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Am Tisch herrschte einen Moment Stille.
„Oberst“, fragte Eachan, „was ist mit Ihrem Bein?“
„Ich trage eine Prothese unterhalb des Knies“, erwiderte Cletus mit schiefem Lächeln. „Eigentlich recht bequem, doch beim Gehen kaum zu übersehen.“ Er schaute auf Pater Ten. „Herrn Tens Ansichten über meine praktische Erfahrungen beim Militär sind gar nicht so abwegig. Ich war nur drei Monate im aktiven Dienst, und zwar während der letzten Auseinandersetzung zwischen Allianz und Koalition, die vor sieben Jahren auf der Erde stattgefunden hat.“
„Doch diese drei Monate wurden durch die Ehrenmedaille gekrönt“, sagte Melissa, wobei sie ihn jetzt ganz anders anschaute als vorhin. Dann wandte sie sich plötzlich an Pater Ten. „Ich glaube, diese Tatsache gehört zu den wenigen Dingen, über die Sie nicht Bescheid wissen.“
Pater Ten schenkte ihr einen haßerfüllten Blick.
„Wie steht’s damit, Pater?“ murmelte deCastries.
„Da war einmal ein Leutnant Grahame vor sieben Jahren, der von der Allianz ausgezeichnet wurde“, spuckte Pater Ten aus. „Seine Division landete auf einer Pazifikinsel, die von unseren Garnisonen besetzt war. Die Division wurde umzingelt und abgeschnitten, aber Leutnant Grahame brachte es fertig, eine Guerillatruppe zusammenzustellen, die unsere Leute in ihren stark befestigten Stellungen erfolgreich belagerte, bis die Allianz einen Moment später Verstärkung schickte. Er trat auf eine Wandermine, genau einen Tag vor seiner Ablösung. Dann steckte man ihn in die Akademie, weil er für den Felddienst untauglich geworden war.“
Wieder herrschte kurzes Schweigen in der Runde.
„So“, sagte deCastries in schleppendem, nachdenklichen Ton, während er sein halbvolles Weinglas auf dem Tischtuch vor sich zwischen den Fingern drehte, „mir scheint, der Gelehrte war ein Held, Oberst.“
„Gütiger Gott, nein“, sagte Cletus. „Der Leutnant war nur etwas vorschnell. Das ist alles. Wenn ich damals das gewußt hätte, was ich heute weiß, wäre ich niemals auf diese Mine getreten.“
„Aber Sie sind wieder da – genau an jener Stelle, wo die Kämpfe stattfinden!“ sagte Melissa.
„Das stimmt“, erwiderte Cletus, „aber wie ich schon sagte, bin ich heute um einiges klüger. Ich möchte keine weiteren Medaillen.“
„Was wollen Sie eigentlich, Cletus?“ fragte Mondar vom anderen Ende des Tisches. Der Fremde hatte Cletus schon seit einigen Minuten auf recht unexotische Weise fixiert.
„Er will sechzehn weitere Bände schreiben“, schnarrte Pater Ten.
„Im Prinzip hat Herr Ten recht“, sagte Cletus ruhig zu Mondar. „Was ich wirklich will ist, mein Werk über Taktik zu beenden. Nur bin ich dahintergekommen, daß ich zunächst die entsprechenden Bedingungen schaffen muß.“
„Beenden Sie den Krieg auf Neuland in sechzig Tagen“, warf Pater Ten ein, „wie ich schon sagte.“
„Soviel Zeit brauchen wir gar nicht, wie ich annehme“, versetzte Cletus, während ihm die plötzliche Veränderung in den Gesichtern seiner Tischgenossen nicht entging. Nur Mondar und Pater Ten verzogen keine Miene.
„Sie halten sich wohl für einen Militärexperten, Oberst“, sagte deCastries. Sein Blick, der auf Cletus ruhte, hatte wie Mondars Blick an Interesse gewonnen.
„Aber ich bin gar kein Experte“, erwiderte Cletus. „Ich bin ein Gelehrter. Darin liegt ein Unterschied. Ein Experte ist jemand, der eine Menge über ein Fach weiß, ein Gelehrter hingegen ein Mann, der alles kennt, was über das Thema verfügbar ist.“
„Trotzdem ist alles nichts weiter als Theorie“, meinte Melissa und schaute ihn verwirrt an.
„Jawohl“, sagte er zu ihr, „aber ein effektiver Theoretiker hat dem Praktiker einiges voraus.“
Sie schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts. Sie lehnte sich in die Polster ihres Sessels zurück und betrachtete ihn, die Unterlippe zwischen den Zähnen.
„Ich fürchte, daß ich Melissa auch diesmal zustimmen muß“, meinte deCastries. Für einen Augenblick hielt er den Blick gesenkt, als würde er in sich hineinschauen und seine Tischgenossen vergessen. „Ich habe schon so manchen Theoretiker scheitern sehen, wenn er sich ins Abenteuer der realen Welt stürzte.“
„Menschen sind real“, sagte Cletus. „Waffen ebenfalls … Aber Strategie? Politische Konsequenzen? Sie sind nicht realer als irgendwelche Theorien. Und ein ernsthafter Theoretiker, der den Umgang mit irrealen Dingen gewöhnt ist, kann besser mit ihnen umgehen als einer, der es stets nur mit der Realität zu tun hat, die schließlich nichts weiter ist als ein Endprodukt … Verstehen Sie etwas von der Fechtkunst?“
DeCastries schüttelte den Kopf.
„Ich schon“, sagte Eachan.
„Dann werden Sie auch jene Taktik kennen, die ich als Beispiel für ein Vorgehen anführe, das ich als Täuschungsmanöver bezeichne.“ Cletus wandte sich ihm zu. „Diese Taktik besteht darin, eine Reihe von Angriffen zu starten, die jeweils zur Parade herausfordern, so daß man mit dem Gegner ständig die Klinge kreuzt. Zweck dieser Taktik ist es jedoch nicht, sich mit diesem Vorgeplänkel zu begnügen, sondern jedesmal die Klinge des Gegners ein wenig aus der Richtung zu drängen, ohne daß er die Absicht merkt. Dann, nach dem letzten Angriff, wenn seine Klinge ganz abgedrängt wurde, ist er praktisch völlig schutzlos.“
„Das muß aber ein verdammt guter Fechter sein“, meinte Eachan flach.
„Das muß er in der Tat“, sagte Cletus.
„Ja“, sagte deCastries und wartete, bis Cletus ihn wieder anschaute. „Aber mir scheint, daß diese Taktik fast ausschließlich auf den Fechtboden beschränkt ist, wo alles nach festen Regeln abläuft.“
„Oh, aber sie läßt sich in fast allen Situationen anwenden“, gab Cletus zurück. Er griff nach ein paar leeren Kaffeetassen, die auf dem Tisch standen. Cletus holte sich drei Tassen und stellte sie umgekehrt in einer Reihe zwischen sich und deCastries auf. Dann griff er in eine Zuckerdose, holte ein paar Würfel heraus und ließ dann einen Zuckerwürfel neben der mittleren Tasse aufs Tischtuch fallen.
Dann stülpte er die mittlere Tasse über den Würfel und änderte blitzschnell die Position der Tassen, indem er sie untereinander vertauschte.
„Sie kennen sicher das alte Spiel“, sagte er zu deCastries. „Unter welcher Tasse befindet sich der Würfel?“
DeCastries blickte auf die Tassen, machte jedoch keine Anstalten, eine von ihnen zu ergreifen. „Unter keiner der drei“, sagte er.
„Nur zum Zwecke der Illustration – würden Sie trotzdem eine der Tasse hochheben?“ fragte Cletus.
DeCastries lächelte. „Warum nicht?“
Er streckte die Hand aus und hob die mittlere Tasse hoch. Sein Lächeln schwand für einen Augenblick, kehrte aber sofort wieder zurück. Da lag der Zuckerwürfel und hob sich Weiß gegen Weiß vom Tischtuch ab.
„Zumindest“, sagte deCastries, „sind Sie ein ehrlicher Makler.“
Cletus nahm die mittlere Tasse, die deCastries hingestellt hatte und bedeckte den Zuckerwürfel. Und auch diesmal änderte er rasch die Position der umgekippten Tassen.
„Wollen Sie es noch mal versuchen?“ fragte er deCastries.
„Wie sie wollen.“ Diesmal wählte deCastries die Tasse zu seiner Rechten. Und wieder lag ein Zuckerwürfel darunter.
„Schon wieder?“ sagte Cletus. Er bedeckte den Würfel und mischte die Tassen. Jetzt wählte deCastries die mittlere Tasse und stellte sie fest auf den Tisch, nachdem der Zuckerwürfel zum Vorschein gekommen war.
„Was soll das?“ fragte er. Diesmal war sein Lächeln endgültig verschwunden. „Wo soll das hinführen?“
„Mir scheint, Herr Minister, daß Sie gar nicht verlieren können, wenn ich das Spiel leite“, meinte Cletus.
DeCastries schaute ihn eine Sekunde lang durchdringend an, dann bedeckte er den Würfel und lehnte sich zurück, wobei er Pater Ten einen Blick zuwarf.
„Diesmal sollen Sie die Tassen vertauschen, Pater“, sagte er.
Mit einem maliziösen Lächeln auf Cletus hob und mischte Pater Ten die Tassen, aber so langsam, daß jeder am Tisch den Weg jener Tasse leicht verfolgen konnte, die deCastries zuletzt in der Hand gehabt hatte. Die Tasse landete wieder einmal in der Mitte. DeCastries schaute auf Cletus und streckte die Hand nach der Tasse aus, die rechts von jener stand, unter der höchstwahrscheinlich der Würfel steckte. Er zögerte, die Hand schwebte einen Augenblick über der Tasse, dann zog er die Hand zurück, und sein Lächeln kam wieder.
„Ich weiß natürlich nicht, wie Sie das machen“, sagte er, wobei er Cletus anschaute, „aber ich weiß, wenn ich diese Tasse aufhebe, wird ein Zuckerwürfel darunter liegen.“ Seine Hand tastete nach der Tasse am anderen Ende der Reihe. „Und wenn ich diese dort wähle, wird der Würfel wahrscheinlich unter ihr liegen.“
Cletus erwiderte wortlos sein Lächeln.
„Also habe ich richtig geraten“, sagte deCastries. Er streckte die Hand nach der mittleren Tasse aus und wartete einen Augenblick, wobei er Cletus’ Augen beobachtete. Dann zog er die Hand zurück. „Das war es wohl, was Sie mit dieser Demonstration mit den Tassen und dem Zuckerwürfel beweisen wollten, nicht wahr, Oberst? Sie wollten, daß ich die Situation genauso beurteile, wie ich es getan habe – gleichzeitig aber wollten Sie mich so weit verunsichern, daß ich trotz allem die mittlere Tasse aufheben mußte, um mir selbst zu beweisen, daß nichts darunter lag. Was Sie wirklich bezweckten war, mich an meiner eigenen Urteilsfähigkeit zweifeln zu lassen, und dies im Sinne Ihres sogenannten Täuschungsmanövers.“
Er streckte die Hand aus und klopfte mit dem Fingernagel gegen die mittlere Tasse, so daß sie einen leisen Glockenton von sich gab.
„Aber ich werde die Tasse nicht umdrehen“, fuhr er mit einem Blick auf Cletus fort. „Ich bin einen Schritt weitergegangen und habe Ihre Absicht durchschaut, die darauf hinzielte, daß ich’s tue. Sie wollten Eindruck schinden. Nun gut, ich bin beeindruckt – aber es hält sich in Grenzen. Und zum Beweis dafür frage ich Sie: Was würden Sie sagen, wenn ich die Tasse überhaupt nicht abhebe?“
„Ihre logische Beweisführung ist großartig, Herr Minister.“
Cletus streckte die Hand aus, nahm die anderen beiden Tassen und drehte sie um, während er die Öffnungen kurz mit der Hand bedeckte und dann die Hand wegnahm, um zu zeigen, daß sie leer waren. „Was könnte ich sonst sagen?“
„Danke, Oberst“, sagte deCastries weich. Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt, und seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Er streckte die rechte Hand aus, ergriff den Stiel seines Weinglases und drehte es zwischen Daumen und Zeigefinger genau jeweils um eine Vierteldrehung, als wollte er das Glas sorgfältig in die Tischdecke schrauben. „Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten diesen Flug nach Kultis gebucht, weil Sie wußten, daß ich an Bord sein würde. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie sich dieser Mühe unterzogen haben, nur um mir ihr taktisches Spielchen vorzuführen.“
„Nur teilweise“, sagte Cletus. Die Spannung am Tisch war plötzlich sprunghaft angestiegen, obwohl Cletus und deCastries freundlich und entspannt miteinander redeten. „Ich wollte Sie treffen, Herr Minister, weil ich Sie bitten möchte, einige Dinge zu arrangieren, damit ich mein Werk über Taktik vollenden kann.“
„So?“ meinte deCastries. „Und wie haben Sie sich das vorgestellt?“
„Die Gelegenheit, Herr Minister, wird sich uns beiden bieten“ – Cletus schob seinen Stuhl zurück und erhob sich –, „nachdem Sie mich jetzt kennengelernt haben und wissen, was ich anstrebe. Gleichzeitig möchte ich mich entschuldigen, daß ich Sie beim Abendessen gestört habe, und bitte um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen …“
„Einen Augenblick, Oberst …“ sagte deCastries.
Das Geräusch von splitterndem Glas unterbrach sie. Melissas Weinglas lag zerbrochen auf ihrer Untertasse, während sie versuchte, schwankend auf die Beine zu kommen, wobei sie eine Hand auf ihre Stirn drückte.