7

 

Cle­tus er­wach­te mit dem Ge­fühlt, daß je­mand ver­such­te, sein lin­kes Knie lang­sam, aber si­cher zu bre­chen. Der dump­fe Schmerz hat­te ihn aus dem Schlaf ge­ris­sen, und für einen Au­gen­blick war er dann ganz ge­fan­gen – der Schmerz füll­te sein gan­zes Be­wußt­sein rest­los aus.

Dann aber ge­wann sein prak­ti­scher Sinn wie­der die Ober­hand. Er roll­te sich auf den Rücken und starr­te zu der wei­ßen De­cke hin­auf, die sich sie­ben Fuß über sei­nem Kopf be­fand. Er be­gann bei der Ober­schen­kel­mus­ku­la­tur und be­fahl den großen Mus­keln sei­ner Ar­me und Bei­ne, sich zu ent­span­nen. Dann ka­men die Nacken- und Ge­sichts­mus­keln dran, schließ­lich die Bauch­mus­ku­la­tur, bis er spür­te, daß sich sein gan­zer Kör­per ent­spann­te.

Sein Kör­per fühl­te sich jetzt schwer und schlaff an, die Au­gen wa­ren halb ge­schlos­sen. Er lag da, un­be­rührt von den ver­schie­de­nen lei­sen Ge­räuschen, die aus an­de­ren Räu­men der Un­ter­kunft zu ihm dran­gen. Er trieb lei­se und leicht wie über die Ober­flä­che ei­nes war­men Ozeans da­hin.

Der Ent­span­nungs­zu­stand, den er sich sug­ge­riert hat­te, lös­te all­mäh­lich die Schmer­zen in sei­nem Knie. Lang­sam und vor­sich­tig, da­mit der Schmerz und die Span­nung nicht zu­rück­ka­men, griff er nach dem Kis­sen in sei­nem Rücken und rich­te­te sich im Bett auf. Halb sit­zend streif­te er die De­cken ab und be­trach­te­te sein lin­kes Bein.

Das Knie war auf­ge­dun­sen, steif und ge­schwol­len. Es hat­te sich zwar nicht ver­färbt, aber es war bis zur Be­we­gungs­lo­sig­keit ge­schwol­len. Er kon­zen­trier­te sei­nen Blick auf sein ge­schwol­le­nes Knie und nahm al­le sei­ne Kräf­te zu­sam­men, um es wie­der ei­ni­ger­ma­ßen nor­mal und be­weg­lich zu ma­chen.

Im­mer noch schwe­bend, im­mer noch da­hin­trei­bend in je­nem fast pri­mi­ti­ven Geis­tes­zu­stand, den man all­ge­mein als Re­gres­si­on be­zeich­net, ver­such­te er, zwi­schen sei­nen Schmer­zen im Knie und der Schmerz­mel­dung in sei­nem Ge­hirn ei­ne Ver­bin­dung her­zu­stel­len und gleich­zei­tig die Mel­dung in ein geis­ti­ges Äqui­va­lent je­ner phy­si­schen Ent­span­nung und Ru­he um­zu­wan­deln, die be­reits sei­nen Kör­per be­herrsch­te. Wäh­rend er so da­hin­schweb­te, merk­te er, daß die Schmerz­mel­dung all­mäh­lich ver­blaß­te. Sie schwand im­mer mehr da­hin, wie ei­ne mit un­sicht­ba­rer Tin­te ge­schrie­be­ne Nach­richt, die im­mer mehr ver­blaß­te und schließ­lich un­sicht­bar wur­de.

Das, was er zu­vor als Schmerz emp­fun­den hat­te, war im­mer noch in sei­nem Knie vor­han­den. Doch es war le­dig­lich ei­ne Wahr­neh­mung, we­der Schmerz noch Druck, den­noch mit die­sem wie mit je­nem Ge­fühl ver­wandt. Jetzt, nach­dem er den frü­he­ren Schmerz als ge­trenn­te Wahr­neh­mungs­ein­heit er­kannt hat­te, be­gann er sich auf das phy­si­sche Ge­fühl von Druck zwi­schen Blut und Schen­kel zu kon­zen­trie­ren, wo die Blut­ge­fäße der­art ge­schwol­len wa­ren, daß sein Bein prak­tisch ge­lähmt war.

Er ver­such­te sich sei­ne Blut­ge­fäße vor­zu­stel­len. Dann kon­zen­trier­te er sich auf die Ve­nen und die Ar­te­ri­en und dach­te an ih­re Funk­ti­on und Re­ak­ti­on. Er konn­te buch­stäb­lich se­hen, wie sich die Ge­fäße ent­spann­ten, sich zu­sam­men­zo­gen und ih­ren flüs­si­gen In­halt zu je­nem Röh­ren­sys­tem im Bein lenk­ten, zu dem zahl­rei­che An­schlüs­se führ­ten.

Et­wa zehn Mi­nu­ten lang konn­te er kei­ne Re­ak­ti­on aus dem Knie­be­reich spü­ren. Doch dann merk­te er, wie der Druck all­mäh­lich nachließ und sich woh­li­ge Wär­me in sei­nem Knie aus­brei­te­te. Nach wei­te­ren fünf Mi­nu­ten sah er, daß die Schwel­lung tat­säch­lich zu­rück­ging. Und zehn Mi­nu­ten spä­ter war das Knie zwar im­mer noch ge­schwol­len, aber er konn­te es um gu­te sech­zig Grad bie­gen. Das reich­te vollauf. Er schwang sich mit bei­den Bei­nen aus dem Bett, stand auf und be­gann sich an­zu­klei­den.

Er war ge­ra­de da­mit be­schäf­tigt, das Kop­pel um sei­ne Dschun­gel­klei­dung zu le­gen, als es an sei­ne Tür klopf­te. Cle­tus warf einen Blick auf die Uhr ne­ben sei­nem Bett. Sie zeig­te acht Mi­nu­ten vor fünf.

„Im­mer her­ein“, sag­te er.

Ar­vid trat ins Zim­mer.

„Sie sind aber früh auf den Bei­nen, Arv“, sag­te Cle­tus, ließ sein Kop­pel­schloß ein­schnap­pen und streck­te die Hand nach der Pis­to­le aus, die ne­ben ihm auf der Kom­mo­de lag. Er ließ die Waf­fe in das Half­ter glei­ten, das an sei­nem Gür­tel hing. „Ha­ben Sie al­les be­kom­men, was ich brau­che?“

„Ja­wohl, Sir“, sag­te Ar­vid. „Laut­spre­cher und Mi­nen sind im Ge­päck ver­staut. Das Ge­wehr konn­te ich nicht un­ter­brin­gen, doch es be­fin­det sich beim Ge­päck, das am Flug­e­sel be­fes­tigt wur­de.“

„Und der Flug­e­sel selbst?“

„Ich ha­be ihn im Ge­päck­raum ei­nes Ku­rier­wa­gens ge­fun­den, au­ßer­halb …“ Ar­vid zö­ger­te. „Ich woll­te ei­gent­lich mit­ge­hen, Sir, aber die Or­der lau­te­te nur auf Sie, eben­so der Be­fehl des kom­man­die­ren­den Fel­d­of­fi­ziers, der die Kom­pa­nie lei­tet. Sie ha­ben einen Ober­leut­nant für Sie ab­ge­stellt, einen ge­wis­sen Bill Athyer.“

„Und die­ser Bill Athyer ist nicht so gut, was?“ frag­te Cle­tus freund­lich, wäh­rend er sei­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­helm auf­setz­te und aus dem Zim­mer ging.

„Wie soll ich das wis­sen?“ Ar­vid starr­te Cle­tus an und folg­te ihm, wäh­rend er den lan­gen Mit­tel­gang des Of­fi­zier­s­quar­tiers ent­lang­ging.

Cle­tus lä­chel­te ihn an und hum­pel­te wei­ter, doch er zö­ger­te sei­ne Ant­wort hin­aus, bis sie durch den Haupt­aus­gang in die duns­ti­ge Dun­kel­heit des frü­hen Mor­gens hin­austra­ten, wo der Ku­rier­wa­gen auf Cle­tus war­te­te. Sie stie­gen ein, und Ar­vid setz­te sich hin­ters Steu­er. Als der hoch­ge­wach­se­ne jun­ge Leut­nant das Fahr­zeug auf den Luft­kis­sen da­hinglei­ten ließ, fuhr Cle­tus fort:

„Ich ha­be mir schon fast ge­dacht, daß mir der Ge­ne­ral so einen Bur­schen auf­drän­gen wür­de. Ma­chen Sie sich nichts dar­aus, Arv. Sie wer­den nach La­ge der Din­ge an die­sem Tag al­le Hän­de voll zu tun ha­ben. Sie sol­len für mich einen Bü­roraum fin­den und einen klei­nen Stab zu­sam­men­stel­len – einen zu­ver­läs­si­gen Of­fi­zier als Bü­ro­vor­ste­her, ein paar Schrei­ber und einen Mann für die Ab­la­ge, al­le mög­lichst tech­nisch ver­siert und mit In­ter­es­sen oder Fä­hig­kei­ten in Rich­tung For­schung. Kön­nen Sie das or­ga­ni­sie­ren?“

„Ja­wohl, Sir“, er­wi­der­te Ar­vid. „Aber ich weiß nicht, ob un­se­re Voll­macht für sol­che Din­ge reicht …“

„Na­tür­lich nicht, noch nicht“, mein­te Cle­tus. „Aber ich wer­de ei­ne sol­che Voll­macht für Sie ein­ho­len. Se­hen Sie zu, daß Sie den ent­spre­chen­den Platz und die Leu­te fin­den, da­mit wir wis­sen, wo sie ver­füg­bar sind, so­bald wir die Voll­macht ha­ben.“

„Ja­wohl, Sir“, sag­te Ar­vid.

Im Trans­port­be­zirk an­ge­kom­men, stieß Cle­tus zu sei­ner Kom­pa­nie un­ter dem Kom­man­do von Ober­leut­nant Wil­liam Athyer. Die Kom­pa­nie stand be­reit, Ge­wehr bei Fuß, ge­rüs­tet und be­waff­net und of­fen­sicht­lich ab­marsch­be­reit. Cle­tus nahm an, daß die Leu­te be­reits ge­früh­stückt hat­ten – da er aber nicht ihr kom­man­die­ren­der Of­fi­zier war, war es auch nicht sei­ne Pflicht, dies nach­zu­prü­fen. Und Athyer da­nach zu fra­gen wä­re takt­los, wenn nicht so­gar be­lei­di­gend ge­we­sen. Cle­tus stieg steif­bei­nig aus dem Ku­rier­wa­gen und be­ob­ach­te­te, wie Ar­vid den Flug­e­sel nebst Aus­rüs­tung aus­lud.

„Oberst Gra­ha­me?“ sag­te ei­ne Stim­me hin­ter sei­nem Rücken. „Ich bin Ober­leut­nant Athyer, kom­man­die­ren­der Of­fi­zier die­ser Kom­pa­nie. Wir sind ab­marsch­be­reit …“

Cle­tus dreh­te sich um. Athyer war ein klei­ner, dunk­ler, ziem­lich schlan­ker Mann Mit­te Drei­ßig mit ei­ner Ha­ken­na­se. Er schau­te aus ei­nem Ge­sicht mit säu­er­li­chen Zü­gen in die Welt, als wür­de er per­ma­nent et­was übel­neh­men. Sei­ne Spra­che war ab­rupt, fast ag­gres­siv, doch sei­ne Wor­te nah­men am Sat­zen­de stets einen wei­ner­li­chen Ton an.

„Jetzt, wo Sie end­lich da sind, Sir“, setz­te er hin­zu.

Die­se un­nö­ti­ge Be­mer­kung grenz­te schon fast an Im­per­ti­nenz. Aber Cle­tus über­hör­te sie und schau­te über Athyers Schul­ter hin­weg auf die Män­ner, die hin­ter dem Ober­leut­nant stan­den. Ih­re son­nen­ge­bräun­ten Ge­sich­ter und das Ge­misch ih­rer al­ten und neu­en Aus­rüs­tung so­wie Klei­dung zeug­ten von Er­fah­rung. Aber sie wa­ren schweig­sa­mer als üb­lich, und Cle­tus kann­te zwei­fel­los den Grund für ih­re Schweig­sam­keit. Mit­ten im Ur­laub zu den Waf­fen ge­ru­fen und in den Kampf ge­schickt zu wer­den, war für einen Sol­da­ten nicht ge­ra­de er­freu­lich. Cle­tus’ Blick wan­der­te wie­der zu Athyer.

„Al­so wol­len wir gleich mit der Ver­schif­fung ge­win­nen, nicht wahr, Ober­leut­nant?“ sag­te er freund­lich. „Bit­te wei­sen Sie mir einen Platz zu.“

„Uns ste­hen für den Trans­port zwei Luft­schif­fe zur Ver­fü­gung“ knurr­te Athyer. „Mein Ober­feld­we­bel fährt im zwei­ten mit. Sie soll­ten lie­ber bei mir im ers­ten Platz neh­men, Oberst …“

Er brach ab und starr­te auf den Flug­e­sel, des­sen Ro­tor­blät­ter sich jau­lend in Be­we­gung setz­ten. Ar­vid hat­te so­eben die Tur­bi­ne in Gang ge­setzt, und das Ein­mann-Fahr­zeug er­hob sich in die Luft, so daß es leicht mit ei­ge­ner Kraft zum Schiff flie­gen konn­te. Of­fen­sicht­lich hat­te Athyer das Fahr­zeug bis zu die­sem Au­gen­blick nicht mit Cle­tus in Ver­bin­dung ge­bracht. Es war aber auch ein merk­wür­di­ges Fahr­zeug für einen sol­chen Aus­flug – ein Ge­fährt, ur­sprüng­lich für die Raum­ha­fen­in­spek­ti­on ge­dacht, ein Fahr­rad­ge­stell oh­ne Rä­der, von dem aus hin­ten und vorn Me­tall­stä­be nach un­ten führ­ten, wel­che zwei Paar ge­gen­lau­fen­de Ro­to­ren hiel­ten, die von ei­ner nu­kle­ar ge­speis­ten Tur­bi­ne an­ge­trie­ben wur­den, die di­rekt un­ter ih­nen hing. Cle­tus’ Ge­wehr und sein Ge­päck wa­ren am Quer­stre­ben vor dem Sat­tel be­fes­tigt.

Das Fahr­zeug sah wirk­lich nicht hübsch aus, aber das soll­te kein Grund für Athyer sein, das Ding so fins­ter und miß­trau­isch zu be­trach­ten.

„Was ist das?“ woll­te er wis­sen.

„Das ist für mich, Ober­leut­nant“, sag­te Cle­tus zu­vor­kom­mend. „Sie wis­sen, daß ich an mei­nem lin­ken Knie ei­ne Teil­pro­the­se tra­ge. Ich woll­te Sie und Ih­re Leu­te nicht un­nö­tig be­hin­dern, wenn man sich ir­gend­wo am Bo­den schnell be­we­gen muß.“

„Oh? Nun …“ Athyer schau­te im­mer noch fins­ter vor sich hin. Da er je­doch den Satz nicht vollen­de­te, war es of­fen­sicht­lich, daß er krampf­haft nach ei­nem Grund such­te, um die­ses Ge­rät ab­zu­leh­nen. Cle­tus war im­mer­hin Oberst­leut­nant. Athyer wand­te sich um und fauch­te Ar­vid an: „Als­dann be­ge­ben Sie sich an Bord, Leut­nant! Und ein biß­chen dal­li.“

Dann wand­te er sich ab und sah zu, daß die un­ge­fähr acht­zig Mann star­ke Trup­pe an Bord der bei­den Luft­schif­fe ging, die ei­ni­ge Me­ter wei­ter auf dem Trans­port­ge­län­de park­ten.

Das Be­la­den der Schif­fe ging glatt und schnell vor sich. In­ner­halb zwan­zig Mi­nu­ten flo­gen sie be­reits nach Nor­den über die Wip­fel der Ur­wald­bäu­me hin­weg in Rich­tung Et­ter-Paß, wäh­rend der Him­mel über der fer­nen Berg­ket­te in der Mor­gen­däm­me­rung erblaß­te.

„Was ha­ben Sie vor, Ober­leut­nant?“ frag­te Cle­tus, wäh­rend er Athyer im klei­nen Pas­sa­gier­ab­teil des Schif­fes ge­gen­über­saß.

„Ich ho­le die Kar­te“, sag­te Athyer, wäh­rend er grol­lend un­ter Cle­tus’ Blick hin­weg­tauch­te. Er wühl­te in dem Me­tall­be­häl­ter, der zwi­schen sei­nen Stie­feln in den Bo­den ein­ge­las­sen war, und hol­te ei­ne Land­kar­te her­vor, wel­che die exo­ti­sche Sei­te der Ber­ge zeig­te, die den Et­ter-Paß um­ga­ben. Er brei­te­te die Kar­te über sei­nen und Cle­tus’ Kni­en aus.

„Ich wer­de ei­ne Pos­ten­ket­te auf­stel­len“, sag­te Athyer, wäh­rend er mit dem Fin­ger einen Bo­gen durch den Dschun­gel auf den Berg­hän­gen un­ter­halb des Pas­ses zog, „un­ge­fähr drei­hun­dert Me­ter wei­ter un­ten. Eben­so pos­tie­re ich ein paar Re­serve­grup­pen hoch oben hin­ter der Pos­ten­ket­te zu bei­den Sei­ten der Paß­mün­dung. Wenn dann die Neu­län­der durch den Paß kom­men und weit ge­nug über den Paß vor­drin­gen, so daß sie den un­te­ren Kur­ven­ast der Pos­ten­ket­te er­rei­chen, kön­nen sich die Re­serve­grup­pen hin­ter sie schie­ben und sie um­zin­geln … Das heißt, wenn über­haupt Gue­ril­las über den Paß kom­men.“

Cle­tus über­hör­te die Schluß­fol­ge­rung der Er­läu­te­run­gen. „Was ist, wenn die Gue­ril­las nicht ge­ra­de­wegs über den Pfad kom­men?“ frag­te er. „Was, wenn sie so­fort nach rechts oder links di­rekt in den Dschun­gel ab­bie­gen, so­bald sie sich dies­seits der Ber­ge be­fin­den?“

Athyer starr­te Cle­tus erst aus­drucks­los, dann är­ger­lich an, wie ein Stu­dent, der ei­ne Ex­amens­fra­ge für un­fair hielt.

„Mei­ne Stütz­trup­pen könn­ten vor ih­nen da sein“, sag­te er schließ­lich un­gnä­dig, „und den Rest der Pos­ten­ket­te alar­mie­ren. Die üb­ri­gen könn­ten sich im­mer noch hin­ter ih­rem Rücken zu­sam­menschlie­ßen. In je­dem Fall wür­den wir sie um­zin­geln.“

„Wie groß ist die Sicht­wei­te hier im Dschun­gel, Leut­nant?“ frag­te Cle­tus.

„Fünf­zehn bis zwan­zig Me­ter“, er­wi­der­te Athyer.

„Dann wird es der Rest Ih­rer Pos­ten­ket­te schwer ha­ben, Stel­lung zu be­zie­hen und sich berg­auf in ei­nem Win­kel zu be­we­gen, um die Gue­ril­las ein­zu­krei­sen, die sich zu die­sem Zeit­punkt be­reits in Zwei­er- und Drei­er­grup­pen auf­tei­len wer­den, um dann zur Küs­te aus­zu­schwär­men. Mei­nen Sie nicht auch?“ „Wir müs­sen un­ser mög­lichs­tes tun“, mein­te Athyer mür­risch.

„Aber es gibt noch an­de­re Mög­lich­kei­ten“, sag­te Cle­tus. Er zeig­te auf die Kar­te. „Die Gue­ril­las ha­ben den Milch­fluß zu ih­rer Rech­ten, wenn sie aus dem Paß kom­men und den Blau­en Fluß zu ih­rer Lin­ken, und die bei­den Flüs­se ver­ei­ni­gen sich un­ten bei der Stadt Zwei­strom. Das heißt, daß die Neu­län­der in je­dem Fall über­set­zen müs­sen, egal wo sie sich hin­wen­den. Schau­en Sie sich ein­mal die Kar­te an. Ober­halb der Stadt gibt es am Blau­en Fluß nur drei ge­eig­ne­te Punk­te zum Über­set­zen, und am Milch­fluß gar nur zwei – so­fern sie sich nicht ent­schlie­ßen, quer durch die Stadt zu mar­schie­ren, was sie mit Si­cher­heit nicht tun wer­den. Dem­nach könn­ten sie je­de die­ser fünf Stel­len be­nut­zen.“

Cle­tus leg­te ei­ne Pau­se ein und war­te­te, ob der Of­fi­zier sei­nen un­aus­ge­spro­che­nen Vor­schlag be­griff. Doch Athyer ge­hör­te of­fen­sicht­lich zu je­nen Men­schen, de­nen man al­les vor­kau­en muß­te.

„Es geht um fol­gen­des, Ober­leut­nant“, er­läu­ter­te Cle­tus. „Warum soll man ver­su­chen, die­se Gue­ril­las im Dschun­gel um den Paß her­um ab­zu­fan­gen, wo sie ei­ne Men­ge Mög­lich­kei­ten ha­ben zu ent­wi­schen, wenn man ein­fach an die­sen Punk­ten auf sie war­ten und sie zwi­schen den bei­den Flüs­sen ein­schlie­ßen kann?“

Athyer run­zel­te är­ger­lich die Stirn, doch dann beug­te er sich über die Kar­te, um die fünf Punk­te aus­zu­ma­chen, die Cle­tus er­wähnt hat­te.

„Die bei­den Punk­te am Milch­fluß“, fuhr Cle­tus fort, „lie­gen dem Paß am nächs­ten. Au­ßer­dem lie­gen Sie auf dem di­rek­tes­ten Weg zur Küs­te. Die Gue­ril­las, die über den Blau­en Fluß ge­hen wol­len, müs­sen einen großen Bo­gen ma­chen, um die Stadt un­ten si­cher zu um­ge­hen. Die Neu­län­der sind sich klar dar­über, daß wir dies wis­sen. Ich möch­te al­so wet­ten, sie rech­nen da­mit, daß Sie ver­su­chen wer­den, sie an die­sen bei­den Stel­len ab­zu­fan­gen – wenn sie über­haupt da­mit rech­nen, daß je­mand ver­su­chen will, sie auf­zu­hal­ten. Sie wer­den sich al­so mög­li­cher­wei­se in die­ser Rich­tung ori­en­tie­ren und ver­su­chen, den Blau­en Fluß an die­sen drei Punk­ten zu über­que­ren.“

Athyer starr­te auf Cle­tus’ Fin­ger, wie er Punkt für Punkt über die Kar­te glitt. Das Ge­sicht des Ober­leut­nant spann­te sich.

„Nein, nein, Oberst“, sag­te er, nach­dem Cle­tus ge­en­det hat­te. „Sie ken­nen die­se Neu­län­der nicht so gut wie ich. Zu­nächst ein­mal – wie­so soll­ten sie an­neh­men, daß wir sie über­haupt er­war­ten? Zwei­tens sind sie gar nicht so smart. Sie wer­den über den Paß kom­men, sich in Zwei­er- und Drei­er­grup­pen auf­tei­len und sich an ei­ner, viel­leicht auch an zwei Stel­len am Milch­fluß wie­der ver­ei­ni­gen.“

„Ich bin da an­de­rer Mei­nung …“ be­gann Cle­tus, doch dies­mal schnitt ihm Athyer buch­stäb­lich das Wort ab.

„Mein Wort dar­auf, Oberst!“ sag­te er. „Es sind die­se bei­den Punk­te am Milch­fluß, wo sie über­set­zen wer­den.“

Er rieb sich die Hän­de. „Und dort wer­de ich sie schnap­pen!“ fuhr er fort. „Ich über­neh­me mit der Hälf­te der Mann­schaft die Stel­le wei­ter un­ten, und mein Feld­we­bel kann mit dem Rest die an­de­re Stel­le be­set­zen. Wir brau­chen dann nur noch ein paar Mann hin­ter Ih­rem Rücken, um Ih­nen den Rück­zug ab­zu­schnei­den, und ich ha­be sie al­le im Sack.“

„Sie füh­ren das Kom­man­do“, mein­te Cle­tus. „Al­so möch­te ich mich nicht mit Ih­nen strei­ten. Ge­ne­ral Tray­nor aber war der Mei­nung, ich soll­te Ih­nen mei­ne Hil­fe an­bie­ten, und ich glau­be, daß Sie am Blau­en Fluß bes­ser pos­tiert wä­ren. Wenn es nach mir gin­ge …“

Cle­tus ließ den Satz un­voll­en­det. Die Hän­de des Ober­leut­nants, die die be­reits halb zu­sam­men­ge­fal­te­te Map­pe hiel­ten, wur­den ru­hi­ger und san­ken in den Schoß. Cle­tus, der auf den ge­senk­ten Kopf sei­nes Ge­gen­übers hin­ab­schau­te, konn­te fast spü­ren, wie der an­de­re die Kral­len ein­zog und wie es in ihm ar­bei­te­te. Zu die­sem Zeit­punkt hat­te Athyer al­le Zwei­fel an sei­ner ei­ge­nen mi­li­tä­ri­schen Ur­teils­fä­hig­keit hin­ter sich ge­las­sen. Den­noch – Si­tua­tio­nen, in die Ge­nerä­le und Obers­ten ver­wi­ckelt wa­ren, ka­men ei­nem Ober­leut­nant doch sehr de­li­kat vor, ganz gleich, wer die Trümp­fe in der Hand hat­te.

„Ich könn­te nicht mehr als ei­ne klei­ne Grup­pe un­ter ei­nem Kor­po­ral ent­beh­ren“, mur­mel­te Athyer, wäh­rend er im­mer noch auf die Kar­te starr­te. Er zö­ger­te, dann schau­te er auf und mein­te: „Es ist Ihr Vor­schlag, Oberst. Wenn Sie viel­leicht be­reit wä­ren, die Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, einen Teil mei­ner Leu­te zum Blau­en Fluß ab­zu­kom­man­die­ren …“

„Aber si­cher“, sag­te Cle­tus. „Doch wie Sie schon sag­ten, ich bin kein Fel­d­of­fi­zier und kann da­her nicht das Kom­man­do über ir­gend­wel­che Kampf­trup­pen über­neh­men …“

Athyer grins­te. „Wenn’s wei­ter nichts ist!“, sag­te er. „Hier drau­ßen wer­den die Vor­schrif­ten nicht im­mer wort­wört­lich ge­nom­men, Oberst. Ich brau­che nur dem Kor­po­ral zu sa­gen, daß er zu tun hat, was Sie be­feh­len.“

„Was ich be­feh­le? Mei­nen Sie – ge­nau das, was ich ihm sa­ge?“ frag­te Cle­tus.

„Ge­nau das“, mein­te Athyer. „Sie wis­sen, daß es für sol­che Art von Not­fäl­len ei­ne Son­der­re­ge­lung gibt. Als kom­man­die­ren­der Of­fi­zier ei­ner iso­lier­ten Ein­heit darf ich im Not­fall je­des Mi­li­tär­per­so­nal nach Gut­dün­ken ein­set­zen. Ich wer­de dem Kor­po­ral sa­gen, daß Sie vor­über­ge­hend in den Sta­tus ei­nes Ih­rem Rang ent­spre­chen­den Fel­d­of­fi­ziers ver­setzt sind.“

„Wenn aber die Gue­ril­las am Blau­en Fluß über­set­zen“, gab Cle­tus zu be­den­ken, „steht mir nur ei­ne klei­ne Grup­pe zur Ver­fü­gung.“

„Das wer­den sie nicht tun, Oberst“, sag­te Athyer und fal­te­te die Kar­te zu­sam­men. „Das wer­den sie ganz ge­wiß nicht tun. Doch soll­ten wirk­lich ein paar Neu­län­der auf­tau­chen – dann tun Sie ihr mög­lichs­tes. Ein Tak­ti­ker und Fach­mann wie Sie, Sir, müß­te in der La­ge sein, ei­ne der­ar­ti­ge Ba­ga­tel­le zu er­le­di­gen.“

Mit ei­nem höh­ni­schen Lä­cheln er­hob er sich und ging, die Land­kar­te in der Hand, in das hin­te­re Pas­sa­gier­ab­teil zu­rück, wo die Hälf­te sei­ner Leu­te sa­ßen.

Das Schiff, in dem Cle­tus saß, setz­te ihn und sei­ne Leu­te am obers­ten der drei mög­li­chen Über­gangs­stel­len am Blau­en Fluß ab und ver­schwand dann zwi­schen den Schat­ten der Däm­me­rung, die die west­li­chen Hän­ge der Ber­ge um­hüll­ten, die zwi­schen Bak­hal­la und Neu­land la­gen. Athyer hat­te sich einen hoch auf­ge­schlos­se­nen neun­zehn­jäh­ri­gen Kor­po­ral na­mens Ed Jarn­ki aus­ge­sucht, da­zu sechs wei­te­re Män­ner, die dem Kom­man­do von Cle­tus un­ter­stellt wer­den soll­ten. Im glei­chen Au­gen­blick, als die sie­ben Män­ner aus­ge­la­den wur­den, setz­ten sie auch schon au­to­ma­tisch den Fuß auf den Bo­den und lehn­ten sich be­quem ge­gen die Baum­stäm­me und Fel­sen, die aus dem schier un­durch­dring­li­chen Grün des Dschun­gels her­vor­schau­ten. Sie be­fan­den ich auf ei­ner klei­nen, von ho­hen Bäu­men um­ge­be­nen Lich­tung in der Nä­he ei­nes schma­len Ufer­strei­fens. Die Leu­te blick­ten Cle­tus fra­gend an, als er sich ih­nen zu­wand­te.

Cle­tus er­wi­der­te wort­los ih­ren Blick. Dann rap­pel­ten sich Jarn­ki, der Kor­po­ral und der Rest der Mann­schaft hoch, um sich in lo­cke­rer Rei­he und ei­ner Art Ha­bacht­stel­lung Cle­tus zu prä­sen­tie­ren.

Cle­tus lä­chel­te. Er kam sich wie aus­ge­wech­selt vor, wie ein ganz an­de­rer Mensch als je­ner Of­fi­zier, den die Leu­te zu Ge­sicht be­kom­men hat­ten, als sie an Bord gin­gen. Die gu­te Lau­ne war nicht aus sei­nem Ge­sicht ge­wi­chen. Doch jetzt war et­was Kraft­vol­les, Be­stän­di­ges und In­ten­si­ves an ihm, wäh­rend er die Leu­te an­schau­te. Ei­ne Art von mensch­li­cher Elek­tri­zi­tät ging von ihm aus, die ge­gen ih­ren Wil­len ih­re Ner­ven auf­peitsch­te.

„So ist es schon bes­ser“, sag­te Cle­tus. Selbst sei­ne Stim­me hat­te sich ver­än­dert. „Gut, ihr seid al­so die Leu­te, die aus­zie­hen wer­den, um dort oben am Et­ter-Paß die Sie­ger des heu­ti­gen Ta­ges zu wer­den. Und wenn ihr al­le Be­feh­le ent­spre­chend be­folgt, wer­det ihr sie­gen, oh­ne daß es viel Mü­he kos­tet und euch auch nur ein Haar ge­krümmt wird.“