20
Am nächsten Vormittag war Cletus damit beschäftigt, das Kontingent aus den bereits neuausgebildeten und den nicht ausgebildeten Dorsai bereitzustellen, das er nach Newton mitnehmen wollte. Einige Tage später, als er in seinem Privatbüro auf dem Übungsgelände in Foralie saß, kam Arvid herein und meldete einen neuen Emigranten, einen Offiziers-Rekruten, der ihn zu sprechen wünschte.
„Ich glaube, Sie werden sich an ihn erinnern, Sir“, meinte Arvid, indem er Cletus etwas grimmig anblickte. „Oberleutnant William Athyer – früher bei der Expeditionsarmee der Allianz auf Bakhalla.“
„Athyer?“ sagte Cletus und schob die Papiere auf der Schreibtischplatte beiseite. „Schicken Sie ihn rein, Arv.“
Arvid trat einen Schritt zurück und verließ das Büro. Kurz darauf erschien Bill Athyer und blieb zögernd unter der Tür stehen – eben jener Athyer, der Cletus seinerzeit in betrunkenem Zustand im Flugbusterminal von Bakhalla den Weg verstellt hatte. Er trug statt der Silberstreifen eines Oberleutnants die braune Uniform eines Dorsai-Rekruten mit den Rangabzeichen eines Offiziers auf Probe.
„Treten Sie ein“, sagte Cletus, „und schließen Sie die Tür hinter sich.“
Athyer gehorchte und trat ins Zimmer. „Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich empfangen, Sir“, sagte er stockend. „Ich glaube nicht, daß Sie angenommen haben, ich würde hier auftauchen …“
„Ganz im Gegenteil“, gab Cletus zurück. „Ich habe Sie erwartet. Setzen Sie sich.“
Er zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, und Athyer ließ sich auf der Stuhlkante nieder. „Ich weiß nicht, wie ich mich entschuldigen soll …“ begann er.
„Dann lassen Sie’s bleiben“, meinte Cletus. „Ich nehme an, daß sich in Ihrem Leben einiges geändert hat.“
„Was heißt geändert!“ Athyers Gesicht leuchtete auf. „Sir … können Sie sich noch an die Halle in Bakhalla erinnern …? Als ich damals die Halle verließ, hatte ich etwas Bestimmtes im Sinn. Ich wollte jede Zeile durchkämmen, die Sie jemals zu Papier gebracht hatten, um nach Irrtümern und Fehlern zu suchen, die ich gegen Sie verwenden könnte. Sie sagten, ich brauche mich nicht zu entschuldigen, aber …“
„Ich meinte, was ich sagte“, erwiderte Cletus. „Fahren Sie fort und erzählen Sie mir, was Sie zu sagen haben.“
„Nun … plötzlich begann ich zu begreifen, das ist alles“, meinte Athyer. „Auf einmal hatte alles einen Sinn, obwohl ich es gar nicht glauben konnte! Ich ließ Ihre Bücher liegen und begann, in dieser exotischen Bibliothek in Bakhalla nach anderen Werken über die militärische Kunst zu forschen, doch ich konnte nichts Neues entdecken. Das, was Sie geschrieben hatten, war etwas anderes … Sir, Sie glauben gar nicht, wie groß der Unterschied ist!“
Cletus lächelte.
„Natürlich wissen Sie das!“ unterbrach sich Atyher. „Darum geht es aber nicht. Ich habe zum Beispiel immer Schwierigkeiten mit der Mathematik gehabt. Ich hatte die Akademie der Allianz nicht besucht, wie Sie wissen. Ich habe das Programm für Reserveoffiziere absolviert und mich nur oberflächlich mit Mathematik befaßt. Und das ging so weiter, bis ich eines Tages mit handfester Geometrie konfrontiert wurde. Urplötzlich paßten alle Zahlen und Formen zusammen – es war herrlich. Dasselbe passierte mir mit Ihren Werken, Sir. Plötzlich erkannte ich das Zusammenwirken der Kunst und Mechanik der militärischen Strategie. All meine Träume, die ich schon als Kind geträumt hatte, um große Dinge zu vollbringen – jetzt konnte ich nachlesen, wie man sie verwirklichen kann. Und nicht nur militärische Dinge, sondern alle möglichen Sachen.“
„Das haben Sie alles meinen Schriften entnommen?“ fragte Cletus.
„Was heißt entnommen!“ Athyer streckte die Hand aus und ballte die Faust in der Luft. „Ich sah alles so deutlich, als würden die Dinge greifbar vor mir im Raum stehen. Sir, kein Mensch weiß, was Ihre Werke wert sind, kein Mensch kann das abschätzen – und dabei geht es nicht nur darum, was Ihre Bücher für die Gegenwart bedeuten, sondern darum, was sie für die Zukunft bieten!“
„Gut“, meinte Cletus. „Es freut mich, daß Sie so denken. Was kann ich jetzt für Sie tun?“
„Ich glaube, Sie wissen es selbst am besten, Sir“, gab Athyer zurück. „Ich bin zu den Dorsai gestoßen, weil ich Ihre Bücher gelesen habe. Aber ich möchte nicht nur einer unter den Namenlosen sein. Ich möchte in Ihrer Nähe sein, wo ich etwas lernen kann. Ich weiß nur zu gut, daß Sie im Augenblick keine Stelle für mich frei haben, aber wenn Sie mich zumindest vormerken würden …“
„Ich glaube schon, daß sich eine Stelle für Sie finden läßt“, meinte Cletus. „Wie gesagt, ich habe Sie mehr oder weniger erwartet. Gehen Sie zu Kommandant Arvid Johnson und sagen Sie ihm, daß er Sie als seinen Adjutanten einstellen soll. Wir werden die Ausbildungsanforderungen in Ihrem Fall stillschweigend übergehen und Sie in die Gruppe aufnehmen, die wir auf Newton einsetzen wollen.“
„Sir …“ Athyer fehlten die Worte.
„Das wär’s dann vorerst“, sagte Cletus und zog die Papiere wieder an sich heran, die er vorhin beiseite geschoben hatte. „Sie werden Arvid draußen in seinem Büro finden.“
Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Zwei Wochen später landete das Dorsai-Kontingent einsatzbereit auf Newton – und der frisch abkommandierte Gruppenführer Bill Athyer war dabei.
„Ich hoffe“, meinte Artur Walco einige Tage später, während er mit Cletus die Abendparade der Truppen beobachtete, „daß Sie sich nicht zuviel zugemutet haben, Marschall.“
Der Präsident der VFG auf Newton sprach den Titel mit leiser Ironie aus, einen Titel, den sich Cletus zugelegt hatte, um sich von den übrigen Offizieren und Chargen seiner ungeschulten Dorsai zu unterscheiden. Sie standen am Rande des Aufmarschfeldes. Die rote Sonne am grauen Himmel von Newton neigte sich hinter der Fahnenstange bereits dem Horizont zu, und die Fahne wehte schon auf halbmast, als Major Swahili das Regiment an der Anfahrtsrampe präsentierte. Cletus drehte sich um und schaute den hageren, kahlköpfigen Newtonier an.
„Ein Übermaß an Vertrauen“, sagte er, „ist ein Fehler, den Leute begehen, die ihr Handwerk nicht verstehen.“
„Und Sie zählen sich nicht dazu.“
„Gewiß nicht“, erwiderte Cletus.
Walco lachte säuerlich und zog die schmalen Schultern unter seiner schwarzen Jacke hoch, um sich gegen den Nordwind zu schützen, der vom Wald herüberwehte, der direkt am Stadtrand von Debroy auf Newton begann und sich mehr als zweihundert Meilen nordwärts erstreckte, bis hin zu den Stibnitminen und zur Brozastadt Wasserhütte.
„Zweitausend Mann dürften ausreichen, um die Minen einzunehmen“, sagte er, „aber laut Vertrag müssen Sie die Minen drei Tage lang oder zumindest bis zu dem Zeitpunkt halten, bis die newtonischen Streitkräfte in der Lage sind, Sie abzulösen. Und innerhalb von vierundzwanzig Stunden, nachdem Sie in Wasserhütte einmarschiert sind, können die Brozaner mit zehntausend Mann ihrer regulären Truppen eingreifen. Ich weiß nicht, wie Sie dieses Verhältnis von fünf zu eins meistern wollen.“
„Natürlich nicht“, versetzte Cletus. Die Flagge hing nun ganz unten an der Fahnenstange, und Major Swahili hatte bereits an seinen Adjutanten übergeben, um die Leute zu entlassen. „Es ist auch nicht Ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe war es lediglich, einen Vertrag mit mir zu unterzeichnen, laut dem wir unser Geld bekommen, sobald Ihre Truppen die Kontrolle über die Minen übernommen haben. Das haben Sie getan. Wenn wir versagen, erleidet Ihre VFG keinerlei finanzielle Verluste.“
„Vielleicht nicht“, sagte Walco heftig. „Aber mein Ansehen würde darunter leiden.“
„Mir würde es nicht anders ergehen.“
Walco schnaufte und entfernte sich. Cletus blickte ihm kurz nach, dann wandte er sich ab und ging auf das Hauptquartier zu, das für die Dorsai in diesem provisorischen Lager direkt am Stadtrand von Debroy im Waldschatten eingerichtet worden war. Im Kartenzimmer traf er Swahili und Arvid, die bereits auf ihn warteten.
„Schauen Sie sich das mal an“, sagte er und führte die beiden zu dem großen Kartentisch, wo auf einer Reliefkarte der breite Waldgürtel mit Debroy am einen und den Stibnitminen um Wasserhütte am anderen Ende dargestellt war. Die drei Männer standen jetzt an jenem Kartenabschnitt, der Debroy zeigte. „Walco und seine Leute wollen, daß wir hier ein oder zwei Wochen herumsitzen, bevor wir etwas unternehmen. Die Spione der Broza werden wahrscheinlich auf die gleiche Idee kommen. Wir aber wollen keine Zeit verlieren. Major …“
Er schaute Swahili an, dessen zerfurchtes, dunkles Gesicht sich interessiert über den Tisch beugte. Swahili blickte zu Cletus auf.
„Wir werden gleich morgen bei Tagesanbruch mit dem Akklimatisierungstraining der Truppen hier dicht am Waldrand beginnen“, sagte Cletus. „Das Training wird etwa fünf Meilen tief im Wald stattfinden, ziemlich weit von der Newton-Broza-Front entfernt.“ Er zeigte auf eine rote Linie, die etwa zwanzig Meilen oberhalb Debroys durch den Wald verlief. „Das Training erfolgt gruppenweise, und es braucht nicht besonders intensiv zu sein. Sie müssen nur über Nacht draußen bleiben und üben, bis die Offiziere einigermaßen zufrieden sind. Dann kann man sie Gruppe für Gruppe entlassen, sobald ihre Offiziere der Meinung sind, daß sie einsatzbereit sind. Danach können sie ins Lager zurückkehren. Die letzte Gruppe sollte den Wald nicht früher als in zweieinhalb Tagen verlassen, von morgen früh an gerechnet. Sie werden dafür sorgen, daß die Offiziere den entsprechenden Befehl erhalten.“
„Werde ich nicht dabei sein?“ fragte Swahili.
„Sie werden bei mir sein“, erwiderte Cletus und schaute den hochgewachsenen jungen Hauptmann zu seiner Rechten an. „Zusammen mit Arvid und zweihundert unserer besten Männer. Sobald wir im Wald sind, müssen wir uns von den anderen absetzen, in Zweier- und Dreiergruppen aufteilen und nach Norden marschieren, um uns dann vier Tage später fünf Meilen südlich von Wasserhütte wieder zu treffen.“
„In vier Tagen?“ wiederholte Swahili. „Das sind mehr als fünfzig Meilen Fußmarsch pro Tag durch unbekanntes Gelände.“
„Genau!“ sagte Cletus. „Und eben darum wird keiner – weder die Newtonier noch die Brozaner – annehmen, daß wir etwas Ähnliches versuchen. Aber Sie, Major, und ich wissen, daß es unsere besten Leute schaffen werden, nicht wahr?“
Sein Blick und der Blick aus Swahilis Augen in dessen dunklem, unbeweglichen Gesicht kreuzten sich.
„Ja“, sagte Swahili.
„Gut“, meinte Cletus und trat vom Tisch zurück. „Wir wollen jetzt essen und heute Abend die Einzelheiten ausarbeiten. Sie, Major, gehen mit Arv, und ich fahre mit Gruppenführer Athyer.“
„Atyher?“ gab Swahili zurück.
„Richtig“, erwiderte Cletus trocken. „Sie haben mir doch gesagt, daß er mitkommt?“
„Ja“, gab Swahili zu. Seltsamerweise stimmte es. Swahili schien sich für den frisch rekrutierten, nicht ausgebildeten Athyer zu interessieren, offensichtlich mehr aus Neugier denn aus Sympathie – denn man konnte sich keine größeren Gegensätze denken als den Major und Athyer. Swahili war weit und breit der beste unter den neuausgebildeten Dorsai, Mannschaften und Offiziere gleichermaßen. Er hatte bei der Ausbildung, was die Selbstkontrolle betraf, mit Ausnahme von Cletus alle überflügelt. Trotzdem war Swahili nicht bereit, sein Urteil durch sein Interesse beeinflussen zu lassen. Er schaute Cletus mit einem Anflug von grimmigem Humor an.
„Und, Sir, da er Sie begleiten wird …“ sagte er.
„Die ganze Zeit“, meinte Cletus ruhig. „Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, Arv bei sich zu haben?“
„Nein, Sir.“ Swahili schenkte dem jungen Kommandanten einen Blick, der fast väterlich und zustimmend zugleich war.
„Gut“, meinte Cletus. „Sie können jetzt gehen. Wir treffen uns dann hier nach dem Essen wieder.“
„Jawohl.“
Swahili entfernte sich. Cletus wandte sich der Tür zu und entdeckte Arvid, der im Türrahmen stand und ihm fast den Weg versperrte.
„Ist was, Arv?“ fragte Cletus.
„Sir …“ setzte Arvid an, doch dann wußte er nicht weiter.
Cletus machte keine Anstalten, ihm weiterzuhelfen, sondern stand abwartend da.
„Sir“, wiederholte Arvid. „Ich bin doch noch Ihr Adjutant?“
„Das sind Sie“, sagte Cletus.
„Dann …“ Arvids Gesicht war starr und etwas blaß – „… darf ich vielleicht fragen, warum Athyer Ihnen bei einem solchen Unternehmen an meiner Stelle assistieren soll?“
Cletus schaute ihn kühl an. Arvids Haltung war etwas steif, die rechte Schulter unter der Uniformjacke immer noch etwas hochgezogen durch die Brandwunde, die er sich geholt hatte, als er seinerzeit im Hauptquartier von Bakhalla Cletus vor den Neuländer-Guerillas schützen wollte.
„Nein, Kommandant“, sagte Cletus gedehnt. „Sie dürfen mich nicht fragen, warum ich so und nicht anders entschieden habe – weder heute noch in Zukunft.“
Sie standen sich gegenüber, von Angesicht zu Angesicht.
„Ist das klar?“ fragte Cletus.
Arvids Haltung wurde, wenn möglich, noch steifer. Sein Blick irrte von Cletus ab und heftete sich hoch über ihm auf einen Fleck an der Wand.
„Jawohl, Sir“, sagte er.
„Dann sollten Sie sich besser zum Abendessen begeben“, meinte Cletus.
Arvid machte kehrt und ging hinaus. Cletus seufzte und ging dann in sein Quartier, wo ihm sein Bursche ein einsames Mal servierte.
Am nächsten Morgen um neun stand er mit Athyer fünf Meilen tief im Waldgebiet, als Swahili zu ihnen stieß und ihm ein kleines Metallkästchen übergab, das eine Art Orientierungsgerät enthielt. Cletus steckte die Schachtel in die Jackentasche seiner graugrünen Felduniform.
„Ist das Gerät eingestellt?“ fragte er. Major Swahili nickte.
„Mit dem Lager als Basispunkt“, sagte er. „Der Rest der Mannschaft, die für die Expedition abgestellt wurde, ist bereits abgerückt, in Zweier- und Dreiergruppen, wie Sie befohlen haben. Der Hauptmann und ich sind marschbereit.“
„Gut“, meinte Cletus. „Bill und ich werden ebenfalls aufbrechen. Wir werden uns am Treffpunkt fünf Meilen unterhalb von Wasserhütte in etwa einundneunzig Stunden wiedersehen.“
„Wir werden zur Stelle sein, Sir.“ Swahili schenkte Athyer noch einen spöttischen Blick, dann drehte er sich um und ging.
Cletus drehte das Orientierungskästchen in seiner Hand um, so daß die Kompaßnadel unter dem durchsichtigen Deckel sichtbar wurde. Er drückte den Knopf an der Seite der Schachtel, und der Zeiger schwang im Uhrzeigersinn etwa um vierzig Grad herum, bis er fast genau nordwärts in Richtung Wald zeigte. Cletus versuchte, sich mit Hilfe eines Baumstamms zu orientieren, soweit ihm dies im Dämmerlicht des Waldes möglich war. Dann hob er das Gerät hoch und schaute durch den Sucher. Was er da zu sehen bekam, war eine etwa zweimal drei Meter große Reliefkarte des Geländes zwischen seiner augenblicklichen Position und Wasserhütte. Eine rote Linie markierte den Weg, der in die Karte einprogrammiert worden war. Er drückte auf einen anderen Knopf am Gehäuse und holte das Bild näher heran, um die Einzelheiten der ersten fünf Meilen zu studieren. Es war nichts als Wald, ohne Sumpfgelände, das man überqueren oder umgehen mußte.
„Los“, sagte er über die Schulter zu Athyer, steckte das Kästchen in die Tasche und startete im Laufschritt.
Athyer folgte ihm. Während der ersten Stunden trotteten sie wortlos nebeneinander her, umgeben von der Dämmerung und der Stille der nördlichen Newton-Wälder. In diesem Wald gab es keine geflügelte Kreatur, weder Vögel noch Insekten, nur die amphibischen und fischähnlichen Lebewesen der Seen, Moore und Sümpfe. Unter der dicken Decke der nadelähnlichen Blätter, die nur auf den höchsten Ästen der Bäume wuchsen, war der Boden nackt bis auf die laublosen Baumstrünke und unteren Äste, doch bedeckt mit einer dicken Schicht schwärzlicher, abgestorbener Nadeln, die im Lauf der Zeit von den Bäumen gefallen waren. Nur hier und da fand sich ein Strauß großer, fleischfarbiger Blätter, etwa einen Meter lang, die direkt aus dem Nadelbett emporwuchsen, um das Vorhandensein einer Quelle oder eines sonstigen feuchten Bereichs im Urwaldboden zu signalisieren.
Nach den ersten zwei Stunden änderten sie ihre Gangart und gingen zu einem alternierenden Rhythmus von fünf Minuten Laufschritt und fünf Minuten schnellem Gehen über. Pro Stunde legten sie fünf Minuten Pause ein, um zu rasten, wobei sie sich der Länge nach auf den Boden warfen und sich auf dem weichen, dicken Nadelteppich ausstreckten, ohne auch nur ihr leichtes Marschgepäck abzuschnallen, das sie auf dem Rücken trugen.
Während der ersten halben Stunde war ihnen das Gehen schwergefallen. Doch sobald sie sich durch die physische Bewegung warmgelaufen hatten, begann ihr Herz langsamer zu schlagen, – und es kam ihnen vor, als könnten sie immer so weiterlaufen. Cletus lief oder ging, meistens geistesabwesend und zum Teil „weggetreten“, wobei er sich auf andere Probleme konzentrierte. Selbst das Nachprüfen der zurückgelegten Strecke mit Hilfe des Kompasses, der am Orientierungskasten angebracht war, erfolgte beinahe automatisch, fast wie ein Reflex.
Er fand erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als das Dämmerlicht des Waldes über ihnen verblaßte. Die Sonne Newtons, die sich hinter dem Doppelvorhang aus Laubwerk und der hohen, fast stets geschlossenen Wolkendecke versteckte, die dem Himmel sein graues, metallisches Aussehen schenkte, war im Untergehen begriffen.
„Zeit für eine Essenpause“, sagte Cletus. Er ging auf eine flache Stelle am Fuße eines großen Baumstammes zu und setzte sich, die Beine gekreuzt, lehnte sich gegen den Stamm und streifte seinen Rucksack ab. Athyer setzte sich zu ihm auf den Boden. „Wie geht’s?“
„Ausgezeichnet, Sir“, grunzte Athyer.
Athyer machte wirklich den allerbesten Eindruck, so wie Cletus es erwartet hatte, und das freute ihn besonders. Athyers Gesicht war nur leicht mit Schweiß bedeckt, sein Atem aber war tief und ruhig.
Sie öffneten ein Thermopaket, brachen es entzwei und stachen es auf, damit sich der Inhalt erwärmte. Als das Essen mundwarm war, hatte sich die Dunkelheit bereits über sie gesenkt. Es war so finster wie in einem fensterlosen Keller.
„In einer halben Stunde werden die Monde aufgehen“, sagte Cletus in die Finsternis, jener Richtung zugewandt, wo er Athyer neben sich vermutete. „Versuchen Sie etwas zu schlafen, wenn Sie können.“
Cletus legte sich auf den Nadelteppich und versuchte, seine Beine und seinen Körper zu entspannen. Bereits nach wenigen Sekunden stellte sich das bekannte schwebende Gefühl ein. Nach nur etwa dreißig Sekunden der Bewußtlosigkeit – so kam es ihm zumindest vor – schlug er die Augen auf und sah ein neues, fahles Licht, das durch das Blätterwerk des Waldes sickerte.
Das Licht war nicht annähernd so hell wie das gefilterte Tageslicht, immerhin aber hell genug, daß sie ihren Weg finden konnten, und wahrscheinlich würde es noch heller werden, weil mindestens vier der fünf Newton-Monde am Nachthimmel zu erwarten waren.
„Los, gehen wir“, sagte Cletus. Einige Minuten später trotteten er und Athyer, den Rucksack geschultert, wieder im Laufschritt dahin.
Die Karte zeigte in ihrem eigenen Licht eine schwarze Linie, die parallel zur roten Linie verlief, die ihre Marschroute anzeigte, und zwar auf einer Strecke von mehr als einunddreißig Meilen vom Ausgangspunkt. Während der nächsten neun Stunden ihres Nachtmarsches, der nur durch die stündlichen Ruhepausen und eine kurzen Essenpause um Mitternacht unterbrochen wurde, legten sie weitere sechsundzwanzig Meilen zurück, bevor die meisten Monde untergingen und das Licht so schwach wurde, daß ein sicheres Weitermarschieren nicht mehr möglich war. Sie nahmen eine letzte, leichte Mahlzeit zu sich und legten sich dann auf den weichen Waldboden, wo sie in einen fünfstündigen Schlaf versanken.
Als Cletus’ Armbanduhr sie weckte, mußten sie feststellen, daß bereits zwei Stunden des Tages vergangen waren. Sie standen auf, aßen und machten sich so schnell wie möglich auf den Weg.
Während der ersten vier Stunden legten sie eine beachtliche Strecke zurück – sie kamen sogar etwas schneller voran als am Tag zuvor. Doch gegen Mittag erreichten sie ein Sumpfgebiet, voll jener Pflanzen mit den fleischfarbenen Blättern, voller Ranken wilden Weins und einer Art von Lianen, die von den unteren Ästen der Bäume herunterbaumelten oder sich meilenweit über den Boden erstreckten, manchmal so dick wie ein Ölfaß.
Die Umgebung war hinderlich, und sie mußten Umwege machen. Als die Nacht erneut herabsank, hatten sie kaum zwanzig Meilen geschafft. Insgesamt hatten sie nur ein Drittel des Weges bis zum vereinbarten Treffpunkt zurückgelegt, der unterhalb von Wasserhütte lag. Fast ein Drittel ihrer Zeit war verstrichen, und von jetzt ab würde sich die Müdigkeit zunehmend auf ihre Leistung auswirken. Cletus hatte gehofft, bis zu diesem Zeitpunkt die Hälfte der Strecke zurückzulegen.
Aber die Karte verriet ihm, daß sie nach weiteren 20 Meilen aus diesem Sumpfgebiet herauskommen und offeneres Gelände erreichen würden. Während der halbstündigen Dunkelheit nahmen sie eine kurze Abendmahlzeit ein, dann liefen sie weiter durch die Nacht. Sie erreichten den Rand des Moores, kurz bevor das Mondlicht verblaßte. Sie sanken wie tot auf den Nadelteppich, der sich unter ihren Füßen ausbreitete, und schliefen sofort ein.
Am nächsten Tag fiel Ihnen das Gehen etwas leichter, aber die Erschöpfung machte sich allmählich bemerkbar und hemmte ihre Schritte. Cletus marschierte wie im Traum oder wie in hohem Fieber und war sich kaum der Anstrengungen und der Müdigkeit seines Körpers bewußt, außer daß alles um ihn herum in die Ferne gerückt schien. Sein Gesicht war grau und eingefallen, so daß die kühn geschwungene Nase jetzt alles zu beherrschen schien, wie der Bug eines alten Holzschiffes. Irgendwie brachte er es fertig, beim Gehen oder Laufen Schritt zu halten, doch sobald sie eine langsamere Gangart einschlugen, wurden seine Füße unsicher, er strauchelte und stolperte dahin. In dieser Nacht gönnte Cletus sich und seinem Gefährten nach dem Abendessen volle sechs Stunden Schlaf.
Sie legten nicht ganz sechzehn Meilen zurück, während der Mond schien, dann machten sie wieder Rast und schliefen noch einmal sechs Stunden.
Als sie erwachten, hatten sie das Gefühl, ausgeruht und wieder bei Kräften zu sein. Doch während der nächsten zwei Stunden nach Tagesanbruch mußten sie feststellen, daß ihre Leistung nicht besser war als vor vierundzwanzig Stunden, obwohl sie jetzt langsamer und stetiger dahinmarschierten, wobei sie mit ihren Kräften so sparsam umgingen wie ein Geizhals mit seinem Geld. Und wieder war es dieser merkwürdige Zustand, der Cletus überkam: Seine körperlichen Beschwerden nahm er nur wie aus der Ferne wahr, und sie kamen ihm bedeutungslos vor. Irgendwie hatte sich der Gedanke in ihm festgesetzt, daß er, wenn notwendig, immer so weitermarschieren könnte, ohne auch nur eine Essenpause oder eine Rast einzulegen.
In der Tat war der Gedanke an Nahrung auf die letzte Stelle ihrer Wunschliste gerückt. Zum Mittagessen legten sie eine Rast ein und zwangen sich dazu, ihre Ration hinunterzuwürgen, doch es geschah ohne rechten Appetit und ohne Geschmack. Das Essen lag ihnen bleischwer im Magen, und als die Dunkelheit hereinbrach, konnte keiner von ihnen etwas zu sich nehmen. Sie gruben an den Wurzeln einer dieser Stauden mit den fleischfarbenen Blättern nach der Quelle, die dort unten sprudelte, und tranken durstig, bevor sie in einen jetzt fast automatischen Schlaf fielen. Nach einigen Stunden Schlaf standen sie auf und setzten ihren Weg im Mondschein fort.
In der Dämmerung des vierten Tages waren sie nur noch ein halbes Dutzend Meilen vom Treffpunkt entfernt. Doch als sie mit ihren geschulterten Rucksäcken versuchten, auf die Beine zu kommen, gaben ihre Knie nach und knickten ein wie ein loses Scharnier. Cletus aber gab nicht auf, und nach einer Weile gelang es ihm, sich hochzurappeln und auf seinen Beinen zu stehen. Er schaute sich um und erblickte Athyer, der regungslos am Boden lag.
„Das nützt nichts“, krächzte Athyer. „Sie müssen allein weitergehen.“
„Nein“, sagte Cletus. Er stand da, die Beine steif und gespreizt, schwankte leicht und schaute auf Athyer hinab.
„Sie müssen einfach weiter“, sagte Athyer nach einer Weile, auf jene Art, die sie sich während der letzten Tage angewöhnt hatten – mit langen Pausen zwischen Rede und Antwort.
„Warum sind Sie zu den Dorsai gestoßen?“ fragte Cletus nach einer dieser Pausen.
Athyer starrte ihn an. „Sie“, sagte er. „Sie haben stets das getan, was ich schon immer tun wollte. Sie waren der, der ich stets sein wollte. Ich wußte, daß ich es niemals auf Ihre Art schaffen würde. Aber ich hoffte, daß ich es lernen würde, dicht heranzukommen.“
„Dann lernen Sie’s“, meinte Cletus schwankend. „Nehmen Sie Ihre Sachen und gehen Sie.“
„Ich kann nicht“, sagte Athyer.
„So was darf es für Sie nicht geben“, versetzte Cletus. „Gehen Sie.“
Cletus stand hoch aufgerichtet vor ihm. Athyer blieb noch ein paar Minuten liegen. Dann rührte er die Beine, setzte sich auf und versuchte, seine Beine unter seinem Körper hervorzuziehen, aber sie gehorchten ihm nicht. Er keuchte und gab seine Bemühungen auf.
„Sie sind der, der Sie immer sein wollten“, sagte Cletus gedehnt, während er sich über ihm bewegte. „Vergessen Sie Ihren Körper. Stellen Sie den Menschen Athyer auf die Beine. Der Körper wird Ihnen auf natürliche Weise folgen.“
Er wartete, und Athyer nahm einen weiteren Anlauf. Er stützte sich mit konvulsiver Anstrengung auf die Knie, riß sich hoch, stand auf den Beinen, machte einige stolpernde Schritte und angelte nach einem Baumstamm, um sich einen festen Halt zu verschaffen. Dann blickte er über die Schultern und warf Cletus ein triumphierendes Lächeln zu.
„Also sind wir abmarschbereit“, sagte Cletus.
Fünf Minuten später waren sie bereits wieder unterwegs, obwohl Athyer wie ein Betrunkener dahintaumelte. Nach vier Stunden hatten sie den Treffpunkt erreicht. Dort warteten bereits Swahili und Arvid mit etwa einem Fünftel der Männer, die mittlerweile ebenfalls eingetroffen waren. Cletus und Athyer brachen zusammen. Sie legten sich hin, ohne ihren Rucksack abzuschnallen, und schliefen schon, bevor sie den Nadelteppich berührten.