23
»Ja, ich bleibe dran«, knurrte Mahir, während er weiter auf und ab ging. Ich bemerkte ihn kaum. Ich konnte den Blick nicht vom Fernseher abwenden, in dem weiterhin CNNs getreuer Bericht lief, über die schlimmste Katastrophe seit dem Sommer 2014, als die Toten zum ersten Mal aufgestanden waren, um die Lebenden zu verspeisen.
Maggie saß neben mir auf dem Sofa. Sie war sogar noch stärker auf die Nachrichten fixiert als ich.
Ihr Interesse an der Situation war etwas unmittelbarer als meines: Garcia Pharmazeutika hatte drei Fabriken und ein Forschungszentrum in den betroffenen Gebieten, und wenn sie auch nur für einen Moment wegschaute, verpasste sie vielleicht den Tod von jemandem, den sie ihr Leben lang gekannt hatte.
Alaric und Becks hatten sich nach einer Stunde in die Küche zurückgezogen. Alaric versuchte, seine Satellitenverbindung wieder in Gang zu bekommen, während Becks ihre Waffen putzte und die Schlösser an den Fenstern überprüfte – nur für den Fall. Ich konnte das nur gutheißen, auch wenn ich selbst nicht die Energie dazu aufbrachte, mich von der Stelle zu rühren.
Das reicht, sagte George unvermittelt. Der Fernseher zeigte einen Schulbus, in dem sich die Flüchtlinge drängten und der von lebenden Toten belagert wurde. Die Menschen im Innern schrien; ich sah ihre Gesichter durch die Scheiben. Solange sie schrien, waren sie noch Menschen. Aber zu retten waren sie nicht mehr. Ich hoffte, dass die Infektion sie schnell dahinraffen würde oder dass noch jemand genug Munition hatte, um …
Shaun! Georges Schrei riss mich aus meiner Benommenheit. Es ist erstaunlich, wie laut einem so etwas im eigenen Kopf vorkommen kann.
Ich drehte mich um und starrte die leere Luft zu meiner Linken finster an. Maggie, die selbst völlig weggetreten war, schien nichts davon zu bemerken. »Was ist?«, fragte ich.
George verschränkte die Arme und erwiderte meinen Blick unnachgiebig. »Es hilft niemandem, wenn du da rumsitzt wie ein Fernsehjunkie, weißt du. Du musst rausfinden, was zum Teufel los ist.«
»Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen, hä?« Mit hilflos ausgebreiteten Armen deutete ich auf den Fernseher und auf Mahir, der noch immer auf und ab ging und knurrend in sein Telefon sprach. »Derzeit ist alles ziemlich scheiße, George, falls du das noch nicht bemerkt hast.«
»Oh, glaub mir, das habe ich bemerkt. Ich verstehe nur nicht, warum es mich kümmern sollte.« George packte mich am Arm und zog mich auf die Beine. »Komm mit! Du hast zu tun.« Mit einem nachdenklichen Blick fügte sie hinzu: »Und etwas anziehen solltest du dir auch. Himmel noch mal, Shaun, sitzt du hier etwa wirklich rum und siehst in Unterhosen fern? Das ist echt traurig.«
»Wenn es so viel zu tun gibt, warum kümmerst du dich dann nicht darum?«
»Weil ich tot bin, schon vergessen?« Sie ließ meine Handgelenke nicht los, sondern zog mich Richtung Küche. »Du musst Alaric fragen, ob Maggie unseren Wagen in die Garage gestellt hat, bevor alles abgeriegelt worden ist.« Als sie meinen verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte sie. »Komm schon, Shaun, versuch mal etwa dreißig Sekunden lang bei der Sache zu bleiben, dann darfst du durchdrehen, in Ordnung? Wenn wir zum Wagen kommen, ohne dabei rauszumüssen, dann können wir unseren Notfall-Signalverstärker holen.«
Ich riss die Augen auf. »Kacke, du hast recht! Den haben wir immer noch, nicht wahr?«
»Wenn du ihn nicht in einem beispiellosen Moment der Vernunft weggeworfen und mir nichts davon gesagt hast, dann haben wir ihn noch, ja.«
Als Buffy Meissonier noch in unserem Team war, hatten wir es mit einer völlig durchgeknallten Spinnerin zu tun, die uns noch dazu letztlich an die Regierungsverschwörung verraten hat, durch die George ums Leben gekommen ist. Zugleich hatten wir an ihr aber auch die beste Computerspionin gehabt, die mir je begegnet ist, sei es nun auf dem Privatsektor oder bei der Regierung. Sie konnte mit Computern Dinge anstellen, die über Science-Fiction noch hinausgingen, und zwar mit Schmetterlingshologrammen im Haar und in einem T-Shirt, auf dem stand, dass irgendjemand namens Joss ihr Herr und Meister wäre. Man sagt, dass Buffy gut war. Das stimmt nicht. Buffy war großartig.
Mahir brüllte noch immer in sein Telefon, als George mich an ihm vorbeizerrte. Er warf mir einen gehetzten Blick zu und nickte, wobei sein Blick einfach durch George hindurchging. Das war nur logisch, denn schließlich war sie wohl kaum wirklich anwesend.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier eine ganz neue Stufe der Verrücktheit darstellt«, brummte ich, während George mich in die Küche zerrte.
»Ich bin nicht der Grund für deinen psychotischen Zusammenbruch, nur ein Symptom« erwiderte sie scharfzüngig und stieß mich auf Becks und Alaric zu.
Während ich bloß auf den Fernseher gestarrt hatte, hatten sowohl Mahir als auch Becks es geschafft, sich etwas anzuziehen. In Kampfstiefeln, einem schwarzen Tank Top und Tarnhosen – dem Irwin-Äquivalent zu einer Uniform – saß sie mit Alaric am Tisch. Er hatte seinen Laptop so dicht wie möglich an sich herangezogen, und auf dem Rest des Tischs hatte Becks ihr kleines Waffenarsenal ausgebreitet. Gerade setzte sie eine halb automatische Handfeuerwaffe wieder zusammen, die eigentlich nicht zum privaten Besitz freigegeben war. Als die beiden mich kommen hörten, blickten sie auf.
»Was gibt’s Neues?«, fragte Becks. Sie ließ das Magazin mit einem lauten Klicken einrasten, das in der Küche widerhallte und einer der Bulldoggen, die vor der abgeriegelten Tür lag, ein erschrecktes Kläffen entlockte.
»Nichts Gutes«, antwortete ich. George hatte meine Handgelenke losgelassen, sobald sie mich dort hatte, wo sie mich haben wollte, und überrascht stellte ich fest, dass sie nun wieder weg war. Ich hatte nichts dagegen. Dass sie plötzlich auftauchte und mich durch die Gegend zerrte, stellte eine neue Stufe des Wahnsinns dar, über die ich mir vorerst nicht den Kopf zerbrechen wollte. Und später eigentlich auch nicht. »In den Gebieten, die nicht offiziell zu Gefahrenzonen erklärt wurden, hat man den Notstand verhängt, und langsam sieht es so aus, als ob die ganze verdammte Golfküste bald eine Gefahrenzone der Stufe eins sein würde.«
Alaric erbleichte. »Das können sie nicht machen.«
»Doch, das können sie.« Becks legte ihre Waffe beiseite. »Wenn klar ist, dass ein Ausbruch mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung eines bestimmten Gebiets betrifft, dann empfehlen USAMRIID und die Seuchenschutzbehörde einhellig, es zum Schutz der umliegenden Gebiete zu einer Gefahrenzone der Stufe eins zu erklären. Die Regierung behält sich das Recht vor, dieser Empfehlung nachzukommen.« Ihre Lippen verzerrten sich zu einem schiefen Lächeln. »Unsere Eltern haben für dieses goldige kleine Gesetz gestimmt, und wir haben es niemals widerrufen. Warum auch? Ausbrüche sind Kleinigkeiten. Üble Kleinigkeiten. Lieber lässt man fünfzehn Leute sterben, um fünftausend zu retten, hab ich recht?«
»Nur dass wir diesmal fünfzehn Millionen sterben lassen«, sagte ich. »Das klingt schon ein bisschen anders, findest du nicht? Alaric?«
Blinzelnd drehte er sich zu mir um. Er war blass und wirkte benommen, als könnte er nicht glauben, was vorging. Das war verständlich. Ich konnte es auch kaum glauben. »Was ist?«
»Wo ist der Wagen?«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Ich holte mühsam beherrscht Atem und fügte hinzu: »Wo ist unser Wagen? Hat Maggie dir gesagt, dass du ihn in die Garage fahren sollst, nachdem wir weg sind, oder steht er immer noch hinterm Haus?«
Wenn der Wagen draußen stand, dann konnte ich nicht an ihn heran. Vielleicht konnte ich einen von Maggies Wach-Ninjas schicken – aber dann musste ich ihnen erklären, wo sie den Verstärker finden würden, und ich war mir nicht sicher, ob mein Gedächtnis das hergab.
»Ich …« Stirnrunzelnd hielt Alaric inne. »Er ist in der Garage. Bis ihr angerufen habt, stand er hinterm Haus – Maggie wollte die Garage für Fiktive auf der Durchreise freihalten –, aber als du meintest, dass wir die Schotten dichtmachen sollen, hat sie Angst gekriegt und mich gebeten, ihn reinzubringen, wo man ihn nicht per Satellit sehen kann.«
»Gott segne den berechtigten Verfolgungswahn«, sagte ich inbrünstig und machte mich auf den Weg Richtung Garage. Die Bulldoggen hoben die Köpfe und schauten mich winselnd an.
»Wo gehst du hin?«, fragte Becks und schickte sich an aufzustehen.
»Zum Wagen.« Ich schaute zwischen den beiden hin und her, sah ihre verständnislosen Gesichter und erklärte: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Buffys alter Signalverstärker noch da drin ist. Wenn ich den in Gang kriege …«
»… dann sind wir wieder online«, sagte Alaric mit weit aufgerissenen Augen, als er begriff. »Das Ding habe ich total vergessen!«
»Wir haben es im letzten Jahr ja auch nicht direkt gebraucht.« Ich ging wieder los. »Bin gleich zurück. Falls ich nicht gleich wiederkomme, tja … Scheiße, ich weiß auch nicht. Falls ich nicht gleich wiederkomme, werft ein paar Gasgranaten in die Garage, ruft die Wachtypen und lasst sie so lange auf mich schießen, bis ich zu bluten aufhöre.«
»Wir erschießen dich selbst«, sagte Becks, woraufhin Alaric ihr einen verstörten Blick zuwarf. Sie beachtete ihn nicht. Nach einer Weile im Feld lernt man, solche Reaktionen wegzustecken. Entweder das, oder man gibt den Versuch auf, mit Leuten zu reden, die keine Irwins sind.
»Danke!« Ich öffnete die Tür zur Garage, schob mit dem Fuß eine Bulldogge beiseite, bevor sie sich an mir vorbeistehlen konnte, und schlüpfte hindurch.
Das weiße Neonlicht in der Garage ging automatisch an, als die Tür zur Küche sich schloss, und erfüllte den Raum mit seinem gleichmäßigen, sterilen Schein. Ich suchte alles mit Blicken ab und schätzte automatisch die Belastbarkeit der Regale ab, ebenso die der Rohrleitungen, die den Wasserboiler mit dem Notgenerator verbanden. Maggie benutzte die Garage in erster Linie als Lagerraum. Sie hatte die meisten Regale mit Kisten vollgepackt, und die, die sich am nächsten bei der Küchentür befanden, nutzte sie als Speisekammererweiterung. Ein komplettes Abteil, das vom Boden bis zur Decke reichte, war Beuteln mit Hundetrockenfutter vorbehalten. Zumindest würden die Bulldoggen nicht so bald vor Hunger durchdrehen.
Unser Wagen stand in der Mitte der Garage. Jemand hatte ihn gewaschen, sodass der Lack im sterilen Licht glänzte. Ich ging einen Schritt auf ihn zu.
»Hallo, Shaun«, sagte die Stimme des Hauses. Irgendwie klang sie tadelnd, was ein netter kleiner Trick war, weil sie eigentlich kein menschliches Ausdrucksvermögen hatte. Ich verharrte und hielt vergebens nach einem Lautsprecher Ausschau. »Ich fürchte, das Haus ist derzeit abgeriegelt. Es wird Ihnen nicht gelingen, es zu verlassen. Am besten Sie kommen wieder herein.«
»Kein Problem. Ich will gar nicht raus.« Ich zwang mich, meinen Körper zu entspannen, Zentimeter für Zentimeter. »Ich muss nur etwas aus dem Wagen holen.«
»Jeder Versuch, die Isolationsversiegelung aufzubrechen, wird mit den gebotenen Mitteln unterbunden werden.«
»Gebotene Mittel« war ein höflicher Ausdruck dafür, dass das Sicherheitssystem des Hauses mich an Ort und Stelle erschießen würde, falls es den Eindruck gewann, dass ich das Garagentor zu öffnen versuchte. »Verstanden«, sagte ich. »Ich will nicht raus, das schwöre ich. Der Wagen steht direkt vor mir, und ich werde nicht mal den Motor anlassen. Versprochen!«
»Ich weiß Ihre Kooperation zu schätzen«, sagte das Haus und verstummte. Ich wartete ein paar Sekunden darauf, ob es versuchen würde, mich wieder aus der Garage hinauszubefördern. Nichts geschah. Diesmal ging ich schneller Richtung Wagen – wenn das Haus der Meinung war, dass ich herumtrödelte, gelangte es vielleicht doch noch zu dem Schluss, dass ich fliehen wollte, und dann konnte die Situation sehr schnell sehr unangenehm werden. Der Einsatz tödlicher Gewalt durch private Überwachungssysteme ist genehmigt, seit irgendein Arschgesicht in Arizona sein Haus mit Schreckschussmunition vollgepackt hat und anschließend von einem Rudel ausgehungerter Infizierter in Stücke gerissen wurde. Seine Erben verklagten die Sicherheitsdienstfirma, die seine Verteidigungsanlagen betreut hatte, und die Firma verklagte daraufhin die Regierung, mit dem Argument, dass man es ihr nicht gestattet hätte, alles Nötige zu tun, um das Leben ihrer Klienten zu schützen.
»Mangum vs. Pierce Security vs. Bundesstaat Arizona«, bemerkte George. Sie erreichte den Wagen kurz vor mir und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tür. »Erinnerst du dich noch, wofür Buffy den Signalverstärker hatte?«
»He, George! Schön, dich zu sehen.« Ich drückte meinen Daumen auf den Scanner und ließ mich vom Wagen als autorisierter Fahrer registrieren. Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken. »Bedeutet das, dass ich jetzt endgültig verrückt werde?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ohne Sonnenbrille sah ihr Gesicht immer noch falsch aus, zugleich fremd und vertraut. »Ich glaube, es bedeutet, dass du einen Weg gefunden hast, mit Dingen fertigzuwerden, die eigentlich eine Nummer zu groß für dich sind. Maggie verfällt also in Schockstarre, Mahir brüllt die Botschaft an, weil er mit seiner Frau verbunden werden will, und du …«
»Ich bekomme Anweisungen von einer Toten. Toll.« Ich bedachte sie mit einem geplagten Lächeln und öffnete die Wagentür. »Immerhin freue ich mich, dass du hier bist. Wenn du Mom wärst, dann würde mich das Ganze ziemlich schnell nerven.«
George schnitt eine Grimasse. »Alles hat auch immer sein Gutes.«
»Wirklich? Was ist an der Sache mit Florida denn gut? Da fällt mir nämlich nichts ein.« Im Wagen lag unsere Feldausrüstung – in einem wilden Durcheinander bedeckte sie die Ablagen und den größten Teil des Bodens. Es würde mindestens eine Stunde dauern, wenn nicht länger, um ihn für eine Exkursion bereit zu machen. Ich konnte Maggie und Alaric schlecht einen Vorwurf daraus machen, dass sie ihn in einem derartigen Zustand hinterlassen hatten – sie hatten nicht damit gerechnet, das Haus ohne große Vorwarnzeit zu verlassen, und sie hatten keine Felderfahrung –, aber ich knirschte trotzdem mit den Zähnen, als ich sah, dass der Waffenständer nicht richtig gesichert war. Wenn wir aus irgendeinem Grund fliehen mussten, konnten uns derartige Schlampereien das Leben kosten.
»Wenn du da nichts Gutes siehst, dann sehe ich es auch nicht. Das weißt du doch.«
Am liebsten hätte ich sie angeschrien, aber ich verkniff es mir. Früher war ein Streit mit George für mich immer die beste Methode gewesen, Dampf abzulassen. Seit sie fort ist, versuche ich, so etwas zu vermeiden. Es kommt mir nicht fair vor, wenn keiner von uns beiden das Zimmer verlassen kann. Außerdem hatte ich, als ich geistig noch etwas klarer war, immer Angst, dass ich etwas Unverzeihliches sagen würde und sie mich daraufhin allein mit der Dunkelheit hinter meinen Augen zurücklassen würde. Dass ich nie wieder etwas von ihr hören würde. Davor hatte ich jetzt nicht mehr solche Angst. Aber wir hatten einfach keine Zeit dafür, uns zu streiten.
»He, George, tust du mir einen Gefallen? Entweder du verschwindest, oder du hörst auf, mir dauernd zu erzählen, dass du bloß ein Produkt meiner Fantasie bist und hilfst mir dabei, den verdammten Verstärker zu finden. Ich komme nämlich nicht damit klar, wenn du hier immer rumhängst und behauptest, dass ich verrückt bin. Das muss ich mir schon oft genug von allen andern anhören.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl«, gab sie trocken zurück und stieg zu mir in den Wagen. Sie konnte natürlich nichts berühren, aber trotzdem verursachten ihre Füße leise, hallende Laute, als sie auf das Trittbrett trafen, und ihr Schatten an der Wand bewegte sich genau so, wie man es hätte erwarten sollen. Beeindruckend, wie realistisch meine Halluzinationen waren, auch wenn die meisten anderen Menschen so etwas wohl nicht gerade für ein gutes Zeichen halten würden.
»Wirklich? Im Moment wünsche ich mir nämlich einen Panzer.« Ich hielt inne. »Vielleicht auch zwei Panzer. Becks will sicher auch einen, und ich will nicht selbstsüchtig sein.«
»Du denkst eben immer auch an die anderen.« Als sie an mir vorbeiging, strich sie mir mit den Fingern durch den Nacken. Ich erschauderte. »Das letzte Mal, als ich den Verstärker gesehen habe, hat Buffy ihn gerade hier hinten verstaut, bei der restlichen Netzwerkhardware.«
»Die haben wir am Valentinstag umgeräumt, als Becks ihre Artikelserie über ›Romantische Orte, die man mit einem Irwin aufsuchen kann‹ geschrieben hat.« Ich schnippte mit den Fingern. »Die Schließfächer!«
George lehnte sich an die Ablage und schaute mir dabei zu, wie ich mich auf die Knie niederließ, den Teppichboden beiseiterollte und die darunter verborgene Falltür öffnete. Wir haben nicht im ganzen Wagen einen doppelten Boden – dadurch wäre er viel zu schwer und instabil geworden –, aber bei der ersten großen Umrüstung haben wir ein paar Staufächer für verregnete Tage eingebaut. Bei der Arbeit an gewissen Artikeln konnten wir darin das eine oder andere an den Kontrollen vorbeischmuggeln, und ansonsten eigneten sie sich wunderbar dazu, Lebensmittel zu verstecken … oder überflüssige Hardware.
Das erste Fach enthielt nur ein paar komische Pornocomics und russische Mädchenzeitschriften. Ich lächelte unwillkürlich. »Verdammt noch mal, Dave! Du warst schlau und du hattest Nerven, aber Geschmack hattest du nicht.«
»Er war ziemlich in Magdalene verliebt«, bemerkte George.
Ich fügte hinzu: »Meistens hattest du keinen Geschmack. Aber manchmal hast du genau richtiggelegen.« Ich öffnete das zweite Fach. Darin lag, in einem Polster aus Klebestreifenklumpen, ein Metallgehäuse mit einem halben Dutzend angeschweißter Antennen. Vorsichtig befreite ich ihn aus seinem Bett. »Da haben wir ihn.«
»Denk dran, dass der dazugehörige Akku noch fehlt.«
»Stimmt.« Ich steckte die Hand zwischen die Klebestreifenklumpen und wühlte einen Moment herum, bis ich schließlich einen kleinen, rechteckigen Metallgegenstand fand, mit einem Netzteil an einem Ende und einem USB-Eingang am anderen. »Gefunden!« Ich hielt den Akku in die Höhe, um ihn George zu zeigen.
Sie war verschwunden. Mal wieder.
Einen Moment lang verharrte ich und schaute an die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte – scheinbar gestanden hatte. Dann ließ ich den Akku mit einem Seufzer sinken, nahm den Verstärker in die Hand und richtete mich auf. »Diese Stufe des Wahnsinns dürfte ziemlich schnell ziemlich nervig werden, weißt du.«
Tut mir leid. Aber du bist noch nicht so geisteskrank, dass du so eine Halluzination länger aufrechterhalten könntest.
»Das bedeutet dann wohl, dass die ganze Frage mit dem ›Niemals‹, über die wir geredet haben, sich gar nicht stellt, was?« Während ich sprach, bewegten meine Hände sich wie von alleine, zogen eine Tasche unter der Anrichte hervor und steckten den Verstärker hinein.
Ich schätze, das hängt von dir ab, antwortete George bedauernd. Ich bin nicht die, die ihr Leben weiterleben muss. Ich bin die, die hier ist, weil du mich noch brauchst.
»Ja, weißt du was? Im Augenblick würde ich echt durchdrehen, wenn ich nicht so verrückt wäre. Komm!«
Ich schloss die Wagentür hinter mir und ging zurück durch die Garage. Das Sicherheitssystem des Hauses blieb stumm. Es war wohl schlau genug, um festzustellen, dass ich mich nicht in die Nähe eines der Ausgänge begeben hatte. Entweder das, oder es war einfach nicht in der Stimmung, sich mit mir zu streiten. So oder so war es mir egal.
Alaric und Becks saßen immer noch genau dort, wo ich sie zurückgelassen hatte, am Küchentisch. Es gab allerdings einen Unterschied. Die Hälfte von Becks Waffen war verschwunden, sodass ich Platz hatte, die Tasche auf den Tisch zu stellen. »Alaric, hast du ein Verlängerungskabel?«
»In meiner Laptoptasche«, antwortete er und beugte sich vor, um es herauszuholen. »Hast du den Signalverstärker gefunden?«
»Hab ich. Hast du eine Ahnung, wie er funktioniert?«
»Eigentlich nicht.«
»Das erklärt, warum wir aufgehört haben, ihn zu benutzen. Dann müssen wir wohl hoffen, dass meine klassische Hau-drauf-bis-es-funktioniert-Methode uns rettet.« Ich setzte mich und packte den Verstärker aus. Alaric reichte mir das Verlängerungskabel. Ich schloss es an den Akku an, und Becks steckte das andere Ende in eine Steckdose.
Versuch, nichts kaputt zu machen, was du nicht wieder reparieren kannst.
»Sei still, du«, sagte ich unbestimmt. »Ich arbeite.«
Becks und Alaric wechselten einen Blick, sagten jedoch nichts. Das war wohl auch besser so.
Buffy hatte ihre Ausrüstung selbst gebastelt. Das wäre auch in Ordnung gewesen – eine Menge Leute bauten ihre Ausrüstung selbst zusammen –, wenn ihre Meinung darüber, wie Geräte aussehen sollten, nicht durch und durch von Fernsehserien aus der alten Zeit geprägt gewesen wäre. Sie kriegte mehr Drähte, Schalter und Knöpfe an eine einzige Fernbedienung als jeder andere Mensch, der mir je begegnet ist, und jeder davon hatte Sinn und Zweck. Außerdem wusste sie, dass sie nach ihren Maßstäben mit einem Haufen wurstfingriger Technik-Legastheniker zusammenarbeitete. Nachdem George zum fünften Mal versucht hatte, einen Server durch einen Stiefeltritt neu zu starten, hatte Buffy an allen Geräten Idiotenknöpfe angebracht, mit denen man nur auf die Grundfunktionen Zugriff hatte.
»Rot«, murmelte ich. »Rot, rot, rot …« Früher einmal waren rote Knöpfe verbreitet. Man sah sie gut, und jeder verstand, dass sie wichtig waren. Nach dem Erwachen nahm Rot eine andere Bedeutung an: Es wurde die Farbe der Infektion, die Farbe der Gefahr … die Farbe des Todes. Rote Knöpfe wurden an Geräten angebracht, die Selbstzerstörungsfunktionen brauchten und signalisierten, dass man sie unter keinen Umständen anrühren sollte. Also machte Buffy mit ihrem verdrehten Sinn für Humor und ihrer Vorliebe für die Ästhetik der alten Zeit alles, worauf es ankam, rot.
Der Knopf in der Mitte der Kontrollen war von einem glänzenden Erdbeerrot. Becks und Alaric kannten Buffys Ruf und hatten sie auch bei Mitarbeitertreffen gesehen, aber sie waren erst nach ihrem Tod Teil des festen Kerns geworden. Von einigen ihrer kleinen Marotten hatten sie nie etwas erfahren. Von daher war es nicht weiter überraschend, dass Alaric aufsprang, als ich auf ebendiesen Knopf drückte. Becks konnte sich gerade so beherrschen und blieb sitzen.
Ich nahm den Finger vom Knopf. Der Verstärker gab ein fröhliches Piepen von sich, als er begann, die lokalen Netzwerke nach Sicherheitslücken abzusuchen … Ich schaute nacheinander zu Becks und Alaric, lächelte und stand auf.
»Gebt dem Ding fünf Minuten«, sagte ich. »Ich hol mir eine Cola. Will wer von euch was?«
Beide verneinten.
Der Signalverstärker tickte vor sich hin und piepste ab und zu, wenn er mit einem weiteren Teil der Netzwerkstruktur zufrieden war. Er hatte bereits drei der von mir veranschlagten fünf Minuten verbraucht, als Mahir in die Küche kam und sich dabei mit der Hand durchs Gesicht rieb. Er hatte sich die Brille auf die Stirn hochgeschoben und wirkte erschöpft. Als er den piepsenden, blinkenden Kasten auf dem Tisch sah, klappte er seine Brille runter und runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll das sein, und was macht es da?«, fragte er.
»He, Mahir!« Ich nahm einen Schluck Cola und hob grüßend die Dose. »Hat die Botschaft dich durchgestellt?«
»Nein.« Er zog eine finstere Miene. »Alle internationalen Gespräche sind gesperrt, bis klar ist, was los ist. Natürlich geht die verdammte Regierung von einer Terrorhandlung aus. Man hat mir soeben angeboten, mich nach England zurückzubringen. Als ob die USA das Recht hätten, einen indischen Staatsbürger gegen seinen Willen festzuhalten.«
»Ich glaube, wenn sie die Sache zum Terrorakt erklären, können sie das«, bemerkte Alaric.
Mahir stutzte. »Vielleicht hast du recht. Aber darüber will ich mir erst mal keine Gedanken machen. Also, mag mir jemand erklären, was das da für ein Ding sein soll?«
Der Signalverstärker piepste diesmal lauter, und die Lichter an ihm leuchteten in hellem Sonnengelb auf. Ich stieß mich von der Anrichte ab. »He, Alaric, schau mal nach deiner Verbindung!«
»Schon dabei, Boss.« Er tippte auf seiner Tastatur herum. Dann hieb er mit der Faust in die Luft und reckte die Arme triumphierend empor. »Wir haben Internetzugang!«
»Das Mädchen war ein echtes Genie.« Ich trank meine Cola aus und warf die leere Dose in die Spüle. »Das ›Ding‹ ist der Original-Georgette-Meissonier-Internet-und-Satellitenempfänger. Ich habe keine Ahnung, wie er funktioniert. Es ist mir egal, wie er funktioniert. Ich weiß nur, dass man ihn, wenn man keinen Empfang hat, einsteckt und anschaltet, worauf er ein Signal für einen findet. Er …«
Niemand hörte mir mehr zu. Alaric tippte hektisch, während Becks und Mahir ihre eigenen Laptops holten und aufklappten. Ich schaute mich kopfschüttelnd um.
»Danke, Shaun! Wir wissen es wirklich zu schätzen, dass du den Kontakt zur Außenwelt wiederhergestellt hast, Shaun. Du bist klasse, Shaun«, sagte ich trocken.
Becks zeigte mir den Mittelfinger.
»Nichts zu danken«, sagte ich und verließ die Küche.
Mein Laptop lag auf dem Sofa, neben Maggie, die noch immer wie gebannt auf den Fernseher starrte. Auf ihrem Schoß lag ein ganzer Haufen Bulldoggen. Sie reagierte nicht. »He! Maggie!«
Noch immer keine Antwort. »Maggie, he, komm schon! Du musst jetzt damit aufhören, dir das anzuschauen. Es ist nicht gut für dich, wahrscheinlich ist es sogar ziemlich schlecht für dich.« Sie reagierte noch immer nicht. »George …«
Mach einfach aus!
»Alles klar.« Die Fernbedienung lag auf der Sofalehne. Ich nahm sie und schaltete den Fernseher ab. Dann steckte ich mir die Fernbedienung in die Tasche, sodass niemand ohne mein Wissen an sie herankommen würde.
Sofort protestierte Maggie. »He!«, rief sie und blickte sich vergeblich nach der fehlenden Fernbedienung um. »Das wollte ich sehen!«
»Und jetzt siehst du es nicht mehr«, antwortete ich. »Wir haben wieder eine Internetverbindung.«
»Wirklich?« Einen Moment lang wurde ihre Miene hoffnungsvoll. »Ist die Lage … sind wir …?«
»Ich habe Buffys halb legalen Signalverstärker ausgegraben. Wahrscheinlich zapfen wir gerade einen Satelliten des Verteidigungsministeriums an oder so, aber es besteht sicher eine gute Chance, dass das Ding deinen Eltern gehört, also soll’s mir egal sein. Wenn sie sauer werden, kannst du mit den Wimpern klimpern und ihnen sagen, dass es uns leidtut. Alaric ist bereits online, Becks und Mahir sind dichtauf, und du willst dich ja vielleicht auch mal einloggen, um nach deinen Fiktiven zu sehen, dich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht.« Zumindest so gut, wie es einem unter diesen Umständen gehen konnte.
Maggie gehört nicht zu der Sorte Mensch, die häufig oder für lange Zeit zusammenbricht. Als ich die Fiktiven erwähnte, klärte ihr Blick sich, und sie nickte. »Ich bin mir nicht sicher, wie viele von ihnen eine Verbindung haben, aber diejenigen, die online sind, sind wahrscheinlich ganz krank vor Sorge.« Sie nahm die Bulldoggen von ihrem Schoß und setzte sie aufs Sofa. Zwei sprangen auf den Boden und trotteten davon, um ihren geheimen Bulldoggengeschäften nachzugehen. Die dritte gab ein leises Schnaufen von sich, rollte sich zusammen und schlief wieder ein.
Noch nie zuvor hatte ich einen Hund beneidet.
»Die Städte müssten noch online sein«, sagte ich. »Wenn sie San Francisco aus dem Netz geworfen hätten, müssten sie sich neben den Zombies auch noch mit einem Volksaufstand herumschlagen. Wahrscheinlich haben wir deshalb keine Verbindung mehr, weil wir zu weit draußen in der Pampa sind, als dass sich jemand für unser Schicksal interessieren würde.«
Kalte Berechnung, sagte George seufzend.
»Genau«, antwortete ich.
Maggie tat so, als hätte sie nichts gehört, während sie aufstand und sich die Hundehaare von den Beinen wischte. »Wenn wir eine Internetverbindung haben, dann haben wir auch wieder Voice over IP«, sagte sie. »Ich rufe meine Eltern an.«
Ich blinzelte. Maggie gab gerne das Geld ihrer Eltern aus, aber die Absicht, sich bei ihnen zu melden, hatte sie in meiner Gegenwart noch nie geäußert. Das war ein Teil ihres Lebens, der uns andere eindeutig nichts anging. »Wirklich?«
»Wirklich.« Sie bedachte mich mit einem ironischen Blick. »Es sei denn, du willst, dass eine Privatarmee aufkreuzt, um mich hier rauszuholen.«
»Ruf deine Eltern an!«
Die Hälfte der Hunde folgte Maggie aus dem Wohnzimmer, während die andere Hälfte in ihren unterschiedlichen Schlafhaltungen liegen blieb. Ich setzte mich aufs Sofa, stützte die Ellbogen auf die Knie, ließ den Kopf in die Hände sinken und versuchte mir zu überlegen, was wir als Nächstes tun sollten. Kein Druck oder so. Schließlich war es nur das Ende der Welt.
Als Teenager hatte ich eine Science-Fiction-Phase, etwa als George ihre US-Geschichts- und Wütende-Beatpoeten-Phase hatte. Von den besten Sachen haben wir einander immer erzählt, wobei sie eine Menge über Strahlenkanonen lernte und ich eine Menge über Revolutionen. Es gab diese eine Geschichte – an den Autor kann ich mich nicht mehr erinnern – über einen Typ, der einen Impfstoff auf einen Planeten voller Kranker bringen muss. Der Treibstoff ist ganz genau berechnet, weil Treibstoff teuer ist und das Schiff ziemlich klein. Und dann hat sich dieses kleine Mädchen, das all das nicht wusste, an Bord seines Schiffs versteckt. Sie will zu ihrem Bruder. Nur gibt es nicht genug Treibstoff, um sie beide zu dem Planeten mit den Kranken zu bringen, und sie weiß nicht, wie man das Schiff landet und den Impfstoff verabreicht. Wenn sie überlebt, sterben alle auf dem Planeten. Es war eine Frage der kalten Berechnung. Wie viele Leben ist ein Mensch, selbst jemand völlig Unschuldiges, wert? George und ich haben darüber diskutiert, wenn auch eher zum Spaß, aber am Ende der Gleichung ist immer der Tod herausgekommen.
Wenn der Ausbruch schlimm genug war, würden sie alle öffentlichen Dienstleistungen mit Ausnahme der absolut lebenswichtigen auf die Großstädte beschränken. Auch das war kalte Berechnung: Bei einem Ausbruch in Weed würde es nicht viel Nahrung für die Zombies geben, und er wäre geografisch hinreichend isoliert, um ihn ohne allzu viele weitere Verluste einzudämmen. Ein Ausbruch in Seattle oder San Francisco würde Millionen Tote bedeuten, sich anschließend über die Stadtgrenzen hinaus ausbreiten und weitere Millionen das Leben kosten. Wir waren die blinden Passagiere auf diesem Raumschiff, und der Treibstoff genügte nur, um eine Person sicher ans Ziel der Reise zu bringen.
»Du solltest das Team zusammenrufen«, sagte George, setzte sich neben mich und lehnte den Kopf an meine Schulter. Solche Liebesbeweise hatte sie mir sogar als Kind immer nur entgegengebracht, wenn wir allein gewesen waren. Sie hatte nicht gewollt, dass die Masons sie sahen.
»Ich weiß.« Ich blickte nicht auf. »Maggies Leute werden nicht die Einzigen sein, die sich Sorgen machen.«
»Haben wir jemanden in Florida?«
»Nicht in Florida, aber wir hatten einen Newsie in Tennessee, und ich glaube zwei Irwins in Louisiana. Sie haben in den Bayous gearbeitet.« In meinem Kopf blitzten ihre Gesichter auf, bewegungslose Bilder, die gut an die Mauer gepasst hätten. Grimmig dachte ich daran, dass man sie wohl auch bald dort sehen würde. Alana Cortez, die Reptilien liebte und eigentlich mehr giftige Schlangenbisse abbekommen hatte, als man überleben konnte, und Reggie Alexander, ein Berg von einem Mann, der vor allem dadurch Berühmtheit erlangt hatte, dass er einem Zombie einen Faustschlag versetzt hatte und hinterher noch davon erzählen konnte. Sie waren beide kompetent und engagiert gewesen, hatten Aussichten auf eine gute Karriere gehabt. Aber sie waren in Louisiana. Und Louisiana gab es nicht mehr.
»Dann ist es um so wichtiger, den Kontakt herzustellen. Wenn wir jemanden verloren haben, dann kommen die Leute sonst am Ende noch auf die Idee, dass wir alle verloren haben.«
Ich seufzte. »Ja, ich weiß.«
George legte mir eine Hand in den Nacken. Vielleicht hätte der Umstand, dass ich sie spürte, mich beunruhigen sollen, aber ich brachte einfach nicht die Kraft dazu auf. Außerdem war ich viel zu dankbar dafür, dass sie überhaupt da war.
»He, George?«
»Ja?«
»Das, was ich … vorher gesagt habe.« Mit »vorher« meinte ich vor Kellys Tod, bevor Dr. Wynne sich gegen uns gewandt hatte, bevor wir nur wenige Stunden vor einer Katastrophe biblischen Ausmaßes aus der Seuchenschutzbehörde geflohen waren … vor alldem. Bevor die Welt sich verändert hatte.
»Ja?«
»Das habe ich nicht so gemeint. Ich habe es wirklich nicht so gemeint.« Ich hob den Kopf, und da war sie und schaute mich mit unverhohlener Sorge aus schwermütigen, fremden Augen an. »Verlass mich nicht! Bitte verlass mich nicht! Ohne dich schaff ich das nicht, und wenn ich muss, höre ich wahrscheinlich einfach auf zu funktionieren.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen!« Sie lächelte traurig, und ihre Hand ruhte weiter in meinem Nacken, fest und warm und lebendig. Wenn das der Wahnsinn war, dann war ich mir wirklich nicht sicher, ob ich etwas anderes wollte. »Ich gehe nicht weg.«
»Gut«, flüsterte ich. Zusammen mit meiner toten Schwester saß ich auf dem Sofa, lauschte auf die Stimmen aus der Küche und fragte mich, wie zum Henker ich uns unbeschadet da durchbringen sollte.
Scheiß drauf! Ich habe im Moment nicht die Kraft für etwas Tiefsinniges. Schaltet eure verdammten Computer ab und verbringt ein bisschen Zeit mit euren Familien, ehe der Weltuntergang endgültig gelaufen ist. Das ist so ziemlich die letzte Tiefsinnigkeit, die mir noch einfällt.
Unsere Zeit ist abgelaufen, und wir wussten nicht mal, dass sie begrenzt war.
Aus Anpassen oder Sterben, dem Blog von Shaun Mason, 24. Juni 2041.
Dito.
Aus Charmante Lügen, dem Blog von Rebecca Atherton, 24. Juni 2041.