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„Nein, nein – es ist al­les in Ord­nung!“ sag­te sie zu ih­rem Va­ter. „Mir war nur plötz­lich et­was merk­wür­dig. Ich wer­de mich hin­le­gen … Nein, Va­ti, du bleibst da. Oberst Gra­ha­me, Sie könn­ten mich zu mei­ner Ka­bi­ne be­glei­ten – wenn Sie so­wie­so schon auf­bre­chen wol­len.“

„Selbst­ver­ständ­lich“, sag­te Cle­tus.

Er kam rasch um den Tisch her­um, und sie nahm sei­nen Arm. Sie war hoch­ge­wach­sen, und das Ge­wicht ih­res jun­gen Kör­pers las­te­te schwer auf ihm. Mit ei­ner fast un­ge­dul­di­gen Hand­be­we­gung for­der­te sie ih­ren Va­ter und de­Ca­stries auf, Platz zu be­hal­ten.

„Wirk­lich!“ sag­te sie, und ih­re Stim­me wur­de schär­fer. „Al­les in Ord­nung. Ich möch­te mich nur für ei­ne Wei­le hin­le­gen. Las­sen Sie sich bit­te nicht stö­ren. Oberst …“

„Zu Ih­ren Diens­ten“, sag­te Cle­tus. Sie ver­lie­ßen den Tisch, und sie lehn­te sich im­mer noch an ihn, wäh­rend sie lang­sam die Hal­le durch­quer­ten und in den Kor­ri­dor zur Lin­ken ein­bo­gen.

Sie ging ne­ben ihm her, wei­ter an ihn ge­lehnt, bis der Kor­ri­dor ei­ne Bie­gung mach­te und sie den Bli­cken der Gäs­te im Spei­se­saal ent­zog. Dann blieb sie un­ver­mit­telt ste­hen, lös­te sich von ihm und wand­te sich ihm zu.

„Mir fehlt nichts“, sag­te sie. „Ich muß­te Sie nur ir­gend­wie da drin­nen losei­sen. Sie sind über­haupt nicht be­trun­ken!“

„Nein“, mein­te Cle­tus gut­ge­launt. „Und of­fen­sicht­lich auch kein gu­ter Schau­spie­ler.“

„Sie hät­ten mich nicht zum Nar­ren hal­ten kön­nen, wenn Sie es ge­we­sen wä­ren. Für so was ha­be ich ein Ge­spür …“ Sie hob die Hand, die Fin­ger ge­spreizt, als woll­te sie sei­ne Brust be­rüh­ren, dann ließ sie die Hand plötz­lich sin­ken, als er sie fra­gend an­schau­te. „Ich kann Leu­te wie Sie durch­schau­en. Ma­chen Sie sich nichts dar­aus. Es wä­re schlimm ge­nug ge­we­sen, wenn Sie be­trun­ken ge­we­sen wä­ren. Wie tö­richt, sich über einen Mann wie Dow de­Ca­stries lus­tig ma­chen zu wol­len!“

„Ich woll­te mich nicht un­be­dingt lus­tig über ihn ma­chen“, ver­setz­te Cle­tus er­nüch­tert.

„Ach, sei­en Sie doch still!“ mein­te sie. „Glau­ben Sie, ich wüß­te nicht, was für Nar­ren Be­rufs­sol­da­ten aus sich selbst ma­chen kön­nen, wenn sie ver­su­chen, mit Leu­ten au­ßer­halb ih­rer mi­li­tä­ri­schen Welt um­zu­ge­hen? Doch ei­ne Eh­ren­me­dail­le be­deu­tet mir et­was, selbst wenn die meis­ten Zi­vi­lis­ten nicht wis­sen, was das ist!“ Sie schau­te ihm wie­der di­rekt ins Au­ge und muß­te ih­ren Blick ge­walt­sam von sei­nem lö­sen. „Das ist der Grund, warum ich ver­sucht ha­be, Sie bei­de hier und jetzt aus­ein­an­der­zu­brin­gen. Ich be­to­ne: der ein­zi­ge Grund! und ich wer­de es nicht noch ein­mal tun!“

„Ich ver­ste­he“, sag­te Cle­tus.

„Jetzt ge­hen Sie in Ih­re Ka­bi­ne und blei­ben Sie hübsch brav sit­zen! Und mei­den Sie de­Ca­stries von nun an. Das gilt auch für mei­nen Va­ter und für mich … Hö­ren Sie mir über­haupt zu?“

„Frei­lich“, mein­te Cle­tus. „Aber ich möch­te Sie zu­min­dest noch bis zu Ih­rer Ka­bi­ne be­glei­ten.“

„Nein, dan­ke. Ich fin­de mei­nen Weg al­lein.“

„Und was dann, wenn Sie je­mand sieht und dem Mi­nis­ter hin­ter­bringt, daß Ih­nen auf ein­mal nichts mehr fehl­te, so­bald Sie den Spei­se­saal ver­las­sen hat­ten?“

Sie starr­te ihn an, dreh­te sich um und be­gann den Kor­ri­dor ent­lang­zu­ge­hen. Cle­tus hol­te sie mit zwei lan­gen Schrit­ten ein und ging im Gleich­schritt ne­ben ihr her.

„Was den Be­rufs­sol­da­ten be­trifft“, sag­te er sanft, „so ist der ei­ne nicht wie der an­de­re …“

Sie blieb ab­rupt ste­hen, wand­te sich ihm zu und zwang ihn, eben­falls ste­hen­zu­blei­ben. „Ich neh­me an“, sag­te sie grim­mig. „Sie glau­ben, mein Va­ter sei nie et­was an­de­res ge­we­sen als ein Söld­ner.“

„Na­tür­lich nicht“, ver­setz­te Cle­tus. „Bis vor zehn Jah­ren war er Ge­ne­ral­leut­nant der Kö­nig­li­chen Ar­mee von Af­gha­nis­tan, wenn ich mich nicht ir­re.“

Sie schau­te ihn ver­dutzt an. „Wo­her wis­sen Sie das?“ frag­te sie in an­kla­gen­dem Ton.

„Mi­li­tär­ge­schich­te – selbst die der jüngs­ten Zeit – ge­hört zu mei­nem Fach­ge­biet“, er­wi­der­te er. „Da­zu ge­hört auch der Auf­stand der Uni­ver­si­tät von Ka­bul mit an­schlie­ßen­der Macht­über­nah­me in der Haupt­stadt. Die Ar­mee von Af­gha­nis­tan dürf­te nur einen ein­zi­gen Ge­ne­ral Eachan Khan ge­habt ha­ben. Er muß erst vor ein paar Jah­ren nach der Macht­über­nah­me von der Er­de emi­griert sein.“

„Er hät­te es nicht nö­tig ge­habt!“ sag­te sie. „Die Ar­mee woll­te ihn ha­ben, selbst nach­dem Af­gha­nis­tan sei­ne Un­ab­hän­gig­keit auf­ge­ge­ben hat­te und zu ei­nem Sek­tor der Ko­ali­ti­on wur­de. Aber da war noch et­was an­de­res …“ Sie brach ab.

„Et­was an­de­res?“ frag­te Cle­tus.

„Das wür­den Sie nie­mals be­grei­fen!“ Sie wand­te sich von ihm ab und be­gann wie­der den Kor­ri­dor ent­lang­zu­ge­hen. Doch schon nach we­ni­gen Schrit­ten brach es aus ihr her­vor, als könn­te sie ihr Ge­heim­nis nicht für sich be­hal­ten. „Mei­ne Mut­ter war ge­stor­ben … und … Sa­laam Bads­ha­hi Dau­lat Af­gha­nis­tan … Als die To­dess­tra­fe für je­den ge­for­dert wur­de, der es wag­te, die al­te af­gha­ni­sche Na­tio­nal­hym­ne zu sin­gen, gab er auf. Er emi­grier­te – zu den Dor­sai.“

„Es ist ei­ne neue Welt vol­ler Sol­da­ten, ei­ne mi­li­tä­ri­sche Welt“, mein­te Cle­tus. „Es dürf­te ihm nicht schwer­ge­fal­len sein …“

„Man bot ihm den Rang ei­nes Haupt­manns an – ei­nes Haupt­manns in ei­nem Söld­ner­ba­tal­li­on!“ fun­kel­te sie ihn an. „Nun hat er es in zehn Jah­ren ge­schafft, sich wie­der zum Obers­ten hoch­zu­die­nen – und da sitzt er nun und wird wohl auch blei­ben. Weil näm­lich die Söld­ner der Dor­sai nur kurz­fris­ti­ge Ver­trä­ge ab­schlie­ßen kön­nen – und nach al­len Ab­zü­gen bleibt kaum ge­nug üb­rig, um uns einen kur­z­en Be­such auf der Er­de zu er­mög­li­chen, ge­schwei­ge denn, dort wie­der Fuß zu fas­sen, so­fern uns die Exo­ten kei­ne Dienst­rei­se ge­neh­mi­gen.“

Cle­tus nick­te. „Ich ver­ste­he“, sag­te er. „Aber es wä­re falsch zu ver­su­chen, sei­ne Zie­le über de­Ca­stries zu er­rei­chen. Er läßt sich durch sol­che Me­tho­den nicht be­ein­dru­cken.“

„Un­se­re Zie­le …“ Sie dreh­te den Kopf und schau­te ihn an, dies­mal leicht scho­ckiert, wäh­rend ihr Ge­sicht plötz­lich blaß wur­de.

„Si­cher“, sag­te Cle­tus. „Ich ha­be mich schon ge­fragt, was Sie an die­sem Tisch zu su­chen hat­ten. Als Ihr Va­ter zu den Dor­sai emi­grier­te, müs­sen Sie noch min­der­jäh­rig ge­we­sen sein. Al­so sind Sie Dop­pel­staat­le­rin und be­sit­zen so­wohl die Staats­bür­ger­schaft der Ko­ali­ti­on als auch die von Dor­sai. Al­so ha­ben Sie das Recht, je­der­zeit zur Er­de zu­rück­zu­keh­ren und dort zu woh­nen, und zwar auf­grund Ih­rer Ko­ali­ti­ons-Staats­bür­ger­schaft. Ihr Va­ter kann je­doch nicht wie­der ein­ge­bür­gert wer­den, es sei denn durch einen be­son­de­ren po­li­ti­schen Dis­pens, den man so gut wie nie er­wir­ken kann. Sie oder er müs­sen al­so an­neh­men, Ihr Ziel mit de­Ca­stries’ Hil­fe er­rei­chen zu kön­nen …“

„Va­ter hat nichts der­glei­chen im Sinn“, sag­te sie wü­tend. „Was glau­ben Sie, was er für ein Mensch ist?“

Er schau­te sie an. „Nein, Sie ha­ben ent­schie­den recht“, mein­te er. „Es war al­so Ih­re Idee. Er ist nicht der Typ da­für. Ich bin in ei­nem Sol­da­ten­haus­halt auf der Er­de auf­ge­wach­sen, und in man­cher Hin­sicht er­in­nert er mich an je­ne Ge­nerä­le, mit de­nen ich ver­wandt bin. Wenn ich nicht vor­ge­habt hät­te, Ma­ler zu wer­den …“

„Ma­ler?“ frag­te sie und blin­zel­te an­ge­sichts des plötz­li­chen The­men­wech­sels.

„Ja“, sag­te Cle­tus mit schie­fem Lä­cheln. „Ich hat­te ge­ra­de an­ge­fan­gen, als ich ein­ge­zo­gen wur­de und be­schloß, schließ­lich doch die Mi­li­tär­aka­de­mie der Al­li­anz zu be­su­chen, ei­ne Lauf­bahn, die mei­ne Fa­mi­lie für mich be­stimmt hat­te. Dann wur­de ich ver­wun­det und stell­te fest, daß ich mich für die Theo­rie der Kriegs­kunst in­ter­es­sier­te; al­so häng­te ich den Traum vom Ma­ler an den Na­gel.“

Wäh­rend er sprach, war sie au­to­ma­tisch vor ei­ner der Tü­ren ste­hen­ge­blie­ben, die den lan­gen, schma­len Kor­ri­dor säum­ten. Aber sie mach­te kei­ne An­stal­ten, die Tür zu öff­nen. Sie stand nur ein­fach da und schau­te ihn an.

„Warum ha­ben Sie dann über­haupt Ih­ren Lehr­stuhl an der Aka­de­mie auf­ge­ge­ben?“ frag­te sie.

„Ir­gend­ei­ner“, er­wi­der­te er sar­kas­tisch, „muß­te doch da­mit an­fan­gen, Ge­lehr­te mei­nes Schla­ges dar­an zu hin­dern, die Welt un­si­cher zu ma­chen.“

„In­dem man sich Dow de­Ca­stries zum Feind macht?“ ver­setz­te sie un­gläu­big. „War es Ih­nen nicht ei­ne Leh­re, als Sie merk­ten, daß man Ihr Spiel­chen mit den Kaf­fee­tas­sen und den Zucker­wür­feln durch­schaut hat­te?“

„Das war aber nicht der Fall“, er­klär­te Cle­tus. „Ich muß zu­ge­ben, daß er ei­ne sehr gu­te Fi­gur ge­macht hat­te, in­dem er ei­ne Tat­sa­che ent­hüll­te, von der er nichts wuß­te.“

„Er?“

„Aber ja doch“, er­wi­der­te Cle­tus. „Die ers­te Tas­se hat er aus Selbst­über­schät­zung auf­ge­ho­ben – weil er sich ziem­lich si­cher war, mit al­len Mög­lich­kei­ten fer­tig zu wer­den, die ihm mein Spiel bot. Als er den ers­ten Wür­fel fand, mein­te er, ich hät­te einen Schnit­zer ge­macht. Beim zwei­ten Wür­fel be­gann er zu über­le­gen, aber er war im­mer noch zu selbst­si­cher, so daß er einen wei­te­ren Ver­such wag­te. Und als er den drit­ten Wür­fel fand, wur­de ihm plötz­lich klar, daß ich das Spiel voll­stän­dig un­ter Kon­trol­le hat­te. Al­so muß­te er ei­ne Aus­re­de fin­den, um kei­nen wei­te­ren Ver­such mehr zu wa­gen.“

Sie schüt­tel­te den Kopf. „Das dürf­te nicht der rich­ti­ge Weg sein“, mein­te sie zwei­felnd. „Sie ver­dre­hen die Tat­sa­chen, da­mit sie für Sie im güns­ti­gen Licht er­schei­nen.“

„Aber nein“, sag­te Cle­tus. „De­Ca­stries war es, der die Tat­sa­chen ver­dreh­te, in­dem er auf äu­ßerst cle­ve­re Art er­klär­te, warum er nicht mehr be­reit sei, un­ter die nächs­te Tas­se zu schau­en. Nur war die­se Er­klä­rung nicht ganz rich­tig. Denn er wuß­te ge­nau, daß er un­ter je­der Tas­se ein Stück Zu­cker fin­den wür­de.“

„Wo­her soll­te er das wis­sen?“

„Weil ich na­tür­lich un­ter je­de Tas­se ein Zucker­stück ge­legt hat­te“, sag­te Cle­tus. „Als ich den Zucker­wür­fel aus der Do­se nahm, ver­steck­te ich zwei wei­te­re heim­lich in mei­ner Faust. Bis zur vier­ten Run­de hat­te de­Ca­stries das wahr­schein­lich her­aus­ge­kriegt. Die Tat­sa­che, daß es dar­um ging, kei­nen Wür­fel zu fin­den, statt einen zu er­ra­ten, ver­wirr­te ihn zu­nächst. Nach­her war es aber be­reits zu spät, denn es wä­re für ihn ei­ne Bla­ma­ge ge­we­sen zu­zu­ge­ben, daß er sich drei­mal hat­te an der Na­se her­um­füh­ren las­sen. Leu­te wie de­Ca­stries bla­mie­ren sich nun mal nicht gern.“

„Aber warum ha­ben Sie das ge­tan?“ rief Me­lis­sa in höchs­tem Er­stau­nen. „Warum woll­ten Sie sich einen sol­chen Mann zum Feind ma­chen?“

„Ich muß ihn auf mich auf­merk­sam ma­chen“, sag­te Cle­tus, „da­mit ich ihn für mei­ne Zwe­cke ge­brau­chen kann. Al­so muß ich ihn so­weit brin­gen, daß er glaubt, ich könn­te ihm nicht Pa­ro­li bie­ten. Und erst wenn ich al­le sei­ne Ver­su­che in die­ser Rich­tung ver­ei­telt ha­be, kann ich sei­ne vol­le Auf­merk­sam­keit ge­win­nen … Jetzt wer­den Sie auch mer­ken“, fuhr er et­was sanf­ter fort, „warum Sie sich nicht Ge­dan­ken über mich, son­dern über Ih­re Be­zie­hung zu Dow de­Ca­stries ma­chen soll­ten. Ich weiß ihn zu neh­men, Sie hin­ge­gen …“

„Sie … Sie …“ Sie dreh­te ihm in plötz­lich auf­wal­len­der Wut den Rücken zu und riß die Tür auf. „Sie ab­so­lu­ter … Ge­hen Sie hin und le­gen Sie sich mit Dow an. Las­sen Sie sich durch den Fleischwolf dre­hen. Hof­fent­lich tun Sie das. Aber blei­ben Sie weg von mir … und von mei­nem Va­ter! Ver­stan­den?“

Er schau­te sie an, und ein An­flug von Schmerz durch­fuhr ihn. „Na­tür­lich“, sag­te er und trat einen Schritt zu­rück, „wenn Sie es wün­schen.“

Sie be­trat ih­re Ka­bi­ne und schlug die Tür hin­ter sich zu. Er stand noch einen Au­gen­blick da und starr­te auf die Tür. Für den kur­z­en Mo­ment, den er in ih­rer Ge­sell­schaft ver­bracht hat­te, war die Bar­rie­re, die er vor Jahr und Tag er­rich­tet hat­te, als er mein­te, die Welt wür­de ihn nicht ver­ste­hen, fast da­hin­ge­schmol­zen. Nun aber wa­ren die­se Bar­rie­ren wie­der da.

Er nahm einen tie­fen Atem­zug, der fast ei­nem Seuf­zer gleich­kam. Dann dreh­te er sich um und ging den Kor­ri­dor ent­lang auf sei­ne ei­ge­ne Ka­bi­ne zu.