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„Also eine Unterschenkelprothese“, meinte der Arzt geduldig. „Eine ausgezeichnete Lösung. Sobald man sich daran gewöhnt hat, ist man genauso beweglich wie früher, auf jeden Fall beweglicher als mit einer Knieprothese. Freilich dürfte es jedem schwerfallen, sich mit dem Gedanken an eine Amputation abzufinden, jedoch …“
„Es ist nicht der Gedanke an eine Amputation, der mich stört“, unterbrach ihn Cletus. „Aber ich habe einige Aufgaben zu erfüllen, die zwei gesunde Beine aus Fleisch und Blut erfordern. Ich möchte eine plastische Operation, einen chirurgischen Ersatz.“
„Das ist mir bekannt“, erwiderte der Arzt. „Sie werden sich aber daran erinnern, daß wir Sie einer eingehenden Prüfung unterzogen und dabei festgestellt haben, daß Ihr Körper jedes Fremdgewebe abstößt, wobei es sich eher um einen psychischen als um einen physischen Vorgang handelt. Wenn das wirklich der Fall ist, so kann Ihnen kein immununterdrückendes Mittel helfen. Wir können zwar versuchen, Ihnen ein neues Bein anzunähen, doch Ihr Körper wird es sicher abstoßen.“
„Sind Sie sicher, daß es sich um einen psychischen Vorgang handelt?“ sagte Cletus.
„Aus Ihrer Krankengeschichte geht hervor, daß Sie selbst unter der Einwirkung herkömmlicher Drogen einen gleichmäßigen Widerstand gegen Hypnose leisten“, erwiderte der Arzt. „Diese Art Widerstand findet sich stets bei allen Patienten, die eine psychologische Abwehr gegen implantierte Organe an den Tag legen, und sooft diese Erscheinung auftritt, haben wir – fast ausnahmslos – mit einer psychischen Abwehr zu tun. Trotzdem habe ich versuchshalber eine neue synthetische parahypnotische Droge mitgebracht. Bei vorsichtiger Dosierung bleibt der Patient voll bei Bewußtsein, während der Wille vollkommen ausgeschaltet wird. Wenn Sie mit diesem Stoff im Leibe der Hypnose widerstehen können, so hegt der Widerstandsfaktor jenseits der Ebene, die die Psychiatrie erzielen kann. Wahrscheinlich handelt es sich um eine genetische Angelegenheit. Wollen Sie es ausprobieren?“
„Los, machen Sie schon“, sagte Cletus.
Der Arzt legte ein Hypnospraymanschette um Cletus’ Unterarm, während er das mit einer Gradeinteilung versehene Gefäß, das die Droge enthielt, über einer großen Arterie befestigte. Der Drogenstand im Behälter war deutlich zu erkennen. Der Arzt umfaßte Cletus’ Arm auf beiden Seiten der Manschette mit Daumen und kleinem Finger, während er den Zeigefinger auf den Auslöseknopf legte.
„Ich werde Sie jetzt fragen, wie Sie heißen“, sagte er. „Versuchen Sie bitte, mir Ihren Namen nicht zu verraten. Sooft Sie die Antwort verweigern, werde ich die Dosis erhöhen. Fertig?“
„Fertig“, sagte Cletus.
„Wie heißen Sie?“ fragte der Arzt. Cletus spürte den kalten Hauch der Droge auf der Haut.
Er schüttelte den Kopf.
„Wollen Sie mir sagen, wie Sie heißen?“ wiederholte der Arzt.
Cletus schüttelte wieder den Kopf. Die Haut auf seinem Unterarm fühlte sich immer noch kalt an. Cletus war etwas überrascht, da er keine Drogen Wirkung registrieren konnte.
„Sagen Sie mir, wie Sie heißen.“
„Nein.“
„Sagen Sie mir Ihren Namen …“
Der Arzt fragte weiter, und Cletus verweigerte jedesmal die Antwort. Plötzlich, ohne jede Ankündigung, war es ihm, als würde das Zimmer von einem weißen Dunst erfüllt. In seinem Kopf befand sich ein Karussell, und das war das letzte, woran er sich noch erinnerte.
Dann kam er langsam wieder zu sich und erblickte den Arzt, der sich über sein Bett beugte. Das Hypnospraygerät war bereits abgeschaltet, die Manschette von seinem Arm entfernt.
„Also nein“, sagte der Arzt mit einem Seufzer. „Sie haben bis zur Bewußtlosigkeit Widerstand geleistet. Demnach sehe ich keine Möglichkeit, den Versuch mit einem Transplantat zu wagen.“
Cletus schaute ihn kühl an. „Wenn dem so ist“, sagte er, „würden Sie dann bitte Mondar den Exoten benachrichtigen, daß ich ihn sprechen möchte?“
Der Arzt machte den Mund auf, als wollte er etwas erwidern, dann machte er den Mund wieder zu, nickte und ging hinaus.
Dafür erschien eine Krankenschwester. „General Traynor möchte Sie sprechen, Sir“, sagte sie. „Sind Sie bereit, ihn zu empfangen?“
„Aber sicher“, sagte Cletus. Er drückte auf den Knopf, um das Kopfende seines Bettes anzuheben. Fledermaus trat ein, stand dann an seinem Bett und blickte auf ihn hinab, das Gesicht eine steinerne Maske.
„Nehmen Sie Platz, Sir“, sagte Cletus.
„Ich will mich gar nicht so lange aufhalten“, gab Fledermaus zurück.
Er drehte sich um, schloß die Tür hinter sich und wandte sich dann wieder Cletus zu.
„Ich habe Ihnen zweierlei zu sagen“, meinte er. „Nachdem es mir schließlich gelungen war, die Tür Ihres Büros zu durchbrechen und mir eine Waffe zu beschaffen, mit der ich die Tür aus den Angeln heben konnte, war es bereits Sonntagnachmittag. Ich schlich mich aus der Stadt und rief zuerst Oberst Dupleine an, bevor ich weitere Schritte unternahm. Es wird Sie sicher freuen zu erfahren, daß ich von der Sache keinerlei Aufhebens machen werde. Offiziell hatte ich am Freitagnachmittag einen kleinen Unfall außerhalb von Bakhalla. Mein Wagen war von der Straße abgekommen. Ich war bewußtlos in meinem Wagen eingeschlossen und konnte mich erst am Sonntag befreien. Was Sie da in Zweistrom getan haben, nämlich diese Neuländer gefangenzunehmen, ist offiziell ebenfalls auf meinen Befehl hin geschehen.“
„Danke, Sir“, sagte Cletus.
„Keine Schmeicheleien!“ schnarrte Fledermaus sanft, „ich war klug genug, um nicht sofort an die große Glocke zu hängen, daß Sie mich aus dem Verkehr gezogen haben, ohne daß ich zunächst wußte, was dahintersteckte. Sie und ich wissen, daß es Absicht war. Also machen wir uns nichts vor. Sie haben mich eingesperrt, und kein Mensch wird es je erfahren. Aber Sie haben zwei Drittel der Neuländer-Streitkräfte gefangengenommen, und ich bin derjenige, der die Sache in Genf ausbaden muß. So stehen die Aktien, und das ist die eine Sache, die ich Ihnen mitteilen wollte.“
Cletus nickte.
„Die andere Sache ist die“, sagte Fledermaus. „Das, was Sie da in Zweistrom aufgezogen haben, war ein verdammt gutes Stück Strategie, eigentlich bewunderswert. Aber ich kann und will sie nicht bewundern. Mir gefällt die Art und Weise nicht, wie Sie vorgehen, Grahame, und ich brauche Sie nicht – auch die Allianz kann Leute wie Sie nicht brauchen. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen: Ich wünsche, daß Sie Ihren Abschied einreichen. Ich möchte, daß Ihr Gesuch innerhalb von achtundvierzig Stunden auf meinem Schreibtisch liegt. Dann können Sie meinetwegen wieder nach Hause fahren und als Zivilist Ihre Bücher schreiben.“
Cletus schaute ihn ungerührt an. „Ich habe meinen Abschied bei der Allianz bereits eingereicht“, sagte er. „Ich habe auch auf meine Erdenbürgerschaft verzichtet. Dafür habe ich mich um die Staatsbürgerschaft bei den Dorsai beworben, und meinem Antrag wurde stattgegeben.“
Fledermaus zog die Augenbrauen hoch. Sein hartes, kompetentes Gesicht sah für einen Augenblick fast dümmlich aus. „Sie wollen“, fragte er, „aus der Allianz austreten?“
„Ich will nur emigrieren, das ist alles“, sagte Cletus und schenkte dem General ein kleines Lächeln. „Machen Sie sich nichts draus, General. Mir liegt ebensowenig daran wie Ihnen, aller Welt zu erzählen, daß ich Sie für ein Wochenende in meinem Büro eingesperrt habe. Man wird annehmen, daß es sich um einen Spion der Neuländer gehandelt hat, der in mein Büro eingedrungen ist, dort eingeschlossen wurde und es schließlich fertigbrachte zu entkommen.“
Ihre Blicke kreuzten sich für einen Augenblick, dann schüttelte Fledermaus den Kopf. „Wie auch immer“, sagte er. „Wir werden uns nicht mehr wiedersehen.“
Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Cletus starrte an die Decke, bis er einschlief.
Mondar kam erst am nächsten Nachmittag und entschuldigte sich, daß er nicht früher kommen konnte.
„Die Nachricht, daß Sie mich sprechen möchten, wurde mit der gewöhnlichen Post zugestellt“, sagte er und nahm in einem Sessel neben Cletus’ Bett Platz. „Offensichtlich hielt es der gute Doktor nicht für eilig, mir Ihre Botschaft zukommen zu lassen.“
„Nein“, sagte Cletus. „Er kennt die Zusammenhänge nicht.“
„Er dachte wohl, ich würde Ihnen sagen, daß ich – oder besser wir Exoten – Ihnen sowieso nicht helfen können“, sagte Mondar langsam. „Ich fürchte, er dürfte recht haben. Nachdem ich Ihre Nachricht erhielt, habe ich einen Bekannten hier im Krankenhaus angerufen. Man sagte mir, daß Ihr Körper aus psychischen Gründen jedes fremde Organ abstößt.“
„Das stimmt“, bestätigte Cletus.
„Er sagte mir, Sie glauben, daß vielleicht ich – oder auch irgendein anderer Exote, der mit Ihnen arbeitet – in der Lage wäre, eine solche psychische Reaktion zu überwinden, bis die Transplantation eines Beines geglückt ist.“
„Ist so was nicht möglich?“ Während er dies sagte, beobachtete Cletus den Exoten aufmerksam.
Mondar schaute vor sich hin und glättete das blaue Gewand, das seine gekreuzten Knie bedeckte. Dann hob er den Blick und schaute Cletus an.
„Unmöglich ist es nicht“, sagte er. „Nicht bei jemandem wie mir, der ich von Kindesbeinen an in der geistigen und physischen Selbstbeherrschung geschult wurde. Ich kann den Schmerz ausschalten und selbst mein Herz stillstehen lassen, wenn ich will.
Ich könnte, wenn ich wollte, sogar meine Immunreaktionen unterdrücken – selbst bei jener Art psychologischer Abwehr, die bei Ihnen vorliegt … Cletus, Sie verfügen über eine ganze Menge natürlicher Begabung, doch Ihnen fehlen all die Jahre der unausgesetzten Übung. Selbst mit meiner Hilfe wären Sie nicht in der Lage, den Abwehrmechanismus Ihres Körpers zu steuern.“
„Sie sind nicht der einzige, der den Schmerz ignorieren kann“, meinte Cletus. „Ich kann es auch, und das wissen Sie genau.“
„Können Sie das wirklich?“ Mondar wirkte interessiert. „Natürlich können Sie das, wenn ich’s mir recht überlege. Damals beim Etter-Paß und auch diesmal bei Zweistrom, als Sie wieder einmal Ihr Knie verletzten, haben Sie ihr Bein über Gebühr strapaziert, wobei Sie eigentlich unerträgliche Schmerzen hätten haben müssen.“
Seine Augen wurden schmal, und ein nachdenklicher Ausdruck trat in sein Gesicht. „Sagen Sie – bekämpfen Sie eigentlich den Schmerz? Ich meine, wollen Sie einfach nicht zugeben, daß Sie Schmerzen haben? Oder ignorieren Sie den Schmerz – das heißt, daß Sie sich des Schmerzgefühls voll bewußt sind, aber nicht zulassen, daß der Schmerz Sie berührt?“
„Ich ignoriere ihn“, erwiderte Cletus. „Ich fange damit an, daß ich mich entspanne, bis ich das Gefühl habe zu schweben. Schon allein durch diese Entspannung läßt der Schmerz deutlich nach. Dann arbeite ich weiter an mir und versuche, den restlichen Schmerz zu vertreiben, bis nichts weiter mehr übrigbleibt als eine Art Druckgefühl. Ich weiß genau, wann es wieder zunimmt oder abnimmt oder ob es ganz verschwindet, aber es bereitet mir weiter keine Schwierigkeiten.“
Mondar nickte langsam. „Sehr gut. In der Tat fast ungewöhnlich gut für ein Selbsttraining“, sagte er. „Sagen Sie mal, können Sie Ihre Träume steuern?“
„Bis zu einem gewissen Maß“, erwiderte Cletus. „Ich kann mir vor dem Einschlafen eine geistige Aufgabe stellen und diese im Schlaf lösen – manchmal in Gestalt eines Traumes. Auf die gleiche Weise kann ich auch im Wachzustand irgendwelche Probleme lösen, während ich einen Teil meines Geistes gewissermaßen isoliere und den Rest meines Geistes und meines Körpers automatisch weiterlaufen lasse.“
Mondar schaute ihn an und schüttelte den Kopf, aber es lag irgendwie Bewunderung darin.
„Sie machen mir Spaß, Cletus“, sagte der Exote. „Würden Sie mir einen Gefallen tun? Schauen Sie auf die Wand zu Ihrer Linken und sagen Sie mir, was Sie sehen.“
Cletus wandte sich von Mondar ab und betrachtete die ebene, senkrechte Fläche der weiß gestrichenen Wand. Er fühlte ein leises, prickelndes Gefühl im Nacken direkt hinter und unter seinem rechten Ohr – und dann folgte eine plötzliche Explosion von Schmerz an der gleichen Stelle, als hätte ihn dort eine Biene gestochen. Cletus atmete ruhig aus. Sobald die Luft aus seiner Lunge gewichen war, ebbte der Schmerz ab und war dann verschwunden. Er wandte sich wieder Mondar zu.
„Ich habe natürlich nichts gesehen“, bemerkte er.
„Natürlich nicht. Es war nichts weiter als ein Trick, um Sie zu veranlassen, den Kopf zu drehen“, sagte Mondar, während er ein Instrument in den Falten seines Gewandes verbarg, das aussah wie ein kleiner mechanischer Schreiber. „Das Interessanteste ist, daß ich kein Zucken der Haut feststellen konnte, was nichts weiter ist als eine physiologische Reaktion. Demnach läßt Ihr Körper keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Sie in der Lage sind, umgehend auf Schmerzen zu reagieren und mit ihnen fertig zu werden.“
Er zögerte einen Augenblick und meinte dann: „Nun gut, Cletus. Ich werde mit Ihnen arbeiten. Aber es ist nur fair, Sie zu warnen, daß ich immer noch keine echte Erfolgschance sehe. Wann soll die Transplantation durchgeführt werden?“
„Ich möchte überhaupt keine Transplantation“, erwiderte Cletus. „Wahrscheinlich gehen Sie recht in der Annahme, daß ich meinen Abwehrmechanismus nicht unterdrücken kann. Also wollen wir etwas anderes machen. Da es sowieso eine langwierige Geschichte wird, wollen wir es mit einer Wunderkur versuchen.“
„Eine Wunderkur?“ wiederholte Mondar langsam.
„Warum auch nicht?“ versetzte Cletus freundlich. „Wunderkuren sind seit Jahrhunderten bekannt. Nehmen wir einmal an, ich unterziehe mich einer Art von symbolischer Operation. In meinem Knie sind weder Fleisch noch Knochen vorhanden, seit mir vor Jahren nach meiner ersten Verwundung eine Knieprothese eingesetzt wurde. Ich möchte, daß dieses Implantat entfernt und durch Fleisch und Knochen aus meinem eigenen Körper ersetzt wird. Dann legen wir beide Knie in Gips“ – sein Blick kreuzte Mondars Blick –, „und wir beide werden uns dann stark konzentrieren, während der Heilungsprozeß stattfindet.“
Mondar saß eine Weile regungslos da, dann erhob er sich.
„Letzten Endes ist alles möglich“, murmelte er. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Ihnen helfen will. Aber diese Sache bedarf der Überlegung und einer Konsultation mit meinen Exoten. Ich werde Sie in ein oder zwei Tagen wieder besuchen.“
Am nächsten Morgen bekam Cletus Besuch von Eachan und Melissa. Zunächst betrat Eachan allein das Krankenzimmer und setzte sich steif auf den Stuhl neben Cletus’ Bett. Cletus, der in seinem Bett aufrecht saß, blickte ihm erwartungsvoll entgegen.
„Wie ich hörte, will man alles tun, um ihr Bein zu erhalten“, sagte Eachan.
„Ich mußte dafür ein paar Arme umdrehen“, erwiderte Cletus lächelnd.
„Ja. Jedenfalls viel Glück.“ Eachan wandte den Blick ab und schaute zum Fenster hinaus. Dann ließ er seine Augen wieder auf Cletus ruhen. „Ich bringe Ihnen alle guten Wünsche meiner Leute und meiner Offiziere“, sagte er. „Sie haben Ihnen den Sieg ohne nennenswerte Verluste versprochen – und haben dann Ihr Versprechen eingelöst.“
„Ich habe eine Schlacht versprochen“, berichtigte ihn Cletus mild. „Und hoffte, daß es keine Zwischenfälle geben würde. Außerdem haben sie selbst zu ihrem Ansehen beigetragen, nämlich durch die Art und Weise, in der sie ihre Befehle durchgeführt haben.“
„Unsinn!“ sagte Eachan brüsk. Er räusperte sich. „Alle Welt weiß, daß Sie zu den Dorsai emigriert sind, und alle Dorsai sind froh darüber. Mir scheint aber, daß Sie etwas vorschnell gehandelt haben. Sie sind nicht allein. Dieser junge Leutnant möchte auch sofort den Dienstherrn wechseln, sobald seine Schulter ausgeheilt ist.“
„Haben sie ihn akzeptiert?“ fragte Cletus.
„Aber natürlich“, sagte Eachan. „Die Dorsai akzeptieren jeden Soldaten mit einigermaßen gutem Ruf. Freilich muß er unsere Offiziersschule absolvieren, wenn er sich uns anschließen will. Aber Marc Dodds hat ihm bereits vorhergesagt, daß er es wahrscheinlich nicht schaffen wird.“
„Er wird es schaffen“, sagte Cletus. „Übrigens möchte ich Ihre Meinung über eine Sache erfahren – jetzt, wo ich selbst ein Dorsai bin. Wenn ich die Mittel, die Trainingsmöglichkeiten und die erforderliche Ausrüstung zur Verfügung stelle – glauben Sie, daß Sie Mannschaften und Offiziere in etwa Regimentsstärke zusammentrommeln können, die bereit sind, an einem Halbjahrestraining teilzunehmen – wenn ich garantieren kann, daß sie nachher bei bedeutend besserer Besoldung beschäftigt werden?“
Reachan schaute nachdenklich drein. „Sechs Monate sind für einen Berufssoldaten eine lange Zeit, um mit dem Existenzminimum auszukommen“, sagte er nach einer Weile. „Doch nach Zweistrom ließe es sich vielleicht einrichten. Es ist nicht nur die Hoffnung auf bessere Bezahlung, so viel dieser Umstand auch für viele der Leute bedeuten mag, zumal die meisten von ihnen eine Familie auf Dorsai haben. Es ist vielmehr die Chance, die man ihnen bietet, am Leben und somit ihren Familien erhalten zu bleiben. Soll ich mich darum kümmern?“
„Ich würde es begrüßen“, sagte Cletus.
„In Ordnung“, meinte Eachan. „Aber wo soll das Geld für dieses Vorhaben herkommen?“
Cletus lächelte. „Ich habe da ein paar Leute im Auge“, erwiderte er. „Ich werde Sie darüber zu einem späteren Zeitpunkt informieren. Sie können den Offizieren und den Leuten, an die Sie herantreten, sagen, daß natürlich alles davon abhängt, ob ich die Mittel beschaffen kann.“
„Natürlich.“ Eachan zwirbelte seinen Schnurrbart. „Melly wartet draußen.“
„Ist sie da?“ fragte Cletus.
„Ja, sie ist mitgekommen. Ich habe sie gebeten, draußen zu warten, weil ich vorher noch eine Privatangelegenheit mit Ihnen zu besprechen habe …“ Eachan zögerte, und Cletus harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Eachans Rücken war so steif und so gerade wie ein Stock. Er hatte die Zähne zusammengebissen, und seine Gesichtshaut sah aus wie ein getanztes Metall.
„Warum heiraten Sie sie nicht?“ fragte er schroff.
„Eachan …“ Cletus brach ab und war einen Augenblick still. „Wieso glauben Sie, daß Melissa mich heiraten will?“
„Melissa mag Sie“, sagte Eachan, „und Ihnen ist das Mädchen auch nicht gleichgültig. Sie beide wären ein gutes Gespann. Sie hat viel Herz, und Sie haben viel Verstand. Ich kenne euch beide besser, als ihr euch gegenseitig kennt.“
Cletus schüttelte langsam den Kopf, weil er im Augenblick nicht die passenden Worte finden konnte.
„Oh, ich weiß, sie tut so, als ob sie alles besser wüßte, auch wenn es nicht der Fall ist, und als ob sie sich einbilde zu wissen, was Ihnen, mir oder sonst wem guttut“, fuhr Eachan fort. „Aber sie kann nichts dafür. Sie hat ein mitfühlendes Herz und einen untrüglichen Instinkt, wie einst ihre Mutter. Und sie ist jung. Sie spürt, wenn einer nicht mit sich zurechtkommt und wundert sich darüber, daß die Leute nicht so handeln, wie sie nach ihrer Vorstellung handeln sollten. Aber sie wird es noch lernen.“
Cletus schüttelte erneut den Kopf. „Und ich?“ fragte er. „Was glauben Sie, was ich lernen muß?“
„Versuchen Sie es. Finden Sie es raus“, gab Eachan zurück.
„Und wenn es schiefgeht, was dann?“ Cletus hob den Blick und schaute ihn grimmig an.
„Dann haben Sie sie zumindest vor deCastries gerettet“, sagte Eachan dumpf. „Sie bearbeitet ihn, damit er auf mich einwirkt, ihr zu folgen – zurück zur Erde. Und ich will versuchen, zumindest die Scherben einzusammeln. Denn was sie hinterläßt, sind nichts als Scherben. Bei einer anderen Frau würde es wenig oder gar nichts ausmachen, aber ich kenne meine Melly. Wollen Sie, daß deCastries sie in die Finger kriegt?“
„Nein“, sagte Cletus plötzlich ganz ruhig. „Und ich glaube nicht, daß sie es will. Das zumindest kann ich Ihnen versprechen.“
„Vielleicht haben Sie recht“, sagte Eachan, indem er sich erhob. Dann machte er auf dem Absatz kehrt. „Ich schicke sie jetzt rein“, sagte er und verließ das Zimmer.
Ein paar Minuten später erschien Melissa unter der Tür. Sie lächelte Cletus von ganzem Herzen an und setzte sich in den gleichen Sessel, aus dem sich Eachan soeben erhoben hatte.
„Ich habe gehört, daß man Ihr Knie in Ordnung bringen will“, sagte sie. „Ich freue mich darüber.“
Er beobachtete ihr Lächeln, und für einen Augenblick war da eine Art physischer Empfindung in seiner Brust, als hätte ihr Anblick tatsächlich sein Herz bewegt. Für einen Moment erklangen Eachans Worte in seinem Ohr, und der Abstand, den ihn das Leben und die Menschen zu halten gelehrt hatten, schien für eine kurze Zeit von ihm zu weichen.
„Ich auch“, hörte er sich sagen.
„Ich habe heute mit Arvid gesprochen …“ Ihre Stimme erstarb. Der Blick ihrer blauen Augen hing wie hypnotisiert an ihm, und er merkte, daß es sein Blick war, der den ihren festhielt.
„Melissa“, sagte er langsam, „was würden Sie sagen, wenn ich Sie fragen würde, ob Sie mich heiraten wollen?“
„Bitte …“ Es war nur ein Flüstern. Er löste seinen Blick von dem ihren, und sie wandte sich ab.
„Sie wissen, daß ich Vater gebeten habe, sich alles reiflich zu überlegen, Cletus“, sagte sie still.
„Ja“, meinte er, „natürlich.“
Sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte ihn an und legte ihre Hand auf die seine, die auf der Bettdecke lag.
„Aber ich wollte eine ganze Menge anderer Dinge mit Ihnen besprechen“, sagte sie. „Wissen Sie, daß Sie ein bemerkenswerter Mann sind?“
„Bin ich das wirklich?“ fragte er mit dem Anflug eines Lächelns.
„Sie wissen es genau“, meinte sie. „Sie haben alles durchgeführt und wahr gemacht, so wie Sie es versprochen haben. Sie haben den Krieg für Bakhalla gewonnen, und das innerhalb weniger Wochen, nur mit Hilfe der Dorsai-Truppen. Und jetzt wollen Sie selbst ein Dorsai werden, und niemand kann Sie davon abhalten, Ihre Bücher zu schreiben. Es ist alles vorbei.“
In seinem Inneren stieg ein Schmerz auf – und der Abstand, den er stets zu halten pflegte, umgab ihn plötzlich wie eine Mauer. Wieder einmal war er allein unter Menschen, die ihn nicht begriffen.
„Ich fürchte, nein“, sagte er. „Es ist noch lange nicht vorbei. Dies ist nur der Schluß des ersten Aktes. Jetzt geht es erst richtig los.“
Sie starrte ihn ungläubig an. „Jetzt soll es erst richtig losgehen?“ wiederholte sie. „Aber Dow kehrt heute Abend zur Erde zurück und wird nicht mehr wiederkommen.“
„Ich fürchte, er wird es tun“, versetzte Cletus.
„Warum sollte er?“
„Weil er ein Mann mit Ambitionen ist“, sagte Cletus.
„Und weil ich ihm zeigen will, wie er seine Ambitionen weiter verfolgen kann.“
„Ambitionen!“ sagte sie verächtlich. „Er ist bereits Minister und einer der fünf Hauptsekretäre des obersten Rates der Koalition. Es kann höchstens noch ein bis zwei Jahre dauern, bis er einen Sitz im Rat erringt. Was würde er sonst wollen? Nach alldem, was er schon erreicht hat!“
„Ehrgeiz läßt sich nicht allein dadurch schüren, daß man mehr Öl ins Feuer gießt“, sagte Cletus. „Für einen ehrgeizigen Mann gilt das, was er bereits besitzt, nichts. Was zählt ist einzig und allein das, was er noch nicht besitzt.“
„Aber was ist es denn, was er noch nicht hat?“ fragte sie ehrlich überrascht.
„Alles, was man sich nur denken kann“, gab Cletus zu bedenken. „Zum Beispiel eine vereinigte Erde unter seiner Herrschaft, die die Außenwelten, ebenfalls unter seiner Führung, kontrolliert.“
Sie starrte ihn ungläubig an. „Die Allianz und die Koalititon unter einem Dach?“ fragte sie. „Das ist unmöglich, und das weiß keiner besser als Dow.“
„Ich habe vor, ihm zu beweisen, daß dies durchaus möglich ist“, sagte Cletus.
Ein Anflug von Zornesröte färbte ihre Wangen. „Sie haben vor …“ Sie brach ab. „Sie glauben wohl, ich bin eine Närrin, um hier zu sitzen und mir das anzuhören!“
„Nein“, sagte er ein wenig traurig, „nicht mehr als jeder andere. Ich habe lediglich gehofft, daß Sie mir einmal vertrauen würden.“
„Ihnen vertrauen!“ Urplötzlich, zu ihrem eigenen Erstaunen, wurde sie von blinder Wut gepackt. „Ich habe recht gehabt, als ich Sie zum ersten Mal sah und Ihnen sagte, Sie seien genau wie mein Vater. Alle Welt glaubt, daß er aus nichts anderem als Leder und Waffen besteht, und daß ihn auch nichts anderes interessiert. In Wirklichkeit bedeuten ihm diese Dinge gar nichts. Fast jeder nimmt an, Sie seien kalt wie eine Hundeschnauze, berechnend, ein Mann ohne Nerven. Nun, ich will Ihnen etwas sagen – Sie können alle Welt zum Narren halten, aber nicht meinen Vater und auch Arvid nicht. Vor allem aber können Sie mich nicht an der Nase herumführen! Sie kümmern sich um die Menschen, so wie sich traditionsgemäß mein Vater um sie kümmert – um Ehre, Mut und Wahrheit und all die Dinge, die wir angeblich nicht mehr besitzen. Das war es, was man ihm auf der Erde genommen hat, und das ist es, was ich ihm wiedergeben will, sobald ich ihn wieder auf der Erde habe, und wenn ich ihn mit Gewalt dorthin schleppen müßte – weil er genauso ist wie Sie. Man muß ihn dazu bringen, sich etwas mehr um sich selbst zu kümmern und das zu erreichen, was er wirklich erreichen möchte.“
„Haben Sie noch nie daran gedacht“, sagte Cletus ruhig, nachdem sie geendet hatte, „daß er all diese traditionellen Dinge bei den Dorsai gefunden haben könnte?“
„Tradition? Bei den Dorsai?“ Es ist Verachtung, die ihrer Stimme eine ungewöhnliche Schärfe verlieh. „Eine Welt voller abgehalfterter Exmilitärs, die ihr Leben bei den Kleinkriegen anderer einsetzen, und das für einen Sold, der kaum an das Gehalt eines Programmierers heranreicht! Können Sie da irgendeine Tradition erkennen?“
„Eine zukünftige Tradition“, sagte Cletus. „Ich glaube, Eachan kann weiter in die Zukunft schauen als Sie, Melissa.“
„Was kümmert mich die Zukunft?“ Sie war aufgesprungen und schaute von oben auf ihn hinab. „Ich will, daß er glücklich wird. Er denkt an jeden, nur nicht an sich selbst. Also muß ich mich um ihn kümmern. Als ich ein kleines Mädchen war und meine Mutter im Sterben lag, hat sie mir – mir – ans Herz gelegt, stark zu sein und für ihn zu sorgen. Und das will ich auch tun.“
Sie wirbelte herum und ging auf die Tür zu. „Und er allein ist es, um den ich mich kümmern will“, rief sie, indem sie stehenblieb und sich unter der Tür noch einmal umdrehte. „Wenn Sie glauben, daß ich mich auch Ihrer annehmen werde, dann sind Sie schief gewickelt! Gehen Sie nur hin und überschlagen Sie sich wegen dieses oder jenes hohen Ideals, anstatt sich hinzusetzen und etwas wirklich Gutes zu tun, indem sie schreiben und arbeiten und das Ziel verfolgen, das Sie sich gesetzt haben!“
Dann verließ sie das Zimmer. Der Mechanismus ließ es nicht zu, daß sie die Tür hinter sich zuwarf – was für diese die einzige Rettung war.
Cletus lehnte sich in seine Kissen zurück und starrte auf die nackte, kahle, weiße Wand. Das Krankenzimmer kam ihm leerer denn je vor.
Allerdings bekam er noch einmal Besuch, bevor der Tag sich neigte. Es war Dow deCastries, der von Wefer Linet ins Zimmer geführt wurde.
„Schauen Sie, Cletus, wen ich da mitgebracht habe!“ sagte Wefer freundlich. „Ich bin dem Minister im Offiziersklub in die Arme gelaufen, wo er mit einigen Exoten seinen Lunch einnahm und mich bat, Ihnen zu Ihrer ausgezeichneten militärischen Leistung zu gratulieren – trotz allem, was die Situation Neuland-Bakhalla betrifft. Ich fragte ihn, warum er seine Glückwünsche nicht persönlich überbringt, und da ist er!“
Er trat beiseite und ließ deCastries eintreten, während er hinter dessen Rücken Cletus zuwinkte. „Ich habe im Hause noch etwas zu besorgen“, sagte Wefer. „Bin sofort zurück.“
Damit verließ er schleunigst das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
„Mußten Sie Wefer als Alibi mitbringen?“ fragte Cletus.
„Die Gelegenheit war günstig.“ Dow zuckte die Schultern und ließ das Thema fallen. „Natürlich möchte ich nicht versäumen, Ihnen zu gratulieren.“
„Natürlich nicht“, meinte Cletus. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“
„Ich stehe lieber“, sagte Dow. „Man hat mir gesagt, Sie wollen sich nun bei den Dorsai vergraben. Wollen Sie nicht mehr weiter an Ihren Büchern arbeiten?“
„Im Augenblick nicht“, versetzte Cletus.
Dow zog die Augenbrauen hoch. „Geht im Augenblick etwas anderes vor?“
„Es gibt ein halbes Dutzend Welten und einige Milliarden Menschen, die befreit werden müssen“, sagte Cletus.
„Befreien?“ lächelte Dow. „Von der Koalition?“
„Von der Erde.“
Dow schüttelte den Kopf, und sein Lächeln wurde ironisch. „Ich wünsche Ihnen Glück“, sagte er. „Und all das nur, um ein paar Bücher zu schreiben?“
Cleutus erwiderte nichts. Er saß aufrecht in seinem Bett, als würde er auf der Lauer liegen. Dows Lächeln erlosch.
„Sie haben recht“, sagte Dow in einem anderen Ton, obwohl Cletus immer noch schwieg. „Die Zeit wird knapp, und ich will noch heute Nachmittag zur Erde zurück. Vielleicht sehen wir uns wieder – sagen wir in sechs Monaten?“
„Ich fürchte, nein“, sagte Cletus. „Aber ich hoffe, Sie hier draußen wiederzusehen – irgendwo auf einer der neuen Welten. Sagen wir – in zwei Jahren?“
Dows dunkle Augen wurden kalt. „Sie haben mich völlig mißverstanden, Cletus“, sagte er. „Ich bin nicht dazu bestimmt, anderen hinterherzulaufen.“
„Ich auch nicht“, versetzte Cletus.
„Ja“, sagte Dow langsam. „Ich verstehe. Vielleicht“, setzte er hinzu, während sein dünnes Lächeln wiederkehrte, „sehen wir uns bei Philippi wieder.“
„Das ist der einzige Ort, wo wir uns wiedersehen könnten“, gab Cletus zurück.
„Ich glaube fast, daß Sie recht haben. Also gut“, sagte Dow. Er trat einen Schritt zurück und öffnete die Tür. „Ich wünsche Ihnen gute Genesung mit Ihrem Bein.“
„Und Ihnen eine gute Reise zur Erde“, sagte Cletus.
Dow drehte sich um und ging hinaus. Ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf, und Wefer steckte den Kopf herein.
„Ist deCastries gegangen?“ fragte er. „Das war aber ein kurzer Besuch.“
„Wir haben gesagt, was wir uns zu sagen hatten“, erwiderte Cletus. „Es bestand für ihn kein Grund, länger zu verweilen.“