8

 

Al­le schau­ten ihn an.

„Sir?“ sag­te Jarn­ki nach ei­nem Au­gen­blick.

„Ja, Kor­po­ral?“ frag­te Cle­tus.

„Sir … Ich ver­ste­he nicht, was Sie mei­nen“, brach­te Jarn­ki nach ei­ni­gem Zö­gern her­vor.

„Ich mei­ne, Sie wer­den ei­ne Men­ge Neu­län­der ein­fan­gen“, gab Cle­tus zu­rück, „oh­ne da­bei auch nur ei­ne Schram­me da­von­zu­tra­gen.“ Er war­te­te, wäh­rend Jarn­ki den Mund öff­ne­te und dann lang­sam wie­der schloß.

„Nun? Ist das die Ant­wort auf Ih­re Fra­ge, Kor­po­ral?“

„Ja­wohl, Sir.“

Jarn­ki drang nicht wei­ter in ihn. Doch sei­ne Au­gen und die Au­gen sei­ner Leu­te ruh­ten arg­wöh­nisch auf Cle­tus, mit ei­nem Arg­wohn, der fast schon an Furcht grenz­te.

„Dann wol­len wir mal“, sag­te Cle­tus.

Nun be­gann er, sei­ne Leu­te zu pos­tie­ren – einen bei der seich­ten Furt des Flus­ses, der hier einen großen, trä­gen Bo­gen um die Lich­tung mach­te, zwei Mann un­ten am Ufer auf bei­den Sei­ten der Lich­tung und die üb­ri­gen vier hoch über dem Fluß in den Bäu­men berg­auf in je­ner Rich­tung, aus der die Gue­ril­las er­war­tet wur­den, die den Fluß über­que­ren woll­ten.

Der letz­te, dem er sei­nen Pos­ten an­wies, war Jarn­ki.

„Kei­ne Sor­ge, Kor­po­ral“, sag­te er, ritt­lings auf sei­nem Flug­e­sel in der Luft schwe­bend, un­weit der Stel­le, wo Jarn­ki im Baum saß, das Ge­wehr an sich ge­drückt. „Die Neu­län­der wer­den nicht lan­ge auf sich war­ten las­sen. So­bald Sie sie er­blickt ha­ben, feu­ern Sie ein paar Sal­ven ab und klet­tern dann run­ter, um nicht ge­trof­fen zu wer­den. Sie ha­ben doch schon mal so was ge­macht, nicht wahr?“

Jarn­ki nick­te. Sein Ge­sicht war et­was blaß, und wie er da in der Ei­che hock­te, die mit ih­rer glat­ten Rin­de den Ei­chen auf der Er­de ziem­lich äh­nel­te, war sei­ne Stel­lung viel zu ver­krampft und al­les an­de­re als be­quem.

„Ja­wohl, Sir“, sag­te er. Doch in sei­ner Stim­me schwang ei­ni­ges mit, was un­aus­ge­spro­chen blieb.

„Wahr­schein­lich aber un­ter trag­ba­re­ren Um­stän­den und in­mit­ten Ih­rer Kom­pa­nie oder Ab­tei­lung, nicht wahr?“ mein­te Cle­tus. „Las­sen Sie sich durch den Un­ter­schied nicht ver­wir­ren, Kor­po­ral. In dem Au­gen­blick, wo das Ge­bal­le­re los­geht, dürf­te es auch ziem­lich egal sein. Ich wer­de jetzt die bei­den an­de­ren Fur­ten über­prü­fen. Bin bald zu­rück.“

Er lenk­te den Flug­e­sel vom Baum weg und flog fluß­ab­wärts … Der Flug­ap­pa­rat, auf dem er saß, ar­bei­te­te fast laut­los und mach­te nicht mehr Ge­räusche als ein Ven­ti­la­tor. Nor­ma­ler­wei­se war das Mo­to­ren­ge­räusch viel­leicht fünf­zehn Me­ter weit zu hö­ren. Doch die­ser Ur­wald im Ober­land von Kul­tis war von Vo­gel- und Tier­stim­men er­füllt. Da war ein Laut, der sich an­hör­te wie das Ge­räusch ei­ner Axt, die auf Holz trifft und der in Ab­stän­den er­klang, und ein wei­te­rer Laut, der wie hef­ti­ges Schnar­chen klang und se­kun­den­lang aus­setz­te, um dann wie­der an­zu­he­ben. Doch al­les an­de­re war nichts wei­ter als lau­tes Schrei­en und Kräch­zen in den ver­schie­dens­ten Ton­la­gen und Laut­stär­ken, ein Stim­men­ge­wirr, dem al­ler­dings ein ge­wis­ser me­lo­di­scher Cha­rak­ter nicht ab­zu­spre­chen war.

All die­se Stim­men ver­ei­nig­ten sich zu ei­ner Ka­ko­pho­nie, die das lei­se Sum­men des Flug­e­sels über­tön­te und für un­ge­schul­te Oh­ren fast un­hör­bar mach­ten – so zum Bei­spiel für die Gue­ril­las von Neu­land, die ein sol­ches Ge­räusch nicht kann­ten und da­her ver­mut­lich auch nicht ach­te­ten.

Cle­tus flog fluß­ab­wärts und über­prüf­te die bei­den Fur­ten, konn­te aber kei­ne Men­schen­see­le ent­de­cken. Bei der un­ters­ten Furt dreh­te er ab und flog wie­der auf den Dschun­gel zu, berg­auf in Rich­tung des Pas­ses. Wahr­schein­lich ha­be ich Glück, dach­te er, da der Geg­ner den län­ge­ren Weg zu­rück­le­gen muß, wenn er gleich­zei­tig an meh­re­ren Stel­len über­set­zen will. Zwei­fel­los war aber für al­le Grup­pen ir­gend­wo am an­de­ren Fluß­ufer ein Treff­punkt zu ei­ner be­stimm­ten Zeit vor­ge­se­hen.

Er flog dicht un­ter den Baum­wip­feln da­hin, et­wa vier­zig bis sech­zig Me­ter über dem Bo­den, mit ei­ner Ge­schwin­dig­keit von knapp sechs Stun­den­ki­lo­me­tern. Un­ter ihm war die Hoch­land­flo­ra we­ni­ger von Ran­ken­werk durch­setzt als das Blatt­werk un­ten an der Lan­des­tel­le der Raum­fäh­re, doch die­se merk­wür­di­gen ro­ten Fä­den und Strei­fen wa­ren über­all vor­han­den und über­zo­gen so­gar die über­großen Blät­ter der viel­ge­stal­ti­gen Er­den­bäu­me – Ei­chen, Ahorn und Ebe­re­sche –, die vor zwan­zig Jah­ren auf Kul­tis ge­planzt wor­den wa­ren.

Die ir­di­sche Flo­ra ge­dieh in die­sen Hö­hen präch­tig, doch im­mer noch über­wo­gen die ein­hei­mi­schen Pflan­zen in Form von farn­ar­ti­gen Bü­schen, die zehn Me­ter in den Him­mel rag­ten, bis hin zu ei­nem baumar­ti­gen Ge­bil­de mit pur­pur­far­be­nen Früch­ten, die zwar eß­bar wa­ren, doch einen lei­sen, be­täu­ben­den Duft ver­brei­te­ten, so­bald ih­re Scha­le auf­brach.

Cle­tus war et­wa acht­hun­dert Me­ter von der Furt ent­fernt, als er das ers­te An­zei­chen für ei­ne Be­we­gung wahr­nahm – nichts wei­ter als ein lei­ses We­hen der Farn­spit­zen un­ter ihm. Er dros­sel­te die Fahrt und ging tiefer hin­un­ter.

Ei­ne Se­kun­de spä­ter er­blick­te er die Um­ris­se ei­nes Man­nes in ei­nem braun und grün ge­spren­kel­ten Tarn­an­zug, der un­ter ei­nem Farn­busch her­vor­lug­te.

Der Mann trug nichts wei­ter bei sich au­ßer einen Ruck­sack, ei­ner Art Tarn­kap­pe und ei­ner Sport­waf­fe über der Schul­ter. Das war bei Gue­ril­las zu er­war­ten. Dies hing mit dem Ge­wohn­heits­recht zu­sam­men, das sich wäh­rend der letz­ten fünf­zig Jah­re ko­lo­nia­ler Aus­ein­an­der­set­zun­gen durch­ge­setzt hat­te – daß näm­lich ein Mann, der kei­ne mi­li­tä­ri­schen Waf­fen oder Ge­rä­te bei sich trug, le­dig­lich der zi­vi­len Ge­richts­bar­keit un­ter­stand, wo­bei der Be­weis für Sach­be­schä­di­gung, Ge­fahr an Leib und Le­ben zu er­brin­gen war, be­vor man ge­gen einen Be­waff­ne­ten ein­schrei­ten konn­te, selbst wenn er aus ei­ner an­de­ren Ko­lo­nie stamm­te. Ein Gue­ril­la, den man nur mit ei­ner Sport­waf­fe er­wi­sch­te, wur­de ge­wöhn­lich le­dig­lich de­por­tiert oder in­ter­niert. Je­der aber, der mi­li­tä­ri­sche Aus­rüs­tung ir­gend­wel­cher Art bei sich trug – und sei es ei­ne Na­gel­fei­le aus Ar­mee­be­stän­den –, wur­de vor ein Kriegs­ge­richt ge­stellt und zur Haft oder so­gar zum To­de ver­ur­teilt. War al­so die­ser Mann dort un­ten ty­pisch für sei­ne Grup­pe, dann hat­ten Jar­ki und sei­ne Leu­te einen mas­si­ven Vor­teil dank ih­rer Aus­rüs­tung.

Cle­tus be­ob­ach­te­te den Mann ein paar Mi­nu­ten lang. Er bahn­te sich sei­nen Weg durch den Dschun­gel, oh­ne be­son­ders auf Laut­lo­sig­keit oder De­ckung zu ach­ten. So­bald Cle­tus die Marsch­rou­te die­ses Man­nes ei­ni­ger­ma­ßen fest­ge­legt hat­te, wand­te er sich ab, um die an­de­ren Leu­te die­ses Gue­ril­lat­rupps zu lo­ka­li­sie­ren.

Die schnell auf­stei­gen­de Son­ne, die durch das spär­li­che Laub der Baum­wip­fel brann­te, sand­te ih­re sen­gen­den Strah­len auf Cle­tus’ Nacken. Der schwitz­te un­ter den Ach­seln, der Schweiß rann ihm un­ter sei­ner Dschun­gel­mon­tur über Rücken und Brust, und sein Knie be­gann wie­der zu schmer­zen. Er setz­te für einen Mo­ment aus, um sich zu ent­span­nen und die Schmer­zen in sei­nem Knie zu über­win­den. Für so was hat­te er jetzt kei­ne Zeit – noch nicht. Und er kon­zen­trier­te sich dar­auf, den Ur­wald nach wei­te­ren Gue­ril­las ab­zu­su­chen.

Fast un­mit­tel­bar da­nach ent­deck­te er den zwei­ten Mann, der sich in ei­ner Ent­fer­nung von et­wa drei­ßig Me­ter par­al­lel zu je­nem Ein­dring­ling be­weg­te, den Cle­tus als ers­ten aus­ge­macht hat­te. Cle­tus such­te wei­ter, und in­ner­halb der nächs­ten zwan­zig Mi­nu­ten er­blick­te er be­reits den Stoß­trupp von et­wa zwan­zig Mann, der über ei­ne Front­li­nie von et­wa drei­hun­dert Me­ter Brei­te vors­tieß. Wenn die Neu­län­der ih­re Leu­te gleich­mä­ßig auf die drei Fur­ten ver­tei­len, dann wä­ren es ins­ge­samt sech­zig Mann. Wür­den sie bei dem Ver­such, durch den Ur­wald zur Küs­te vor­zu­drin­gen zwan­zig Pro­zent Ver­lus­te ha­ben, so hät­ten sie im­mer noch achtund­vier­zig Mann für einen Vor­stoß ganz gleich wel­cher Art zur Ver­fü­gung, um de­Ca­stries’ Be­such auf ih­re Wei­se einen wür­di­gen Rah­men zu ge­ben.

Achtund­vier­zig Mann wür­den aus­rei­chen, um den klei­nen Fi­scher­ort an der Küs­te ein­zu­neh­men und zu hal­ten. Doch die dop­pel­te An­zahl wä­re bes­ser. Viel­leicht folg­te auch dem ers­ten ein zwei­ter Trupp auf den Fer­sen.

Cle­tus wen­de­te den Flug­e­sel und steu­er­te ihn un­ter­halb der Baum­wip­fel hin­ter den Mann, den er so­eben aus­ge­macht hat­te. Und tat­säch­lich ent­deck­te er et­wa acht­zig Me­ter wei­ter hin­ten ei­ne zwei­te Kampf­li­nie – dies­mal wa­ren es fünf­zehn Mann, von de­nen min­des­tens zwei nach Of­fi­zie­ren aus­sa­hen, weil sie Sprech­ge­rä­te und ähn­li­che Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­de bei sich hat­ten und Sei­ten­ge­weh­re statt Ka­ra­bi­ner tru­gen. Cle­tus dreh­te bei, glitt laut­los durch die Luft di­rekt un­ter­halb der Baum­wip­fel und flog zum äu­ße­ren un­te­ren En­de der her­an­rücken­den Li­nie zu­rück. Schließ­lich hat­te er sein Ziel er­reicht und sah – wie er­war­tet –, daß die Gue­ril­las be­reits auf­zu­schlie­ßen be­gan­nen, um sich an der Furt zu tref­fen. Nach­dem er die Li­nie ge­schätzt hat­te, an der die Trup­pen auf­mar­schie­ren wür­den, flog er wei­ter und hielt von Zeit zu Zeit an, um Mi­nen an den kaum zehn Zen­ti­me­ter di­cken Baum­stäm­men im Ab­stand von je­weils zwan­zig Me­tern zu be­fes­ti­gen. Die letz­te Mi­ne leg­te er di­rekt am Was­ser et­was zwan­zig Me­ter un­ter­halb der Furt. Dann flog er zu­rück, um mit dem En­de der zwei­ten Li­nie Kon­takt auf­zu­neh­men.

Das En­de der Rei­he war be­reits in Hö­he der ers­ten Mi­ne an­ge­kom­men, wo­bei der letz­te Mann im Dschun­gel et­wa zehn Me­ter da­von ent­fernt war. Cle­tus flog einen Bo­gen und schweb­te dann ziem­lich ge­nau in der Mit­te hin­ter der Kampf­li­nie. Er hielt den Flug­e­sel vor­sich­tig an, um nicht nä­her als auf zwan­zig Me­ter her­an­zu­kom­men, nahm das Ge­wehr von der Schul­ter und feu­er­te ei­ne lan­ge Sal­ve über einen Win­kel von et­wa sech­zig Grand ent­lang der gan­zen Li­nie.

Der Knall ei­ner sol­chen Waf­fe war kaum zu über­hö­ren. Die klei­nen Ge­schos­se mit Selbst­an­trieb, die mit ver­hält­nis­mä­ßig ge­rin­ger Ge­schwin­dig­keit aus der Ge­wehr­mün­dung tra­ten, dann aber sehr schnell be­schleu­nig­ten, flo­gen pfei­fend durch die Luft, bis sie ans Ziel ge­lang­ten und durch den Auf­prall ab­rupt ver­stumm­ten. Men­schen, die kei­ne ku­gel­si­che­re Wes­te tru­gen, was bei die­sen Gue­ril­las der Fall war, konn­ten durch ei­ne sol­che Ex­plo­si­on in Stücke ge­ris­sen wer­den – kein Wun­der al­so, daß im Dschun­gel plötz­lich To­ten­stil­le herrsch­te, nach­dem die Schüs­se ver­k­lun­gen wa­ren. Selbst die Vö­gel und Raub­tie­re schwie­gen. Zö­gernd zwar, doch mu­tig be­gan­nen di­rekt vor Cle­tus ent­lang der gan­zen un­sicht­ba­ren Li­nie die Sport­waf­fen das Feu­er zu er­wi­dern, wie ein Chor von zu­schnap­pen­den Mau­se­fal­len.

Das Feu­er war ziel­los. Die Ku­geln, die durch das Laub wie Ha­gel­kör­ner auf Cle­tus’ Haupt nie­der­pras­sel­ten, er­reich­ten zwar nicht ihr Ziel, aber ih­re An­zahl war be­sorg­nis­er­re­gend. Cle­tus hat­te den Flug­e­sel be­reits her­um­ge­ris­sen, um von den feu­ern­den Gue­ril­las Ab­stand zu ge­win­nen. Fünf­zig Me­ter wei­ter dreh­te er über dem auf den Fluß ge­rich­te­ten En­de der Kampf­li­nie noch ein­mal bei und streck­te die Hand nach der Fern­zün­dung für die ers­te Mi­ne aus.

Vor ihm und zu sei­ner Lin­ken gab es ei­ne ein­zi­ge Ex­plo­si­on. Ein Baum – je­ner Baum, an dem die Land­mi­ne be­fes­tigt war – lehn­te wie ein an­ge­schla­ge­ner Rie­se un­ter sei­nen Brü­dern, glitt dann lang­sam ab und stürz­te dann im­mer schnel­ler, bis er schließ­lich kopf­über im Busch lan­de­te.

Jetzt war der Ur­wald plötz­lich von Stim­men er­füllt. Die Gue­ril­las feu­er­ten ziel­los in al­le Rich­tun­gen, weil ih­nen der Dschun­gel nun un­heim­lich vor­kam. Cle­tus dreh­te noch ein­mal bei, feu­er­te ei­ne wei­te­re Sal­ve auf das En­de der Li­nie ab und zog dann den Flug­e­sel rasch auf die glei­che Hö­he mit sei­ner zwei­ten Mi­ne.

In der dich­ten Ve­ge­ta­ti­on des Dschun­gels wa­ren die Ak­tio­nen der ein­zel­nen Gue­ril­las kaum zu er­ken­nen, doch jetzt ver­stän­dig­ten sie sich all­mäh­lich durch Zu­ru­fe. Und die­ser Um­stand im Ver­ein mit dem Stim­men­ge­wirr ließ Cle­tus im­mer­hin ah­nen, was dort vor sich ging. Wahr­schein­lich wür­den sie tun, was ih­nen ihr In­stinkt be­fahl und was nicht un­be­dingt mi­li­tä­risch rich­tig sein muß­te. Sie be­gan­nen da­mit, sich zu­sam­men­zu­fin­den, um sich ge­gen­sei­tig zu hel­fen. Cle­tus gab ih­nen fünf Mi­nu­ten, bis sie al­le auf ei­nem Hau­fen wa­ren und die bei­den Li­ni­en sich auf­ge­löst hat­ten. Dort sa­ßen sie nun, ei­ne ein­zi­ge Grup­pe von et­wa fünf­und­drei­ßig Leu­ten in ei­nem Dschun­gel­stück, das einen Durch­mes­ser von knapp fünf­zig Me­tern ha­ben moch­te.

Nun mach­te er noch ein­mal die Run­de, flog wie­der nach hin­ten, zün­de­te die zwei­te Mi­ne di­rekt vor ih­rer Na­se und gab von hin­ten noch ein­mal ei­ne Sal­ve ab.

Dies­mal lös­te er einen wah­ren Ha­gel­sturm aus – und das Ge­pras­sel hör­te sich an, als wür­den al­le ver­blie­be­nen Ge­weh­re aus al­len Rich­tun­gen auf ihn schie­ßen. Die Wild­nis von Kul­tas ant­wor­te­te dies­mal mit ei­ner wil­den Ka­ko­pho­nie des Pro­tes­tes. Gleich­zei­tig barst wie­der ein Baum­wip­fel un­ter der Ex­plo­si­on ei­ner drit­ten Mi­ne und trug zum all­ge­mei­nen Auf­ruhr bei, wäh­rend das Ge­wehr­feu­er nachließ. Da aber be­fand sich Cle­tus schon wie­der hin­ter dem noch nicht ge­zün­de­ten Mi­nen­gür­tel fluß­ab­wärts von den Gue­ril­las und war­te­te.

Nach we­ni­gen Mi­nu­ten er­tön­ten Kom­man­do­ru­fe, und die Gue­ril­las stell­ten das Feu­er ein. Cle­tus hat­te es nicht nö­tig, Ein­blick in den et­wa hun­dert Me­ter brei­ten Raum zu ge­win­nen. Er wuß­te auch so, daß die Of­fi­zie­re der Ein­dring­lin­ge ei­ne La­ge­be­spre­chung ab­hiel­ten. Sie muß­ten sich fra­gen, ob die Ex­plo­sio­nen und der Be­schuß ir­gend­ei­ner klei­nen Pa­trouil­le zu ver­dan­ken war, die sich zu­fäl­lig ein­ge­fun­den hat­te oder ob sie – ent­ge­gen je­der Er­war­tung und al­len da­ge­gen spre­chen­den Grün­den zum Trotz – auf grö­ße­re mi­li­tä­ri­sche Ein­hei­ten ge­sto­ßen wa­ren, die man hier auf­ge­stellt hat­te, um ih­nen den Weg zur Küs­te ab­zu­schnei­den. Cle­tus ließ ih­nen Zeit, sich al­les reif­lich zu über­le­gen.

Ei­ne Gue­ril­la­grup­pe wie die­se muß­te lo­gi­scher­wei­se dicht bei­ein­an­der blei­ben und einen Späh­trupp aus­sen­den. Die Gue­ril­las wa­ren zu die­sem Zeit­punkt kaum acht­hun­dert Me­ter vom Ufer und von der Lich­tung ent­fernt, und ein Späh­trupp konn­te un­schwer fest­stel­len, daß die An­le­ge­stel­le an der Furt prak­tisch schutz­los war – ein Um­stand, der nicht so recht in Cle­tus’ Über­le­gun­gen pas­sen woll­te. Cle­tus zün­de­te noch ein paar Mi­nen und nahm das von den Gue­ril­las be­setz­te Ge­biet auf der fluß­ab­wärts lie­gen­den Sei­te er­neut un­ter Be­schuß. Die Gue­ril­las er­wi­der­ten das Feu­er so­fort.

Doch auch die­ses Feu­er ließ nach, erstarb und wur­de mehr und mehr spo­ra­disch, bis schließ­lich nur noch der Knall ei­ner ein­zi­gen Büch­se von Zeit zu Zeit zu hö­ren war. Als dann schließ­lich auch die­se Waf­fe ver­stumm­te, zog Cle­tus den Flug­e­sel hoch, mach­te einen wei­ten Bo­gen, und dreh­te vom Fluß in ei­ne Po­si­ti­on et­wa fünf­hun­dert Me­ter fluß­ab­wärts ab. Er schweb­te über die­ser Stel­le und war­te­te ab.

Nach we­ni­gen Mi­nu­ten schon merk­te er, daß sich im Ur­wald et­was rühr­te. Aus dem Dickicht tauch­ten vor­sich­tig ein paar Män­ner auf und schwärm­ten wie­der zu ei­ner Kampf­li­nie aus. Die Neu­län­der, die ge­merkt ha­ben muß­ten, daß sie hier kei­nen Blu­men­topf ge­win­nen konn­ten, wa­ren wahr­schein­lich zu dem Schluß ge­kom­men, daß Vor­sicht die Mut­ter der Por­zel­lan­kis­te war. Sie zo­gen sich zu der nächst­hö­he­ren Furt zu­rück, wo sie ent­we­der nicht am Über­set­zen ge­hin­dert wur­den oder sich mit der an­de­ren Grup­pe ver­ei­ni­gen konn­ten, die zur mitt­le­ren Furt ent­sandt wor­den war.

Cle­tus flog noch ein­mal einen wei­ten Kreis, fing sei­nen Flug­e­sel fern dem Fluß ab und nahm Kurs zur zwei­ten Furt, die fluß­auf­wärts lag. Als er sich die­sem Ge­biet nä­her­te, dros­sel­te er sein Flug­ge­rät, um das Ge­räusch der Ro­to­ren auf ein Min­dest­maß zu be­schrän­ken, und schlich dicht un­ter den Baum­wip­feln da­hin.

Schon bald er­blick­te er ei­ne zwei­te Gue­ril­la-Grup­pe, eben­falls in zwei Rei­hen auf­ge­teilt, die noch gu­te neun­hun­dert Me­ter vom Mit­tel­punkt zwi­schen den drei Fur­ten ent­fernt war. Er hielt an, um ei­ne wei­te­re Rei­he von Mi­nen zu le­gen, dies­mal un­ter­halb der Furt.

Als er das Ufer­ge­län­de an der obers­ten Furt des Blau­en Flus­ses er­reicht hat­te, wo Jarn­ki und die an­de­ren war­te­ten, stell­te er fest, daß die drit­te Grup­pe der Gue­ril­las, die sich die­ser Furt nä­her­te, be­reits viel wei­ter vor­ge­drun­gen war als die bei­den an­de­ren. Sie hat­te die Furt schon fast er­reicht, war kei­ne hun­dert­fünf­zig Me­ter mehr von ihr ent­fernt.

Hier blieb nun kei­ne Zeit mehr, die La­ge gründ­lich aus­zu­kund­schaf­ten, be­vor er et­was un­ter­nahm. Cle­tus flog et­wa drei­ßig Me­ter vor den vor­ders­ten Li­ni­en die Front ent­lang und feu­er­te ei­ne lan­ge Sal­ve ab, als er mein­te, sich un­ge­fähr in der Mit­te der Front­li­nie zu be­fin­den.

Am En­de der Li­nie an­ge­kom­men, wo er ei­ni­ger­ma­ßen in Si­cher­heit war, war­te­te er, bis sich das Ge­gen­feu­er der Gue­ril­las ge­legt hat­te. Dann flog er noch ein­mal an der Front ent­lang, leg­te vier Mi­nen und er­öff­ne­te wie­der das Feu­er.

Der Er­folg war zu­frie­den­stel­lend. Die Li­ni­en der Gue­ril­las ge­rie­ten ins Wan­ken. Oben­drein be­gan­nen die Leu­te, die er an der Furt zu­rück­ge­las­sen hat­te, zum Glück in­stink­tiv das Feu­er zu er­wi­dern. So­weit es sich akus­tisch fest­stel­len ließ, hör­te sich das Gan­ze wie das Feu­er­ge­fecht zwei­er gut be­stück­ter Grup­pen an.

In die­sem Kon­zert war nur ein ein­zi­ger Miß­ton, den Cle­tus her­aus­hö­ren konn­te, und er stamm­te von sei­nen ei­ge­nen Leu­ten. Ei­nes der am lau­tes­ten bal­lern­den Ge­weh­re ge­hör­te Jarn­ki. Und aus der Rich­tung, aus der die Schüs­se zu hö­ren wa­ren, schloß Cle­tus, daß sich der Kor­po­ral am Bo­den et­wa fünf­zehn Me­ter von der vor­ders­ten Li­nie der Gue­ril­las be­fand, ein Um­stand, der ihm leicht zum Ver­häng­nis wer­den konn­te.

Cle­tus hät­te am liebs­ten ge­flucht, aber er ver­such­te sich zu be­herr­schen. Er sand­te einen kur­z­en Be­fehl über sein Kehl­kopf­mi­kro­fon an Jarn­ki, sich au­gen­blick­lich ab­zu­set­zen. Aber er be­kam kei­ne Ant­wort, und Jam­kis Waf­fe bell­te wei­ter. Dies­mal konn­te Cle­tus einen Fluch nicht un­ter­drücken. Er drück­te sei­nen Flug­e­sel fast bis auf den Bo­den und lenk­te ihn im Schutz des Ur­walds ganz na­he an die Stel­le her­an, wo Jarn­ki stand, in­dem er dem Kra­chen sei­ner Waf­fe folg­te.

Der jun­ge Sol­dat lag lang aus­ge­streckt da, die Bei­ne ge­spreizt, den Lauf sei­ner Waf­fe auf einen fau­len­den Baum­strunk ge­stützt, und feu­er­te aus al­len Roh­ren. Sein Ge­sicht war so blaß wie das Ge­sicht ei­nes Men­schen, der be­reits die Hälf­te sei­nes Blu­tes ver­lo­ren hat­te, aber er schi­en un­ver­letzt zu sein. Cle­tus muß­te ab­stei­gen und sei­ne schma­len Schul­tern über dem pfei­fen­den Ge­wehr rüt­teln, be­vor Jarn­ki über­haupt merk­te, daß je­mand ne­ben ihm stand.

Als er sich Cle­tus’ An­we­sen­heit be­wußt wur­de, be­stand sei­ne ers­te kon­vul­si­ve Re­ak­ti­on dar­in zu ver­su­chen, sich hoch­zurap­peln wie ei­ne er­schro­cke­ne Kat­ze. Cle­tus drück­te ihn mit der einen Hand zu Bo­den und deu­te­te mit dem Dau­men der an­de­ren auf die Furt hin­ter ih­rem Rücken.

„Zu­rück!“ flüs­ter­te Cle­tus barsch.

Jarn­ki starr­te ihn an, nick­te und be­gann auf al­len vie­ren auf die Furt zu­zu­rob­ben. Cle­tus be­stieg wie­der den Flug­e­sel. Er flog einen großen Bo­gen und nä­her­te sich den Gue­ril­las von der an­de­ren Sei­te, um ih­re Re­ak­ti­on auf die­sen un­er­war­te­ten Wi­der­stand zu prü­fen.

Schließ­lich war er ge­zwun­gen ab­zu­stei­gen und et­wa zehn Me­ter auf dem Bauch zu rob­ben, da­mit er na­he ge­nug her­an­kam, um zu ver­ste­hen, was ge­spro­chen wur­de. Was er zu hö­ren be­kam, war zum Glück das, was er hö­ren woll­te. Die­se Grup­pe hat­te wie die an­de­re fluß­ab­wärts be­schlos­sen, ei­ne Pau­se ein­zu­le­gen und die Si­tua­ti­on zu be­spre­chen.

Cle­tus robb­te keu­chend zum Flug­e­sel zu­rück, stieg auf und flog er­neut im wei­ten Bo­gen zur Furt zu­rück. Er er­reich­te die Stel­le zu­sam­men mit Jarn­ki, der sich wie­der auf­ge­rap­pelt hat­te und ei­ni­ger­ma­ßen fest auf den Bei­nen stand. Jarn­kis Ge­sicht hat­te et­was Far­be an­ge­nom­men, aber er blick­te Cle­tus be­sorgt an, als wür­de er ei­ne Gar­di­nen­pre­digt er­war­ten. Statt des­sen schenk­te ihm Cle­tus ein brei­tes Lä­cheln.

„Sie sind ein tap­fe­rer Mann, Kor­po­ral“, sag­te Cle­tus. „Nur dür­fen Sie nicht ver­ges­sen, daß wir un­se­re tap­fe­ren Leu­te gern am Le­ben er­hal­ten möch­ten, weil sie uns dann mehr nüt­zen.“

Jarn­ki blin­zel­te und lä­chel­te un­si­cher.

Cle­tus ging zum Flug­e­sel, nahm ei­ne Schach­tel Mi­nen her­aus und reich­te sie Jarn­ki.

„Le­gen Sie die­se Mi­nen in ei­nem Ab­stand von fünf­zig bis acht­zig Me­tern aus“, sag­te Cle­tus. „Pas­sen Sie aber auf, daß Sie da­bei nicht ab­ge­knallt wer­den. Dann hän­gen Sie sich an die­se Neu­län­der, so­bald sie vor­sto­ßen, und hal­ten Sie sie mit Ih­ren Mi­nen und mit Ih­rer Waf­fe in Schach. Ih­re Auf­ga­be be­steht dar­in, die Neu­län­der auf­zu­hal­ten, bis ich zu­rück­kom­me und Ih­nen hel­fen kann. Das dürf­te schät­zungs­wei­se fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten bis an­dert­halb Stun­den dau­ern. Glau­ben Sie, daß Sie durch­hal­ten kön­nen?“

„Wir wer­den es schon schaf­fen“, mein­te Jarn­ki.

„Al­so gut, dann ist das jetzt Ihr Bier.“

Er be­stieg sein Flug­ge­rät, zog einen Kreis über dem Fluß und flog dann ge­ra­de­aus, um auf je­ne Gue­ril­lat­rup­pe zu tref­fen, die sich auf die mitt­le­re Furt zu­be­weg­te.

Und ge­nau das ta­ten sie, als er auf sie stieß. Die Neu­län­der wa­ren der mitt­le­ren Furt be­reits ziem­lich na­he und mit­ten in sei­nem Mi­nen­feld. Die Ge­le­gen­heit war güns­tig – und Cle­tus er­griff sie, in­dem er von hin­ten an die Neu­län­der her­an­flog und ziel­los ein paar Sal­ven auf sie ab­feu­er­te.

Sie er­wi­der­ten das Feu­er so­fort, doch kurz dar­auf wur­den die Schüs­se spo­ra­di­scher und hör­ten dann ganz auf. Die Stil­le, die auf die­ses Feu­er­ge­fecht folg­te, schi­en sich end­los aus­zu­deh­nen. Als fünf Mi­nu­ten ver­gan­gen wa­ren und kein Schuß mehr ge­fal­len war, lenk­te Cle­tus den Flug­e­sel fluß­ab­wärts und er­reich­te die Stel­le, von wo aus die mitt­le­re Grup­pe auf ihn ge­schos­sen hat­te.

Doch dort war nie­mand mehr zu se­hen. Cle­tus flog vor­sich­tig dicht un­ter den Baum­wip­feln da­hin und hat­te die Grup­pe bald ein­ge­holt. Sie be­weg­ten sich fluß­auf­wärts, und ih­re Zahl schi­en sich ver­dop­pelt zu ha­ben. Of­fen­sicht­lich war die Grup­pe von der un­te­ren Furt zu ih­nen ge­sto­ßen, und nun mar­schier­ten sie mit ver­ein­ten Kräf­ten zur obers­ten Furt, um sich mit der dor­ti­gen Grup­pe zu ver­ei­ni­gen.

Al­les lief so, wie er es er­war­tet hat­te. Die­se Ein­dring­lin­ge wa­ren Sa­bo­teu­re und kei­ne Sol­da­ten. Wahr­schein­lich hat­te man ih­nen streng ver­bo­ten, mi­li­tä­ri­sche Ak­tio­nen durch­zu­füh­ren, so­fern dies ir­gend­wie zu ver­mei­den war. Er folg­te ih­nen vor­sich­tig, bis sie schon fast Kon­takt mit ih­ren Ka­me­ra­den auf­ge­nom­men hat­ten, die an der obers­ten Furt sta­tio­niert wa­ren, dann flog er über den Fluß hin­aus, um die Si­tua­ti­on an die­ser Stel­le zu er­kun­den.

Er flog von oben ein und er­kun­de­te sorg­fäl­tig die Si­tua­ti­on der obe­ren Gue­ril­la­grup­pe. Sie hat­ten sich in ei­nem großen Halb­kreis auf­ge­stellt, des­sen En­den et­wa sech­zig Me­ter ober­halb und drei­ßig Me­ter un­ter­halb der Furt nicht ganz bis ans Fluß­ufer reich­ten. Sie feu­er­ten zwar, mach­ten aber kei­ne An­stal­ten, sich den Weg über den Fluß zu er­kämp­fen – doch dann ließ das Ge­wehr­feu­er nach, und Cle­tus hör­te ih­re Zu­ru­fe, als die bei­den Grup­pen, die von fluß­ab­wärts ge­kom­men wa­ren, zu ih­nen stie­ßen.

Cle­tus, dicht über dem Bo­den schwe­bend, nahm ein Ab­hör­ge­rät von der Ge­rä­tes­tan­ge des Flug­e­sels und hielt den Hö­rer an sein rech­tes Ohr. Dann such­te er das Un­ter­holz ab, doch was er zu hö­ren be­kam, wa­ren nur die Ge­sprä­che der ein­zel­nen Gue­ril­las. Ge­sprä­che un­ter Of­fi­zie­ren, in de­nen es um das nächs­te Un­ter­neh­men ging, konn­te er nicht ab­hö­ren. Dies war äu­ßerst un­güns­tig. Er hät­te sich selbst her­an­schlei­chen und die La­ge er­kun­den müs­sen – aber das war nicht mög­lich. Er ver­warf den Ge­dan­ken dar­an. Wei­te­re Er­kun­dungs­flü­ge wur­den jetzt im­mer ris­kan­ter. So blieb ihm nichts an­de­res üb­rig, als sich in die La­ge des Kom­man­dan­ten der Gue­ril­lat­rup­pe zu ver­set­zen und die Ge­dan­ken die­ses Man­nes zu er­ra­ten. Cle­tus schloß halb die Au­gen und ent­spann­te sich auf die glei­che Wei­se wie am Mor­gen, als er ver­such­te, sei­ner Schmer­zen im Knie Herr zu wer­den. All­mäh­lich san­ken sei­ne Li­der über die Au­gen, er lehn­te sich schlaff und ent­spannt im Sat­tel zu­rück und ließ sei­nen Ge­dan­ken frei­en Lauf.

Zu­nächst wa­ren es nur flüch­ti­ge Ge­dan­ken­fol­gen, die die Ober­flä­che sei­nes Be­wußt­seins streif­ten. Dann aber ver­dich­te­ten sich die Ge­dan­ken, und all­mäh­lich be­gann sich ein Kon­zept ab­zu­zeich­nen. Er hat­te das Ge­fühl, nicht mehr im Sat­tel zu sit­zen, son­dern auf dem wei­chen, schwam­mi­gen Ur­wald­bo­den zu ste­hen. Sein durch­schwitz­ter Tarn­an­zug kleb­te an sei­nem Kör­per, wäh­rend er in die Son­ne blin­zel­te, die be­reits den Ze­nit über­schrit­ten hat­te und sich dem Nach­mit­tag zu­neig­te. Frus­tra­ti­on und Be­sorg­nis stie­gen wie ein ir­ri­tie­ren­des Ge­fühl in sei­nem Geist auf. Er warf einen Blick auf den Kreis der Gue­ril­la-Un­ter­of­fi­zie­re, die um ihn her­um­stan­den, und er­kann­te, daß sie um­ge­hend ei­ne Ent­schei­dung tref­fen muß­ten. Zwei der Trupps wa­ren be­reits dar­an ge­schei­tert, den Blau­en Fluß bei­zei­ten an den vor­ge­se­he­nen Stel­len zu über­que­ren. Jetzt, schon im Ver­zug, blieb ihm nur ei­ne ein­zi­ge Mög­lich­keit üb­rig – gleich­zei­tig aber muß­te er mit dem Wi­der­stand feind­li­cher Kräf­te in un­be­kann­ter Zahl rech­nen.

Ei­nes zu­min­dest war si­cher. Das Ein­drin­gen die­ser Trup­pen, die er zu be­feh­li­gen hat­te, war nicht so un­be­merkt ge­blie­ben, wie man es er­war­tet hat­te. In die­sem Sin­ne war die Missi­on schon fehl­ge­schla­gen. Wenn die Exo­ten hier be­reits auf­mar­schiert wä­ren, wel­cher Wi­der­stand wür­de dann erst auf dem Weg zur Küs­te zu er­war­ten sein?

Im Au­gen­blick sah es so aus, als hät­te die­se Missi­on we­nig oder gar kei­ne Aus­sicht auf Er­folg, so daß man sie lo­gi­scher­wei­se ab­bre­chen müß­te. Konn­te er aber jetzt um­keh­ren, oh­ne sei­nen Vor­ge­setz­ten einen trif­ti­gen Grund nen­nen zu kön­nen, warum die Missi­on ab­ge­bro­chen wor­den war?

Na­tür­lich war das un­denk­bar. Er muß­te ver­su­chen, sich den Weg über den Fluß zu er­kämp­fen und dar­auf hof­fen, daß ihm die Exo­ten ge­nü­gend Wi­der­stand leis­ten wür­den, um den Rück­zug ent­schuld­bar aus­se­hen zu las­sen …

Cle­tus kam wie­der zu sich, öff­ne­te die Au­gen und streck­te sich in sei­nem Sat­tel. Er star­te­te, ließ den Flug­e­sel bis un­ter die Baum­wip­fel stei­gen, warf sei­ne Mi­nen aus ver­schie­de­nen Win­keln, um die Stel­lung der Gue­ril­las ein­zu­krei­sen, und ließ sie dann kurz hin­ter­ein­an­der hoch­ge­hen.

Gleich­zei­tig er­öff­ne­te er un­ver­züg­lich das Feu­er mit Ka­ra­bi­ner und Sei­ten­ge­wehr, in­dem er die Büch­se in der rech­ten Hand an sich preß­te und das Sei­ten­ge­wehr in der Lin­ken hielt.

Von der Furt her und von den bei­den an­de­ren Sei­ten der Gue­ril­las­tel­lung er­öff­ne­ten sei­ne Leu­te das Feu­er und deck­ten die Neu­län­der ein.

In­ner­halb von Se­kun­den la­gen die Gue­ril­las am Bo­den und er­wi­der­ten das Feu­er, und zum zwei­ten­mal an die­sem Tag wur­den die Stim­men des Ur­walds durch Kampf­ge­räusche über­tönt. Cle­tus war­te­te, bis der Lärm et­was ab­ge­klun­gen war, so daß man ihn hö­ren konn­te. Dann nahm er den Laut­spre­cher und stell­te ihn an, und nun tön­te sei­ne Stim­me über den Ver­stär­ker durch den Ur­wald:

„FEU­ER EIN­STEL­LEN! FEU­ER EIN­STEL­LEN! SÄMT­LI­CHE EIN­HEI­TEN DER AL­LI­ANZ SO­FORT FEU­ER EIN­STEL­LEN!“

Die Waf­fen der Trup­pe, die un­ter Cle­tus’ Kom­man­do stan­den, ver­stumm­ten. All­mäh­lich ebb­te auch das Feu­er der Gue­ril­las ab, und Schwei­gen senk­te sich über den Ur­wald. Cle­tus aber nahm den Laut­spre­cher wie­der zur Hand.

„ACH­TUNG, NEU­LÄN­DER! ACH­TUNG, NEU­LÄN­DER! DER EX­PE­DI­TI­ONS­TRUPP DER AL­LI­ANZ AUS BAK­HAL­LA HAT EUCH UM­ZIN­GELT. JE­DER WEI­TE­RE WI­DER­STAND IST SINN­LOS. AL­LEN, DIE SICH ER­GE­BEN, WIRD BES­TE BE­HAND­LUNG GE­MÄ­SS DEN IN­TER­NA­TIO­NA­LEN VER­EIN­BA­RUN­GEN FÜR KRIEGS­GE­FAN­GE­NE ZU­GE­SI­CHERT. HIER SPRICHT DER KOM­MAN­DEUR DER STREIT­KRÄF­TE DER AL­LI­ANZ. MEI­NE LEU­TE WER­DEN DAS FEU­ER FÜR DREI MI­NU­TEN EIN­STEL­LEN, UND WÄH­REND DIE­SER ZEIT KÖN­NEN SIE SICH ER­GE­BEN. AL­LE DIE­JE­NI­GEN, DIE VON DIE­SEM AN­GE­BOT GE­BRAUCH MA­CHEN WOL­LEN, MÜS­SEN IH­RE WAF­FEN AB­LE­GEN UND MIT ER­HO­BE­NEN HÄN­DEN ZUR LICH­TUNG AN DER FURT KOM­MEN. ICH WIE­DER­HO­LE: AL­LE, DIE SICH ER­GE­BEN WOL­LEN, MÜS­SEN IH­RE WAF­FEN AB­LE­GEN UND MIT ER­HO­BE­NEN HÄN­DEN AUF DIE LICH­TUNG KOM­MEN. SIE HA­BEN AUF MEIN KOM­MAN­DO HIN DREI MI­NU­TEN ZEIT, SICH ZU ER­GE­BEN.“

Cle­tus leg­te ei­ne Pau­se ein, dann fuhr er fort:

„SÄMT­LI­CHE AN­GE­HÖ­RI­GEN DER IN­VA­SI­ONS­TRUP­PEN, DIE SICH NACH DREI MI­NU­TEN NICHT ER­GE­BEN, GEL­TEN ALS FEIN­DE, DIE WEI­TER WI­DER­STAND LEIS­TEN WOL­LEN. DIE SOL­DA­TEN DER AL­LI­ANZ HA­BEN BE­FEHL, AUF SOL­CHE LEU­TE ZU SCHIES­SEN, SO­BALD SIE SICH IR­GEND­WO ZEI­GEN. DIE ZEIT LÄUFT. JETZT!“

Er schal­te­te den Laut­spre­cher aus, leg­te ihn auf die Ga­bel zu­rück und flog rasch wie­der über den Fluß hin­aus, von wo aus er die Lich­tung be­ob­ach­ten konn­te, oh­ne selbst ge­se­hen zu wer­den. Ei­ne Wei­le pas­sier­te gar nichts. Dann ra­schel­te es im Busch, und ein Mann be­trat die Lich­tung. Er trug den Tarn­an­zug der Neu­län­der, hat­te die Hän­de über dem Kopf ge­fal­tet und ein paar Gras­hal­me im bu­schi­gen Bart. Selbst von sei­nem Be­ob­ach­tungs­pos­ten aus konn­te Cle­tus das Weiß in den Au­gen der Gue­ril­las er­ken­nen, die ihn vor­wurfs­voll an­blick­ten. Er kam zö­gernd ein paar Schrit­te nä­her bis hin zur Mit­te der Lich­tung, blieb dann ste­hen, schau­te sich su­chend um, die Hän­de im­mer noch über dem Kopf ge­fal­tet.

Einen Au­gen­blick spä­ter er­schi­en ein wei­te­rer Mann auf der Lich­tung, und dann ka­men sie plötz­lich aus al­len Rich­tun­gen.

Cle­tus saß ei­ne Wei­le da, be­ob­ach­te­te sie und zähl­te nach. Bis zum Ab­lauf der Drei­mi­nu­ten­frist wa­ren drei­und­vier­zig Män­ner auf die Lich­tung ge­kom­men, um sich zu er­ge­ben. Cle­tus nick­te nach­denk­lich. Drei­und­vier­zig Mann aus ins­ge­samt drei Grup­pen zu je drei­ßig Gue­ril­las oder al­les in al­lem neun­zig. Es war, wie er es er­war­tet hat­te.

Er schau­te am Fluß­ufer ent­lang zu je­ner Stel­le, kei­ne zehn Me­ter wei­ter, wo Jarn­ki mit den an­de­ren bei­den Män­nern hock­te, die ab­kom­man­diert wor­den wa­ren, um die­se Furt zu ver­tei­di­gen und jetzt die Ge­fan­ge­nen be­wach­ten, de­ren Zahl stän­dig zu­nahm.

„Ed“, über­mit­tel­te Cle­tus dem jun­gen Kor­po­ral über Helm­funk. „Ed, schau­en Sie nach rechts.“

Jarn­ki schau­te scharf nach rechts und war über­rascht, als er Cle­tus in sei­ner Nä­he er­blick­te. Cle­tus wink­te ihm zu. Vor­sich­tig, im­mer im Schutz der Ufer­bö­schung, lief Jarn­ki zu der Stel­le, wo Cle­tus mit sei­nem Flug­e­sel we­ni­ge Me­ter über dem Bo­den schweb­te.

Als Jarn­ki bei ihm an­ge­kom­men war, setz­te Cle­tus mit dem Flug­ge­rät im Schutz der Bü­sche auf der Lich­tung auf, stieg steif aus dem Sat­tel und streck­te woh­lig sei­ne Glie­der.

„Sir?“ frag­te Jarn­ki.

„Ich möch­te, daß Sie mit­hö­ren“, sag­te Cle­tus. Er wand­te sich er­neut dem Flug­e­sel zu und schal­te­te sein Sprech­funk­ge­rät auf den Ka­nal von Leut­nant Athyer am Milch­fluß.

„Ober­leut­nant“, sag­te er, „hier ist Oberst Gra­ha­me.“

Es folg­te ei­ne kur­ze Pau­se, dann kam die Ant­wort, dies­mal nicht über das Hör­ge­rät in Cle­tus’ Ohr, son­dern über den klei­nen Laut­spre­cher am Flug­e­sel, den Cle­tus so­eben ein­ge­schal­tet hat­te.

„Oberst?“, sag­te Athyer. „Was ist los?“

„Es sieht ganz da­nach aus, als woll­ten die Gue­ril­las ver­su­chen, am Blau­en Fluß über­zu­set­zen“, er­wi­der­te Cle­tus. „Wir ha­ben Glück ge­habt und et­wa die Hälf­te ge­fan­gen­ge­nom­men …“

„Gue­ril­las? Ge­fan­gen­ge­nom­men? Die Hälf­te …“ Athyers Stim­me drang flat­ternd durch den Laut­spre­cher und Kopf­hö­rer.

„Das ist aber nicht der Grund, warum ich Sie an­ge­ru­fen ha­be“, fuhr Cle­tus fort. „Die an­de­re Hälf­te ist uns ent­wischt. Sie hat sich in Rich­tung Paß zu­rück­ge­zo­gen, um nach Neu­land zu ent­kom­men. Wenn Sie mit der Hälf­te Ih­rer Mann­schaft dort­hin mar­schie­ren, kön­nen Sie mit dem Rest pro­blem­los fer­tig wer­den.“

„Pro­blem­los? Schau­en Sie … Ich … Wo­her soll ich wis­sen, daß die Din­ge tat­säch­lich so lie­gen, wie Sie sie se­hen? Ich …“

„Ober­leut­nant“, sag­te Cle­tus, dies­mal mit et­was Nach­druck. „Ich woll­te Ih­nen le­dig­lich mit­tei­len, daß wir die Hälf­te der Leu­te hier an der obe­ren Furt des Blau­en Flus­ses ge­fan­gen­ge­nom­men ha­ben.“

„Ja­wohl … ja … Oberst, ich ver­ste­he. Aber …“

Cle­tus schnitt ihm das Wort ab. „Dann ma­chen Sie sich auf die Strümp­fe, Ober­leut­nant“, sag­te er. „Wenn Sie noch lan­ge zö­gern, wer­den Sie sie ver­pas­sen.“

„Ja­wohl, Sir. Selbst­ver­ständ­lich. Ich wer­de Ih­nen in Kür­ze Nach­richt zu­kom­men las­sen, Oberst … Viel­leicht ist es bes­ser, wenn Sie Ih­re Ge­fan­ge­nen dort fest­hal­ten, bis der Trans­por­ter sie auf­nimmt … Ei­ni­ge könn­ten ver­su­chen ab­zu­hau­en, wenn Sie sie al­lein mit ih­ren sechs Mann durch den Ur­wald füh­ren wol­len.“ Athyers Stim­me wur­de fes­ter, als er wie­der die Kon­trol­le über sich ge­wann, doch in sei­ner Stim­me schwang ein bit­te­rer Un­ter­ton mit. Na­tür­lich wurm­te es ihn, daß ein pu­rer Theo­re­ti­ker, ein Mann vom grü­nen Tisch, ein Schreib­tisch­hengst, es fer­tig­ge­bracht hat­te, ei­ne grö­ße­re feind­li­che Grup­pe ge­fan­gen­zu­set­zen, wäh­rend doch ein­zig und al­lein er, Athyer, der Ein­satz­lei­ter die­ses Un­ter­neh­mens war. Er hat­te nur we­nig Hoff­nung, daß Ge­ne­ral Tray­nor die­ses Fias­ko sei­ner­seits über­se­hen wür­de.

Sei­ne Stim­me klang grim­mig, als er fort­fuhr.

„Brau­chen Sie einen Arzt?“ frag­te er. „Ich kann einen un­se­rer bei­den Ärz­te ent­beh­ren und ihn mit ei­nem der Trans­por­ter hin­über­schi­cken, jetzt, wo die gan­ze Sa­che kein Ge­heim­nis mehr ist und die Neu­län­der wis­sen, daß wir da sind.“

„Dan­ke, Ober­leut­nant. Wir kön­nen einen Arzt brau­chen“, er­wi­der­te Cle­tus. „Im üb­ri­gen wün­sche ich Ih­nen viel Glück.“

„Dan­ke“, sag­te Athyer kühl. „En­de, Sir.“

„En­de“, gab Cle­tus zu­rück.

Er schal­te­te das Ge­rät aus, ver­ließ den He­li­ko­pter und ließ sich steif auf dem Bo­den nie­der, wo­bei er den Rücken ge­gen einen Stein lehn­te.

„Sir?“ frag­te Jarn­ki. „Wo­zu brau­chen wir einen Arzt? Kei­ner der Leu­te ist ver­wun­det. Mei­nen Sie viel­leicht, Sir, daß Sie …“

„Ja, ich“, sag­te Cle­tus.

Er streck­te das lin­ke Bein aus, hol­te sein Kampf­mes­ser aus dem Stie­fel­schacht und schlitz­te die Ho­se an sei­nem lin­ken Bein von ober­halb des Knies bis zu den Stie­feln auf. Das Knie, das zum Vor­schein kam, war arg ge­schwol­len und bot kei­nen er­freu­li­chen An­blick. Er griff nach dem Ers­te-Hil­fe-Käst­chen an sei­nem Gür­tel, nahm ei­ne Spray­do­se her­aus, stütz­te die Dü­se mit sei­nem Hand­ge­lenk ab und drück­te auf den Knopf. Der Käl­te­schock des Sprays, der durch die Haut di­rekt ins Blut drang, kam ihm vor wie die Be­rüh­rung ei­nes er­lö­sen­den Fin­gers.

„Gü­ti­ger Him­mel, Sir“, sag­te Jarn­ki mit blas­sem Ge­sicht, wäh­rend er auf das Knie starr­te.

Cle­tus lehn­te sich be­quem ge­gen den Stein und war­te­te, bis die wei­chen Wel­len der Dro­ge ihn in Be­wußt­lo­sig­keit hüll­ten.

„Bin ganz Ih­rer Mei­nung“, sag­te er. Dann um­fing ihn die Dun­kel­heit.