groß genug war, um den toten Fahrer im Straßengraben zu erblicken und sich dann hindurchzuzwängen. Cletus kletterte ins Freie.
Aber die Schützen, die sich im Urwald verborgen hielten, bekamen sofort Wind von der Sache und schmetterten eine Salve gegen den Panzerboden des Fahrzeugs – doch die Geschosse verfehlten ihr Ziel, weil der Wagen gekippt war, so daß keine Kugel durch die Öffnung drang, die Cletus geschaffen hatte. Melissa aber, die plötzlich erkannte, was er vorhatte, packte ihn am Arm, bevor er noch ganz draußen war.
„Nein“, sagte sie. „Das hat keinen Zweck! Sie können dem Fahrer nicht mehr helfen. Er wurde getötet, als die Mine hochging.“
„Zum Teufel … damit …“ fluchte Cletus, seine gute Kinderstube vergessend. „Er hat das Vario-Gewehr bei sich.“
Er befreite sich aus ihrem Griff, wand sich unter dem Panzerwagen hinaus, sprang auf die Füße und hechtete auf den Straßengraben zu, wo der Leichnam des Fahrers verborgen lag. Aus dem Urwald prasselte eine Salve, er stolperte, als er den Rand des Grabens erreichte, drehte sich um die eigene Achse und war plötzlich verschwunden. Melissa hielt die Luft an. Im Graben rührte sich etwas, dann tauchte ein Arm über dem Grabenrand auf, ragte in den Himmel, wie ein letztes, verzweifeltes Notrufzeichen.
Irgendwo im Urwald knallte ein einziger Schuß, der die halbe Hand und einen Teil des Handgelenks wegriß. Blut spritzte auf, aber die Hand wurde nicht zurückgezogen. Und fast umgehend hörte die Blutung auf, wie abgerissen, als wäre kein Herz mehr da, kein klopfendes Herz, das den Blutstrom belebte.
Melissa erschauerte beim Anblick dieses Arms, und ihr Atem ging schwer. Ihr Vater blickte nach draußen und legte für einen Augenblick die Hand auf ihre Schulter.
„Immer mit der Ruhe, mein Kind“, sagte er. Für einen Moment umklammerte er ihre Schulter, dann mußte er wieder an seine Schießscharte, weil immer wieder neue Geschosse gegen das Fahrzeug prallten. „Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie uns überwältigt haben“, murmelte er.
Mondar, der im Dämmerlicht dasaß, die Beine gekreuzt und wie durch Meditation entrückt, streckte die Hand aus und ergriff die Hand des Mädchens. Ihr Blick haftete immer noch an dem Arm, der über den Grabenrand baumelte, doch ihre Hand umklammerte Mondars Hand mit eisernem Griff. Sie sagte kein Wort, aber ihr Gesicht war so weiß und so starr wie eine Maske.
Plötzlich hörte das Feuer aus dem Urwald auf. Mondar drehte sich um und schaute Eachan an.
Der Dorsai blickte über seine Schulter zurück, und ihre Blicke trafen sich.
„Es geht nur noch um Sekunden“, meinte Eachan trocken. „Sie sind ein Narr, wenn Sie zulassen, daß man Sie lebendig zu fassen kriegt.“
„Wenn es weiter nichts ist – ich bin stets bereit zu sterben“, erwiderte Mondar heiter. „Kein Mensch außer mir kann über diesen Leib verfügen.“
Eachan feuerte eine neue Salve ab.
„Der Bus“, meinte Mondar ruhig, „müßte schon nahe genug herangefahren sein, um den Fahrer die Schüsse hören und Alarm schlagen zu lassen.“
„Zweifellos“, meinte der Dorsai. „Aber es wäre höchste Zeit, daß wir Hilfe bekommen, wenn es noch etwas nützen soll. Es kann, wie gesagt, jede Minute losgehen. Und mit einer einzigen Pistole … da kommen sie schon!“
Durch die Öffnung, über die Schultern des Offiziers hinweg, konnte Mondar die Gestalten in ihren Tarnanzügen erblicken, die in zwei Wellen plötzlich auf beiden Seiten der Straße aus dem Urwald hervorbrachen und auf das Fahrzeug zuliefen. Das Mündungsfeuer des kleinen Pfeilwerfers in Eachans Hand blitzte immer wieder auf, wie ein magisches Licht. Im allgemeinen Trubel konnte man den Knall nicht hören, dafür aber fielen die Angreifer reihenweise um.
Doch die Angreifer hatten nur einen Abstand von etwa fünfzehn Meter zu überbrücken. Dann waren der Urwald und der kleine Lichtfleck, den Mondar sehen konnte, von Tarnanzügen verdeckt.
Die Waffe in Eachans Hand versagte, weil ihm die Munition ausgegangen war – doch in demselben Augenblick, als die Gestalt des ersten Guerillas die Öffnung verdunkelte, durch die Cletus hinausgeklettert war, bellte im Rücken der Angreifer eine Waffe auf, und sie schwanden dahin wie Sandburgen unter einer heftigen Brandung.
Die Waffe bellte noch einmal auf und verstummte. Stille breitete sich über der Stätte aus, so wie das Wasser in eine Vertiefung zurückströmt, die ein fallender Stein in die Oberfläche eines Bergsees drückt. Eachan drückte sich an den zur Salzsäule erstarrten Gestalten von Melissa und Mondar vorbei und kletterte aus dem Fahrzeug. Die beiden folgten ihm benommen.
Hinkend, auf sein künstliches Kniegelenk gestützt kletterte Cletus aus dem Graben, das Vario-Gewehr des toten Fahrers hinter sich herschleifend. Er hatte gerade die Straße erreicht und sich aufgerichtet, als Eachan vor ihm auftauchte.
„Ausgezeichnet“, sagte der Dorsai mit einem Anflug von Wärme in seiner sonst so kühlen Stimme. „Vielen Dank, Oberst.“
„Keine Ursache, Oberst“, erwiderte Cletus etwas wacklig. Jetzt, da die Spannung gewichen war, begann sein noch heiles Knie unter der Reaktion im Hosenbein seiner Uniform zu zittern.
„Wirklich ausgezeichnet“, sagte Mondar so ruhig wie immer, während er sich zu den beiden gesellte. Melissa war stehengeblieben und starrte in den Graben, wo der tote Fahrer lag. Sein Arm war es gewesen, der über dem Grabenrand aufgetaucht war, wahrscheinlich von Cletus absichtlich hochgehoben, während er sich wie ein Schwerverwundeter im Graben verborgen gehalten hatte. Melissa erschauerte, wandte sich ab und den anderen zu.
Sie starrte Cletus aus kreideweißem Gesicht an, in dem sich jetzt eine seltsame Mischung von Gefühlen ausdrückte.
„Da kommen unsere Retter“, meinte Mondar und schaute zum Himmel. Zwei Kampfgleiter mit Infanterie an Bord landeten auf der Straße. Hinter ihnen war das Bremsgeräusch von Düsen zu hören, und als sie sich umdrehten, erblickten sie den Bus, der soeben um die Ecke bog. „Und unsere Signalabteilung ist auch schon da“, setzte er lächelnd hinzu.