7
Cletus erwachte mit dem Gefühlt, daß jemand versuchte, sein linkes Knie langsam, aber sicher zu brechen. Der dumpfe Schmerz hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, und für einen Augenblick war er dann ganz gefangen – der Schmerz füllte sein ganzes Bewußtsein restlos aus.
Dann aber gewann sein praktischer Sinn wieder die Oberhand. Er rollte sich auf den Rücken und starrte zu der weißen Decke hinauf, die sich sieben Fuß über seinem Kopf befand. Er begann bei der Oberschenkelmuskulatur und befahl den großen Muskeln seiner Arme und Beine, sich zu entspannen. Dann kamen die Nacken- und Gesichtsmuskeln dran, schließlich die Bauchmuskulatur, bis er spürte, daß sich sein ganzer Körper entspannte.
Sein Körper fühlte sich jetzt schwer und schlaff an, die Augen waren halb geschlossen. Er lag da, unberührt von den verschiedenen leisen Geräuschen, die aus anderen Räumen der Unterkunft zu ihm drangen. Er trieb leise und leicht wie über die Oberfläche eines warmen Ozeans dahin.
Der Entspannungszustand, den er sich suggeriert hatte, löste allmählich die Schmerzen in seinem Knie. Langsam und vorsichtig, damit der Schmerz und die Spannung nicht zurückkamen, griff er nach dem Kissen in seinem Rücken und richtete sich im Bett auf. Halb sitzend streifte er die Decken ab und betrachtete sein linkes Bein.
Das Knie war aufgedunsen, steif und geschwollen. Es hatte sich zwar nicht verfärbt, aber es war bis zur Bewegungslosigkeit geschwollen. Er konzentrierte seinen Blick auf sein geschwollenes Knie und nahm alle seine Kräfte zusammen, um es wieder einigermaßen normal und beweglich zu machen.
Immer noch schwebend, immer noch dahintreibend in jenem fast primitiven Geisteszustand, den man allgemein als Regression bezeichnet, versuchte er, zwischen seinen Schmerzen im Knie und der Schmerzmeldung in seinem Gehirn eine Verbindung herzustellen und gleichzeitig die Meldung in ein geistiges Äquivalent jener physischen Entspannung und Ruhe umzuwandeln, die bereits seinen Körper beherrschte. Während er so dahinschwebte, merkte er, daß die Schmerzmeldung allmählich verblaßte. Sie schwand immer mehr dahin, wie eine mit unsichtbarer Tinte geschriebene Nachricht, die immer mehr verblaßte und schließlich unsichtbar wurde.
Das, was er zuvor als Schmerz empfunden hatte, war immer noch in seinem Knie vorhanden. Doch es war lediglich eine Wahrnehmung, weder Schmerz noch Druck, dennoch mit diesem wie mit jenem Gefühl verwandt. Jetzt, nachdem er den früheren Schmerz als getrennte Wahrnehmungseinheit erkannt hatte, begann er sich auf das physische Gefühl von Druck zwischen Blut und Schenkel zu konzentrieren, wo die Blutgefäße derart geschwollen waren, daß sein Bein praktisch gelähmt war.
Er versuchte sich seine Blutgefäße vorzustellen. Dann konzentrierte er sich auf die Venen und die Arterien und dachte an ihre Funktion und Reaktion. Er konnte buchstäblich sehen, wie sich die Gefäße entspannten, sich zusammenzogen und ihren flüssigen Inhalt zu jenem Röhrensystem im Bein lenkten, zu dem zahlreiche Anschlüsse führten.
Etwa zehn Minuten lang konnte er keine Reaktion aus dem Kniebereich spüren. Doch dann merkte er, wie der Druck allmählich nachließ und sich wohlige Wärme in seinem Knie ausbreitete. Nach weiteren fünf Minuten sah er, daß die Schwellung tatsächlich zurückging. Und zehn Minuten später war das Knie zwar immer noch geschwollen, aber er konnte es um gute sechzig Grad biegen. Das reichte vollauf. Er schwang sich mit beiden Beinen aus dem Bett, stand auf und begann sich anzukleiden.
Er war gerade damit beschäftigt, das Koppel um seine Dschungelkleidung zu legen, als es an seine Tür klopfte. Cletus warf einen Blick auf die Uhr neben seinem Bett. Sie zeigte acht Minuten vor fünf.
„Immer herein“, sagte er.
Arvid trat ins Zimmer.
„Sie sind aber früh auf den Beinen, Arv“, sagte Cletus, ließ sein Koppelschloß einschnappen und streckte die Hand nach der Pistole aus, die neben ihm auf der Kommode lag. Er ließ die Waffe in das Halfter gleiten, das an seinem Gürtel hing. „Haben Sie alles bekommen, was ich brauche?“
„Jawohl, Sir“, sagte Arvid. „Lautsprecher und Minen sind im Gepäck verstaut. Das Gewehr konnte ich nicht unterbringen, doch es befindet sich beim Gepäck, das am Flugesel befestigt wurde.“
„Und der Flugesel selbst?“
„Ich habe ihn im Gepäckraum eines Kurierwagens gefunden, außerhalb …“ Arvid zögerte. „Ich wollte eigentlich mitgehen, Sir, aber die Order lautete nur auf Sie, ebenso der Befehl des kommandierenden Feldoffiziers, der die Kompanie leitet. Sie haben einen Oberleutnant für Sie abgestellt, einen gewissen Bill Athyer.“
„Und dieser Bill Athyer ist nicht so gut, was?“ fragte Cletus freundlich, während er seinen Kommunikationshelm aufsetzte und aus dem Zimmer ging.
„Wie soll ich das wissen?“ Arvid starrte Cletus an und folgte ihm, während er den langen Mittelgang des Offiziersquartiers entlangging.
Cletus lächelte ihn an und humpelte weiter, doch er zögerte seine Antwort hinaus, bis sie durch den Hauptausgang in die dunstige Dunkelheit des frühen Morgens hinaustraten, wo der Kurierwagen auf Cletus wartete. Sie stiegen ein, und Arvid setzte sich hinters Steuer. Als der hochgewachsene junge Leutnant das Fahrzeug auf den Luftkissen dahingleiten ließ, fuhr Cletus fort:
„Ich habe mir schon fast gedacht, daß mir der General so einen Burschen aufdrängen würde. Machen Sie sich nichts daraus, Arv. Sie werden nach Lage der Dinge an diesem Tag alle Hände voll zu tun haben. Sie sollen für mich einen Büroraum finden und einen kleinen Stab zusammenstellen – einen zuverlässigen Offizier als Bürovorsteher, ein paar Schreiber und einen Mann für die Ablage, alle möglichst technisch versiert und mit Interessen oder Fähigkeiten in Richtung Forschung. Können Sie das organisieren?“
„Jawohl, Sir“, erwiderte Arvid. „Aber ich weiß nicht, ob unsere Vollmacht für solche Dinge reicht …“
„Natürlich nicht, noch nicht“, meinte Cletus. „Aber ich werde eine solche Vollmacht für Sie einholen. Sehen Sie zu, daß Sie den entsprechenden Platz und die Leute finden, damit wir wissen, wo sie verfügbar sind, sobald wir die Vollmacht haben.“
„Jawohl, Sir“, sagte Arvid.
Im Transportbezirk angekommen, stieß Cletus zu seiner Kompanie unter dem Kommando von Oberleutnant William Athyer. Die Kompanie stand bereit, Gewehr bei Fuß, gerüstet und bewaffnet und offensichtlich abmarschbereit. Cletus nahm an, daß die Leute bereits gefrühstückt hatten – da er aber nicht ihr kommandierender Offizier war, war es auch nicht seine Pflicht, dies nachzuprüfen. Und Athyer danach zu fragen wäre taktlos, wenn nicht sogar beleidigend gewesen. Cletus stieg steifbeinig aus dem Kurierwagen und beobachtete, wie Arvid den Flugesel nebst Ausrüstung auslud.
„Oberst Grahame?“ sagte eine Stimme hinter seinem Rücken. „Ich bin Oberleutnant Athyer, kommandierender Offizier dieser Kompanie. Wir sind abmarschbereit …“
Cletus drehte sich um. Athyer war ein kleiner, dunkler, ziemlich schlanker Mann Mitte Dreißig mit einer Hakennase. Er schaute aus einem Gesicht mit säuerlichen Zügen in die Welt, als würde er permanent etwas übelnehmen. Seine Sprache war abrupt, fast aggressiv, doch seine Worte nahmen am Satzende stets einen weinerlichen Ton an.
„Jetzt, wo Sie endlich da sind, Sir“, setzte er hinzu.
Diese unnötige Bemerkung grenzte schon fast an Impertinenz. Aber Cletus überhörte sie und schaute über Athyers Schulter hinweg auf die Männer, die hinter dem Oberleutnant standen. Ihre sonnengebräunten Gesichter und das Gemisch ihrer alten und neuen Ausrüstung sowie Kleidung zeugten von Erfahrung. Aber sie waren schweigsamer als üblich, und Cletus kannte zweifellos den Grund für ihre Schweigsamkeit. Mitten im Urlaub zu den Waffen gerufen und in den Kampf geschickt zu werden, war für einen Soldaten nicht gerade erfreulich. Cletus’ Blick wanderte wieder zu Athyer.
„Also wollen wir gleich mit der Verschiffung gewinnen, nicht wahr, Oberleutnant?“ sagte er freundlich. „Bitte weisen Sie mir einen Platz zu.“
„Uns stehen für den Transport zwei Luftschiffe zur Verfügung“ knurrte Athyer. „Mein Oberfeldwebel fährt im zweiten mit. Sie sollten lieber bei mir im ersten Platz nehmen, Oberst …“
Er brach ab und starrte auf den Flugesel, dessen Rotorblätter sich jaulend in Bewegung setzten. Arvid hatte soeben die Turbine in Gang gesetzt, und das Einmann-Fahrzeug erhob sich in die Luft, so daß es leicht mit eigener Kraft zum Schiff fliegen konnte. Offensichtlich hatte Athyer das Fahrzeug bis zu diesem Augenblick nicht mit Cletus in Verbindung gebracht. Es war aber auch ein merkwürdiges Fahrzeug für einen solchen Ausflug – ein Gefährt, ursprünglich für die Raumhafeninspektion gedacht, ein Fahrradgestell ohne Räder, von dem aus hinten und vorn Metallstäbe nach unten führten, welche zwei Paar gegenlaufende Rotoren hielten, die von einer nuklear gespeisten Turbine angetrieben wurden, die direkt unter ihnen hing. Cletus’ Gewehr und sein Gepäck waren am Querstreben vor dem Sattel befestigt.
Das Fahrzeug sah wirklich nicht hübsch aus, aber das sollte kein Grund für Athyer sein, das Ding so finster und mißtrauisch zu betrachten.
„Was ist das?“ wollte er wissen.
„Das ist für mich, Oberleutnant“, sagte Cletus zuvorkommend. „Sie wissen, daß ich an meinem linken Knie eine Teilprothese trage. Ich wollte Sie und Ihre Leute nicht unnötig behindern, wenn man sich irgendwo am Boden schnell bewegen muß.“
„Oh? Nun …“ Athyer schaute immer noch finster vor sich hin. Da er jedoch den Satz nicht vollendete, war es offensichtlich, daß er krampfhaft nach einem Grund suchte, um dieses Gerät abzulehnen. Cletus war immerhin Oberstleutnant. Athyer wandte sich um und fauchte Arvid an: „Alsdann begeben Sie sich an Bord, Leutnant! Und ein bißchen dalli.“
Dann wandte er sich ab und sah zu, daß die ungefähr achtzig Mann starke Truppe an Bord der beiden Luftschiffe ging, die einige Meter weiter auf dem Transportgelände parkten.
Das Beladen der Schiffe ging glatt und schnell vor sich. Innerhalb zwanzig Minuten flogen sie bereits nach Norden über die Wipfel der Urwaldbäume hinweg in Richtung Etter-Paß, während der Himmel über der fernen Bergkette in der Morgendämmerung erblaßte.
„Was haben Sie vor, Oberleutnant?“ fragte Cletus, während er Athyer im kleinen Passagierabteil des Schiffes gegenübersaß.
„Ich hole die Karte“, sagte Athyer, während er grollend unter Cletus’ Blick hinwegtauchte. Er wühlte in dem Metallbehälter, der zwischen seinen Stiefeln in den Boden eingelassen war, und holte eine Landkarte hervor, welche die exotische Seite der Berge zeigte, die den Etter-Paß umgaben. Er breitete die Karte über seinen und Cletus’ Knien aus.
„Ich werde eine Postenkette aufstellen“, sagte Athyer, während er mit dem Finger einen Bogen durch den Dschungel auf den Berghängen unterhalb des Passes zog, „ungefähr dreihundert Meter weiter unten. Ebenso postiere ich ein paar Reservegruppen hoch oben hinter der Postenkette zu beiden Seiten der Paßmündung. Wenn dann die Neuländer durch den Paß kommen und weit genug über den Paß vordringen, so daß sie den unteren Kurvenast der Postenkette erreichen, können sich die Reservegruppen hinter sie schieben und sie umzingeln … Das heißt, wenn überhaupt Guerillas über den Paß kommen.“
Cletus überhörte die Schlußfolgerung der Erläuterungen. „Was ist, wenn die Guerillas nicht geradewegs über den Pfad kommen?“ fragte er. „Was, wenn sie sofort nach rechts oder links direkt in den Dschungel abbiegen, sobald sie sich diesseits der Berge befinden?“
Athyer starrte Cletus erst ausdruckslos, dann ärgerlich an, wie ein Student, der eine Examensfrage für unfair hielt.
„Meine Stütztruppen könnten vor ihnen da sein“, sagte er schließlich ungnädig, „und den Rest der Postenkette alarmieren. Die übrigen könnten sich immer noch hinter ihrem Rücken zusammenschließen. In jedem Fall würden wir sie umzingeln.“
„Wie groß ist die Sichtweite hier im Dschungel, Leutnant?“ fragte Cletus.
„Fünfzehn bis zwanzig Meter“, erwiderte Athyer.
„Dann wird es der Rest Ihrer Postenkette schwer haben, Stellung zu beziehen und sich bergauf in einem Winkel zu bewegen, um die Guerillas einzukreisen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Zweier- und Dreiergruppen aufteilen werden, um dann zur Küste auszuschwärmen. Meinen Sie nicht auch?“ „Wir müssen unser möglichstes tun“, meinte Athyer mürrisch.
„Aber es gibt noch andere Möglichkeiten“, sagte Cletus. Er zeigte auf die Karte. „Die Guerillas haben den Milchfluß zu ihrer Rechten, wenn sie aus dem Paß kommen und den Blauen Fluß zu ihrer Linken, und die beiden Flüsse vereinigen sich unten bei der Stadt Zweistrom. Das heißt, daß die Neuländer in jedem Fall übersetzen müssen, egal wo sie sich hinwenden. Schauen Sie sich einmal die Karte an. Oberhalb der Stadt gibt es am Blauen Fluß nur drei geeignete Punkte zum Übersetzen, und am Milchfluß gar nur zwei – sofern sie sich nicht entschließen, quer durch die Stadt zu marschieren, was sie mit Sicherheit nicht tun werden. Demnach könnten sie jede dieser fünf Stellen benutzen.“
Cletus legte eine Pause ein und wartete, ob der Offizier seinen unausgesprochenen Vorschlag begriff. Doch Athyer gehörte offensichtlich zu jenen Menschen, denen man alles vorkauen mußte.
„Es geht um folgendes, Oberleutnant“, erläuterte Cletus. „Warum soll man versuchen, diese Guerillas im Dschungel um den Paß herum abzufangen, wo sie eine Menge Möglichkeiten haben zu entwischen, wenn man einfach an diesen Punkten auf sie warten und sie zwischen den beiden Flüssen einschließen kann?“
Athyer runzelte ärgerlich die Stirn, doch dann beugte er sich über die Karte, um die fünf Punkte auszumachen, die Cletus erwähnt hatte.
„Die beiden Punkte am Milchfluß“, fuhr Cletus fort, „liegen dem Paß am nächsten. Außerdem liegen Sie auf dem direktesten Weg zur Küste. Die Guerillas, die über den Blauen Fluß gehen wollen, müssen einen großen Bogen machen, um die Stadt unten sicher zu umgehen. Die Neuländer sind sich klar darüber, daß wir dies wissen. Ich möchte also wetten, sie rechnen damit, daß Sie versuchen werden, sie an diesen beiden Stellen abzufangen – wenn sie überhaupt damit rechnen, daß jemand versuchen will, sie aufzuhalten. Sie werden sich also möglicherweise in dieser Richtung orientieren und versuchen, den Blauen Fluß an diesen drei Punkten zu überqueren.“
Athyer starrte auf Cletus’ Finger, wie er Punkt für Punkt über die Karte glitt. Das Gesicht des Oberleutnant spannte sich.
„Nein, nein, Oberst“, sagte er, nachdem Cletus geendet hatte. „Sie kennen diese Neuländer nicht so gut wie ich. Zunächst einmal – wieso sollten sie annehmen, daß wir sie überhaupt erwarten? Zweitens sind sie gar nicht so smart. Sie werden über den Paß kommen, sich in Zweier- und Dreiergruppen aufteilen und sich an einer, vielleicht auch an zwei Stellen am Milchfluß wieder vereinigen.“
„Ich bin da anderer Meinung …“ begann Cletus, doch diesmal schnitt ihm Athyer buchstäblich das Wort ab.
„Mein Wort darauf, Oberst!“ sagte er. „Es sind diese beiden Punkte am Milchfluß, wo sie übersetzen werden.“
Er rieb sich die Hände. „Und dort werde ich sie schnappen!“ fuhr er fort. „Ich übernehme mit der Hälfte der Mannschaft die Stelle weiter unten, und mein Feldwebel kann mit dem Rest die andere Stelle besetzen. Wir brauchen dann nur noch ein paar Mann hinter Ihrem Rücken, um Ihnen den Rückzug abzuschneiden, und ich habe sie alle im Sack.“
„Sie führen das Kommando“, meinte Cletus. „Also möchte ich mich nicht mit Ihnen streiten. General Traynor aber war der Meinung, ich sollte Ihnen meine Hilfe anbieten, und ich glaube, daß Sie am Blauen Fluß besser postiert wären. Wenn es nach mir ginge …“
Cletus ließ den Satz unvollendet. Die Hände des Oberleutnants, die die bereits halb zusammengefaltete Mappe hielten, wurden ruhiger und sanken in den Schoß. Cletus, der auf den gesenkten Kopf seines Gegenübers hinabschaute, konnte fast spüren, wie der andere die Krallen einzog und wie es in ihm arbeitete. Zu diesem Zeitpunkt hatte Athyer alle Zweifel an seiner eigenen militärischen Urteilsfähigkeit hinter sich gelassen. Dennoch – Situationen, in die Generäle und Obersten verwickelt waren, kamen einem Oberleutnant doch sehr delikat vor, ganz gleich, wer die Trümpfe in der Hand hatte.
„Ich könnte nicht mehr als eine kleine Gruppe unter einem Korporal entbehren“, murmelte Athyer, während er immer noch auf die Karte starrte. Er zögerte, dann schaute er auf und meinte: „Es ist Ihr Vorschlag, Oberst. Wenn Sie vielleicht bereit wären, die Verantwortung zu übernehmen, einen Teil meiner Leute zum Blauen Fluß abzukommandieren …“
„Aber sicher“, sagte Cletus. „Doch wie Sie schon sagten, ich bin kein Feldoffizier und kann daher nicht das Kommando über irgendwelche Kampftruppen übernehmen …“
Athyer grinste. „Wenn’s weiter nichts ist!“, sagte er. „Hier draußen werden die Vorschriften nicht immer wortwörtlich genommen, Oberst. Ich brauche nur dem Korporal zu sagen, daß er zu tun hat, was Sie befehlen.“
„Was ich befehle? Meinen Sie – genau das, was ich ihm sage?“ fragte Cletus.
„Genau das“, meinte Athyer. „Sie wissen, daß es für solche Art von Notfällen eine Sonderregelung gibt. Als kommandierender Offizier einer isolierten Einheit darf ich im Notfall jedes Militärpersonal nach Gutdünken einsetzen. Ich werde dem Korporal sagen, daß Sie vorübergehend in den Status eines Ihrem Rang entsprechenden Feldoffiziers versetzt sind.“
„Wenn aber die Guerillas am Blauen Fluß übersetzen“, gab Cletus zu bedenken, „steht mir nur eine kleine Gruppe zur Verfügung.“
„Das werden sie nicht tun, Oberst“, sagte Athyer und faltete die Karte zusammen. „Das werden sie ganz gewiß nicht tun. Doch sollten wirklich ein paar Neuländer auftauchen – dann tun Sie ihr möglichstes. Ein Taktiker und Fachmann wie Sie, Sir, müßte in der Lage sein, eine derartige Bagatelle zu erledigen.“
Mit einem höhnischen Lächeln erhob er sich und ging, die Landkarte in der Hand, in das hintere Passagierabteil zurück, wo die Hälfte seiner Leute saßen.
Das Schiff, in dem Cletus saß, setzte ihn und seine Leute am obersten der drei möglichen Übergangsstellen am Blauen Fluß ab und verschwand dann zwischen den Schatten der Dämmerung, die die westlichen Hänge der Berge umhüllten, die zwischen Bakhalla und Neuland lagen. Athyer hatte sich einen hoch aufgeschlossenen neunzehnjährigen Korporal namens Ed Jarnki ausgesucht, dazu sechs weitere Männer, die dem Kommando von Cletus unterstellt werden sollten. Im gleichen Augenblick, als die sieben Männer ausgeladen wurden, setzten sie auch schon automatisch den Fuß auf den Boden und lehnten sich bequem gegen die Baumstämme und Felsen, die aus dem schier undurchdringlichen Grün des Dschungels hervorschauten. Sie befanden ich auf einer kleinen, von hohen Bäumen umgebenen Lichtung in der Nähe eines schmalen Uferstreifens. Die Leute blickten Cletus fragend an, als er sich ihnen zuwandte.
Cletus erwiderte wortlos ihren Blick. Dann rappelten sich Jarnki, der Korporal und der Rest der Mannschaft hoch, um sich in lockerer Reihe und einer Art Habachtstellung Cletus zu präsentieren.
Cletus lächelte. Er kam sich wie ausgewechselt vor, wie ein ganz anderer Mensch als jener Offizier, den die Leute zu Gesicht bekommen hatten, als sie an Bord gingen. Die gute Laune war nicht aus seinem Gesicht gewichen. Doch jetzt war etwas Kraftvolles, Beständiges und Intensives an ihm, während er die Leute anschaute. Eine Art von menschlicher Elektrizität ging von ihm aus, die gegen ihren Willen ihre Nerven aufpeitschte.
„So ist es schon besser“, sagte Cletus. Selbst seine Stimme hatte sich verändert. „Gut, ihr seid also die Leute, die ausziehen werden, um dort oben am Etter-Paß die Sieger des heutigen Tages zu werden. Und wenn ihr alle Befehle entsprechend befolgt, werdet ihr siegen, ohne daß es viel Mühe kostet und euch auch nur ein Haar gekrümmt wird.“