26
Das Gebäude, in dem sich Dr. Abbeys neues Labor befand, hatte seine Existenz offenbar als örtliches Forstamt begonnen. Die Front sah aus, als bestünde sie komplett aus Glas, bis man nah genug heran war, um zu erkennen, dass sich dahinter Metallplatten befanden. Besser noch, die Bäume waren zu allen Seiten zurückgeschnitten und schufen so Raum für einen riesigen Parkplatz, sodass man freie Sicht hatte, wenn man auf Infizierte schießen musste … oder auf uns. Wir hielten vor dem Haupteingang. Auf dem Dach befand sich ein flacher Aufbau, der wohl einmal ein Observatorium gewesen war, falls nötig aber auch einen verdammt guten Platz für Scharfschützen abgab.
Becks stieg als Erste aus dem Wagen, und noch ehe ich den Helm abnehmen konnte, hatte sie bereits eine Pistole auf meinen Kopf gerichtet. Ich hätte sie dafür küssen können, wären da nicht diese Sache zwischen uns und der Umstand gewesen, dass ich wahrscheinlich ansteckend war. Laut Feldbestimmungen musste ich ständig überwacht werden, bis ich ein sauberes Testergebnis ablieferte, und das war ja wohl nicht zu erwarten.
Ich nahm meinen Helm ab. Die Nachtluft fühlte sich kühl an, auf meinem verschwitzten Nacken sogar kalt.
»He«, sagte ich erschöpft. Meine Kehle war etwas trocken, aber das war alles. Ich erlebte keine der anderen Symptome, die meines Wissens nach das Einsetzen einer Virenvermehrung ankündigten. Typisch für mich. Hatte ich also unbedingt ein widerstandsfähiges Immunsystem entwickeln müssen.
»He«, erwiderte Becks und neigte den Kopf ein wenig. »Wie fühlst du dich?«
»Ich würde gerne endlich das rote Licht sehen und die Sache hinter mir haben.« Mahir, Alaric und Maggie stiegen aus. Alle drei sahen erschüttert und elend aus. Ich nickte ihnen zu. »He, Leute, wisst ihr, wie man eine Wachformation einnimmt?«
»Ja«, sagte Alaric.
»Nein«, sagte Maggie.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Mahir.
»Ist gut. Becks, Alaric, ihr bewacht mich. Mahir, du bewachst Maggie.« Ich trat von dem Motorrad weg, wobei ich den Helm auf dem Sattel liegen ließ, und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Wollen wir Dr. Abbey sagen, dass sie Gäste hat?«
Ich kam mir beinahe vor, als würden wir unseren Anmarsch bei der Seuchenschutzbehörde parodieren, als wir auf das Gebäude zugingen. Mahir und Maggie gingen zuerst, gefolgt von Becks, die rückwärtsging, damit sie weiter die Waffe auf mich richten konnte. Alaric bildete die Nachhut. Auch er hatte seine Waffe gezogen, und ich wusste, dass er auf meinen Kopf zielte. Sobald es irgendein Anzeichen dafür gab, dass ich mich verwandeln würde, würden sie mich erledigen, bevor ich ernsthaften Schaden anrichten konnte. Das war beruhigend.
Wenigstens sind sie gut ausgebildet, bemerkte George.
»Immerhin etwas«, brummte ich. Ihre gute Ausbildung würde vielleicht sogar dazu beitragen, dass sie ein Weilchen länger lebten, jetzt, wo ich nicht mehr für sie verantwortlich war.
Wir waren noch etwa zehn Meter von der Tür entfernt, als sie sich öffnete. Dr. Abbey kam mit an die Schulter gehobener Schrotflinte zum Vorschein, neben ihr die Dogge Joe, die riesiger als je zuvor aussah. Vielleicht hatte sie sie mit unerwünschten Besuchern gefüttert.
»Also seid ihr doch gekommen«, sagte sie. Ihr Blick wanderte über unsere Gruppe und blieb bei mir hängen. Sie hob die Brauen. »Und du bist unter Bewachung, weil …?«
»Ich wurde vor etwa sieben Kilometern gebissen«, antwortete ich. »Da war ein Rudel Infizierter im Wald. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir alle getötet haben, aber vielleicht möchtest du ja einen Putztrupp hinschicken, nur zur Sicherheit.«
»Wir haben keinen Bluttest durchgeführt, weil wir nicht wollten, dass die Ergebnisse bei der Datenbank der Seuchenschutzbehörde hochgeladen werden«, sagte Mahir. »In Anbetracht der Umstände kam uns das nicht besonders klug vor.«
Mir sackte das Herz in die Hose. Darüber hatte ich überhaupt nicht nachgedacht. »Scheiße!«, flüsterte ich.
Niemand erwartet große Denkleistungen von dir, nachdem ein Zombie gerade versucht hat, dir den Arm abzubeißen.
»Sagst du.«
»Also habt ihr ihn hergebracht?« Dr. Abbey zuckte mit den Schultern und senkte ihr Gewehr. »Ich wäre ja mit einer Flasche Wein zufrieden gewesen, aber eine neue Testperson und ein paar frische Leichen tun’s auch. Kommt rein, Leute! Shaun, versuch nicht, irgendjemand zu berühren, sonst müssen meine Labortechniker dir vielleicht den Kopf wegpusten!«
»Geht klar«, antwortete ich.
»Braver Junge.« Lächelnd trat Dr. Abbey zurück und ließ Becks und den Rest von uns ein.
Das neue Labor war noch nicht so gut eingerichtet wie das alte. Überall standen Kisten dicht aufeinander, und der Geruch nach »Wissenschaft« hatte sich noch nicht festgesetzt – diese Mischung aus komischen Chemikalien, Desinfektionsmitteln, keimfreier Luft und Plastikhandschuhen. Dieses Labor roch recht angenehm nach Zedernholz. Das würde sich ändern, sobald man hier alles auf den neuesten Stand gebracht hatte. Vorausgesetzt natürlich, dass die Leute hier überhaupt noch dazu kommen würden. Die meisten der Regale sahen nach Behelfskonstruktionen aus, als handelte es sich hier nur um eine kurzfristige Einrichtung. Das Verrückte-Wissenschaftler-Äquivalent eines Zeltlagers für die Nacht.
Gehilfen in Laborkitteln wieselten umher, packten Kartons aus und brachten Tabletts mit Proben von hier nach dort. Die Sturmgewehre, die sie an Schulterriemen trugen, waren eine Neuerung, die deutlich machte, wie ernst sie die Lage nahmen. Das war eine kleine Erleichterung. Ich würde mein Team nicht ohne jemanden zurücklassen, der es verteidigen konnte.
»Molena, Alan«, sagte Dr. Abbey und winkte zwei Techniker heran. »Bringt diese Gruppe in die Cafeteria! Gebt ihnen Kaffee und Bluttests, und schaut, ob ihr irgendwo was Essbares zusammenkratzen könnt! Nicht diese erbärmliche Lasagne, die es zu Mittag gab. Die kann man nicht mal den Schweinen zumuten.«
»Ja, Dr. Abbey«, sagte der größere der beiden Techniker. Er drehte sich zu der Gruppe um. »Wenn ihr mich begleiten würdet?«
»Natürlich«, sagte Mahir. »Shaun …«
»Lass es!« Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. »Leute, bitte lasst es! Alles Nötige ist gesagt. Also kein Wort mehr, in Ordnung?«
»Alles klar«, antwortete er und wandte sich von mir ab, um dem Labortechniker zu folgen. Maggie warf einen unsicheren Blick zurück zu mir und tat es ihm dann nach.
Alaric verharrte noch einen Moment lang und verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Schließlich sagte er: »Grüß Georgia von mir«, und dann floh er und ließ mich mit Becks und Dr. Abbey zurück. Und natürlich mit Joe. Der saß mit hängender Zunge und wedelndem Schwanz neben seiner Herrin. Von uns allen war er der Einzige, der den Ernst der Lage nicht begriff, worum ich ihn ein bisschen beneidete.
Dr. Abbey schaute zu Becks. »Kein Hunger?«
»Erst möchte ich wissen, was du mit ihm vorhast.« Beim Sprechen hielt sie die Waffe auf mich gerichtet. Profi bis zuletzt. Ihre Hand zitterte nur ein kleines bisschen. Als ich mich in der gleichen Lage befunden hatte wie sie, hatte ich mich nicht so gut gehalten.
»Das ist nur fair. Komm mit, Shaun!« Dr. Abbey bedeutete mir mit einem Wink, ihr zu folgen, drehte sich um und ging einen Flur entlang. Sie rief niemanden, um ein Auge auf mich zu haben. Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass Becks genügen würde.
Wir gingen etwa zwanzig Meter weit, vorbei an aufgetürmten Pappkartons und hastig zusammengeschraubten Metallregalen. Ständig liefen Labortechniker an uns vorbei, schnappten sich dies und jenes und verschwanden über den Flur und durch Türen. Wahrscheinlich ist es keine einfache Aufgabe, mit einem ganzen virologischen Labor umzuziehen.
Dr. Abbey nahm eine Bluttesteinheit von einem der Regale und ging weiter, wobei sie immer wieder Labortechnikern, an denen wir vorbeikamen, zunickte oder sie leise grüßte. Erst vor einer Tür mit der Aufschrift Isolation III hielt sie an. »Hier rein«, sagte sie und machte auf. Ich rührte mich nicht vom Fleck. »Worauf wartest du, auf eine Einladungskarte? Rein da!«
»Ich dachte …«
»Wir gehen nicht mit dir rein. Stell dich nicht wie ein Trottel an!« Sie hielt mir die Bluttesteinheit hin. »Geh rein, setz dich und mach den Test! Du kannst nicht raus. Du kannst niemandem etwas tun.«
Ich ließ vor Erleichterung die Schultern herabsacken. »Danke«, sagte ich. Ich warf Becks ein letztes Lächeln zu, auch wenn ich es mir abringen musste. Ich würde niemandem etwas zuleide tun. Mehr musste ich nicht wissen. Becks erwiderte mein Lächeln. Sie weinte. Das tat mir zwar leid, aber ich konnte nichts dagegen machen. Also trat ich vor, nahm die Testeinheit von Dr. Abbey entgegen und ging an ihr vorbei in die abgedunkelte Isolationskammer.
Die Tür schwang hinter mir zu, und das Schloss rastete mit einem hydraulischen Zischen ein, das lange genug anhielt, um mir deutlich zu machen, dass die Sicherheitsvorkehrungen hier alles andere als lässig waren. Das Zischen verstummte, und die Deckenlichter gingen an und erleuchteten einen Raum, der etwa so groß war wie mein altes Schlafzimmer aus der Zeit, als George und ich noch bei den Masons gewohnt hatten. Die Wände waren in einem glänzenden, neutralen Beige gestrichen, und es gab drei Einrichtungsgegenstände: eine schmale Pritsche an einer Wand, einen am Boden festgenieteten Metalltisch und einen Klappstuhl. Auf der Pritsche lagen eine Decke und ein kleines Kissen. Anscheinend sollten die Todeskandidaten es so bequem wie möglich haben.
Bequemlichkeit interessierte mich jedoch nicht. Ich ging zu dem Stuhl, setzte mich und legte die Testeinheit vor mir auf den Tisch. Es kam mir vor, als erwiderte sie meinen Blick anklagend, als begriffe sie nicht, warum ich nicht endlich anfing.
»Es kommt ja eigentlich nicht gerade darauf an«, sagte ich unglücklich, zog meine Handschuhe aus und warf sie auf den Tisch. Blut war mir über den linken Arm auf die Hand gelaufen und verkrustete sich unter meinen Fingernägeln. Schaudernd warf ich einen Blick darauf und wünschte mir, es irgendwie abwaschen zu können. Nach der Virenvermehrung würde es mir vermutlich gleichgültig sein, aber bis dahin wusste ich, dass es da war. Ich krümmte die Finger, spürte einer möglichen Versteifung meiner Gelenke nach und wandte meine Aufmerksamkeit dann wieder der Testeinheit zu.
So ein Modell hatte ich noch nie gesehen – am ehesten sah es aus wie die Bilder von Dr. Patels ursprünglicher Konstruktion, die einfach nur das Virenlevel maß, ohne dabei in Echtzeit die Resultate anzuzeigen, und die definitiv keine Daten an die Seuchenschutzbehörde schickte. Ich nahm sie in die Hand, suchte nach den Lichtern und fand keine. Offenbar musste ich nicht erfahren, ob ich infiziert war oder nicht, sobald ich mich in der Isolationskammer befand. Ich verzog missmutig das Gesicht. »Ist das nicht wunderbar?«
»Bring es hinter dich«, sagte George neben mir.
Ich riss den Kopf hoch und schaute mich nach ihr um. Sie war nirgendwo zu sehen. Meine Laune wurde nicht gerade besser. »Mir ist gerade nicht danach, mich zu hetzen.«
»Das Ergebnis wird auch kein anderes, wenn du wartest.« Ihre Stimme kam diesmal von der anderen Seite. Irgendwie schaffte ich es diesmal, nicht hinzuschauen. Ich seufzte bloß.
»Kannst du dich vielleicht einfach zeigen?«
»Nein, tut mir leid, aber das ist deine Entscheidung und nicht meine.«
»In Ordnung. Stimmt. Tja … wenn du dich schon nicht zeigst, kannst du dann wenigstens hierbleiben?«
Ich spürte die flüchtige Ahnung einer Berührung, als sie mir mit der Hand durch den Nacken strich. »Bis zum Ende. Versprochen!«
»In Ordnung«, sagte ich und öffnete den Deckel der Testeinheit. »Eins …«
»Zwei …«
Ich knallte die Hand flach auf die metallene Druckfläche und die Nadeln nahmen ihre Arbeit auf. Sie stachen tief, und ich schnappte nach Luft und biss mir auf die Zunge. Ich hatte gedacht, dass eine Virenvermehrung einem derlei Dinge leichter machte, aber ich spürte nicht den geringsten Unterschied. Bluttests tun immer weh, aber dieser war besonders schlimm, vielleicht weil es sich um eine so primitive Einheit handelte.
Als die letzten Nadeln sich aus meiner Hand zurückzogen, hob ich sie wieder. Die Testeinheit piepte einmal und war dann still. Keine Lichter, keine Warnlaute, kein Hinweis darauf, ob ich bestanden hatte oder durchgefallen war. Nicht, dass ich wirklich eine Bestätigung für meine Infektion gebraucht hätte – »Fließt es rot, bist du tot«, wie man mir bei meiner Ausbildung gesagt hatte –, aber trotzdem wäre es nett gewesen. Eigentlich sollte man seine Ergebnisse sehen können. So gehörte sich das bei einem Test.
»He!« George legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wie wär’s, wenn du dich mal hinlegst? Du bist erschöpft.«
Ich schüttelte ihre Hand ab. »Nein, ich will das nicht verschlafen. Wenn ich aufhöre, ich zu sein, will ich das nicht verpassen.« Mir kam ein Gedanke, und ich lachte verbittert. »Wenn ich immer noch Halluzinationen von dir habe, kann die Vermehrung ja noch nicht so weit fortgeschritten sein, oder? Du bist ein ziemlich komplexes Fantasiegebilde. Zombies kriegen wahrscheinlich keine so hochwertigen Wahnvorstellungen zustande.«
»Vielen Dank auch!«
»Nichts zu danken.«
Sie verstummte, und ich tat es ihr nach. Ich war zu angespannt, um mich zu unterhalten, und sei es mit einer Toten, die nur in meiner Einbildung existierte. Ich würde bloß versuchen, sie zu provozieren, und sie würde versuchen, mich zu beschwichtigen, und früher oder später würden wir einander anschreien, und ich würde die letzten paar Minuten meines bewussten Lebens damit verbringen, mich mit der einen Person zu streiten, mit der ich mich am wenigsten streiten wollte. Ich wollte bloß sicher sein, dass sie da war und dass ich diese Sache nicht alleine durchstehen musste.
Also starrte ich die Testeinheit an, anstatt mit George zu reden, und versuchte, das Ding durch pure Willenskraft dazu zu bringen, sich Lichter wachsen zu lassen und mir zu verraten, was ich wissen musste. Es sollte mir lediglich bestätigen, dass mein Leben vorbei war. War doch nicht weiter schwer. Das bekam heutzutage noch der letzte Toaster hin.
Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß und auf die Testeinheit starrte, während ich spürte, wie meine Kehle immer trockener wurde, und darauf wartete, dass die Symptome einsetzten. Die Atembeschwerden, die Lichtempfindlichkeit, die verworrenen Gedanken – all die kleinen Grenzen, die Menschen von Zombies trennten. Eine trockene Kehle war nur der Anfang, und meine Ausbildung war umfassend genug gewesen, damit ich wusste, wie es weitergehen würde. Ich kannte jeden einzelnen Schritt entlang des Weges.
Die Tür ging auf.
Mein Kopf ruckte hoch, und angespannt wartete ich darauf, dass mein Todesschütze eintrat. Ich fragte mich, ob man wohl Becks schicken würde, um mich zu erschießen, ob sie darauf bestanden hatte. Wir hatten lange zusammengearbeitet, und die meisten Irwins betrachten es als Teil ihrer Arbeit, infizierte Kameraden zu erschießen. Das ist ein Zeichen von Respekt.
Dr. Abbey betrat die Kammer.
Einen Moment lang stockte mir der Atem, und ich riss die Augen auf. Als ich sah, dass Joe sich mit heftig wedelndem Schwanz an ihr vorbeidrückte, riss ich sie sogar noch weiter auf. »Du lässt ihn mit hier drin sein, während du mir den Gnadenschuss gibst?«, fragte ich. »Echt kaltblütig. Ich meine, nicht, dass ich mir darüber ein Urteil erlauben könnte, aber das ist echt kaltblütig.«
Dr. Abbey lächelte. »Hallo, Shaun!« Sie machte die Tür hinter sich zu und wartete, bis die Schlösser zischend einschnappten, ehe sie mir gegenüber an den Tisch trat. Sie hatte einen Klappstuhl dabei, auf dem sie sich nun niederließ, ohne mich dabei ein einziges Mal aus den Augen zu lassen. »Wie fühlst du dich?«
»Du solltest nicht hier drin sein«, antwortete ich. Joe ging um den Tisch herum und bohrte mir zum Hundegruß die enorme Schnauze zwischen die Beine. Ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig an das Blut an meiner Hand, sonst hätte ich ihn weggeschoben. »Das ist nicht sicher.«
»Ach stimmt ja. Du bist ansteckend.« Sie griff in die Tasche ihres Laborkittels, holte eine Dose Cola hervor und stellte sie zwischen uns auf den Tisch. »Du hast sicher Durst. Immerhin sitzt du hier schon eine ganze Weile herum.« Ich starrte sie an. »Nein, ehrlich, mach die Dose auf! Ich will sehen, wie geschickt du mit den Händen bist.«
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, griff ich nach der Dose. Es beruhigte mich, sie kalt und schwer in meiner Hand zu spüren, sogar noch bevor ich sie öffnete, die Augen schloss und einen tiefen, eiskalten Schluck trank. Noch nie hatte mir etwas so gut geschmeckt wie dieses klebrige Zuckerzeug.
Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass Dr. Abbey mich aufmerksam beobachtete. »Wie fühlt sich deine Kehle an, Shaun?«, fragte sie.
»Ein bisschen trocken. Ich verstehe nicht, was du hier …« Ich hielt inne. Meine Kehle fühlte sich nicht mehr trocken an. Stattdessen spürte ich das Restprickeln der Kohlensäure, das mit dem Genuss von Georges Zuckerlandnutten einherging. »… machst«, beendete ich meinen Satz langsam. »Dr. Abbey?«
»Ich bin hier, weil ich mit dir über deine Testergebnisse sprechen möchte, Shaun.« Sie griff erneut in die Tasche und holte diesmal eine ganz gewöhnliche Feld-Testeinheit hervor. Als sie meine Überraschung sah, erklärte sie: »Keine Sorge. Wir haben sie umgebaut, sodass sie keine Daten sendet, obwohl sie denkt, dass sie es tut. Das Ding wird weder der Seuchenschutzbehörde noch sonst jemandem verraten, wo wir sind.«
»Ich begreife das nicht. Ist bei meinem ersten Test etwas schiefgegangen?«
»Nein, bei deinem ersten Test ist nichts schiefgegangen. Darf ich dann bitten?« Sie deutete auf die Einheit. »Mach den verdammten Test, der Frau zuliebe, die bereit ist, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, indem sie deinem Team Unterschlupf gewährt.«
»Klar.« Zumindest gab es an dieser Einheit Lichter. Ich öffnete den Deckel, flüsterte »eins« und wartete darauf, dass George mit zwei antwortete, bevor ich die Hand auf die Testfläche drückte. Die Nadeln bohrten sich mir ins Fleisch, kurz und schmerzhaft wie immer, und die Lichter begannen, im komplexen Muster der Analyse rot und grün zu blinken. Am Anfang blinkten sie schnell, dann wurden sie langsamer und pendelten sich nach und nach beim Endergebnis ein. Es dauerte nur etwa dreißig Sekunden, bis das letzte Licht zu blinken aufhörte.
Alle fünf leuchteten grün.
Stirnrunzelnd blickte ich zu Dr. Abbey auf. Joe schob die Schnauze in meine Hand. Ich beachtete ihn nicht. »Ist das eine Nebenwirkung davon, dass ihr die Datenübertragung blockiert habt? Habt ihr etwas an dem Ding geändert, sodass es Negativergebnisse als Positivergebnisse interpretiert?«
»Nein Shaun, haben wir nicht.« Dr. Abbey nahm ruhig den Verschluss und setzte ihn zurück auf die Testeinheit. Dabei behielt sie die ganze Zeit mein Gesicht im Auge. Sie bewegte sich langsam und mit Bedacht, um mich nicht zu erschrecken. Darum hätte sie sich keine Sorgen mehr machen müssen. Ich war weit über den Punkt hinaus, an dem mich noch etwas erschrecken konnte. »Keine der Anpassungen, die wir an unseren Geräten vorgenommen haben, würde derart selbstmörderische oder idiotische Folgen haben wie die, ein Positivergebnis als Negativergebnis anzuzeigen. Wenn überhaupt würden wir einfach die Anzeigen deaktivieren, wie bei deinem ersten Test. Dessen Ergebnisse sind auf meinem Computer gelandet und auf sonst keinem. Ich konnte mir dein gesamtes Virenprofil ansehen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will dir gar nichts sagen. Was ich sage, ist Folgendes: Deine Testergebnisse – sowohl die, die du nicht gesehen hast, als auch die von eben – sind sauber.« Dr. Abbey schaute mich bedeutungsvoll an. Ihre Miene verriet, dass sie ihren Übermut kaum zügeln konnte. »Du bist nicht krank, Shaun. Es wird keine Vermehrung geben. Ich weiß nicht, was dein Körper gemacht hat, aber er wurde dem aktiven Virus ausgesetzt … und er hat es zurückgeschlagen. Du wirst überleben.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also starrte ich sie bloß an, während die grünen Lichter an der Testeinheit stetig leuchteten, wie die Anklage für ein Verbrechen, das ich niemals hatte begehen wollen. Ich hatte von Anfang an recht gehabt: Eine Virenvermehrung wäre ein zu einfacher Ausweg gewesen, und als mein Körper vor die Wahl gestellt worden war, hatte er sich einfach geweigert. Ich würde weiterleben.
Und jetzt?