18
»Alaric, Koordinaten?« Als ich nur Schweigen zur Antwort erhielt, verbiss ich mir ein Knurren und versuchte es erneut: »Alaric, wo bist du?« Ich konnte ihm schwerlich verübeln, dass er nicht mit der eigenwilligen Mischung aus Militär- und Amateurfunkerjargon vertraut war, wie sie unter Irwins üblich war. Und doch konnte ich nicht anders, als mich zu ärgern.
Diesmal antwortete er. Seine Stimme kam deutlich hörbar durchs Telefon: »Ich bin gerade an der letzten Überarbeitung, und Becks führt noch ein paar Erkundungen für ihren Bericht durch.«
»Das ist keine Antwort.« Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und beobachtete Maggie dabei, wie sie Kelly Schritt für Schritt beibrachte, Pfannkuchenteig zu machen. Entweder war Kelly die schlechteste Köchin der Welt, oder Maggie konnte einfach nicht erklären. Beides war gut möglich. »Wo genau seid ihr?«
»In der Nähe von Mount Shasta.« Mein Schweigen verriet Alaric offenbar, dass ich mehr Informationen brauchte, weshalb er hinzufügte: »Etwa eine Stunde von euch entfernt. Warum? Sollen wir auf dem Heimweg was einkaufen?«
Damals, als Buffy noch am Leben gewesen war, hatten wir uns darauf verlassen können, dass unsere Verbindung gegen alles auf diesem Planeten gesichert war, einschließlich der CIA. So überragend waren unsere Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr, aber dank der Upgrades, die wir uns aus Maggies Haussystem zusammengestückelt hatten, Becks Improvisationstalent und Alarics Fähigkeiten, was Computer betraf, war alles im grünen Bereich. Zumindest so weit, dass ich sagen konnte, was ich sagen wollte: »Mahir ist hier.«
Jetzt schwieg Alaric einen Moment lang. Schließlich fragte er: »Mahir hat einen Bericht geschickt?«
»Nein, du Trottel, Mahir ist hier. Mahir schläft oben in dem Gästezimmer, in dem vorher ich war. Er ist mit nicht viel mehr als Hemd und Hose hier eingetroffen, und mit einem Koffer voller wissenschaftlicher Daten, und er sieht aus wie platt gedrückte Scheiße.«
Maggie schaute zu mir rüber. »Ist das Alaric? Sag ihm, dass er auf dem Weg beim Curry-Haus anhalten soll. Ich gebe eine Bestellung auf.«
»Alles klar. Alaric, Maggie sagt …«
»Ich habe sie gehört«, fiel er mir ins Wort, wobei es ihm gelang, zugleich verärgert und verblüfft zu klingen. »Das ist dein Ernst, oder? Mahir ist wirklich hier.«
»Ja, sag ich doch.« Alaric begann zu fluchen. Beeindruckt lauschte ich ihm. Ich hatte nicht gewusst, dass er so gut Kantonesisch konnte. Ein paar Minuten ließ ich ihn gewähren, dann unterbrach ich ihn. »Gibst du mit dem Mund deiner Mutter noch einen Kuss?«
Sei nett zu meinen Newsies, sonst wird es dir leidtun, das schwöre ich, sagte George leise.
»Ich bin doch nett.«
Glücklicherweise war Alaric noch am Fluchen. Er beendete soeben eine komplizierte Wortfolge, die auf Kantonesisch begann und auf Englisch endete, indem er, beinahe verwundert, sagte: »… Sohn eines hühnerfickenden Sojabauern und eines degenerierten Konferenzzentrumswachmanns. Wie ist er hergekommen? Geht es ihm gut? Müssen wir wieder umziehen?«
»Ich würde lieber warten, bis ich es dir und Becks auf einmal erklären kann. Im Moment ist er erschöpft. Aber ich bin mir ziemlich sicher, das nicht auf ihn geschossen wurde – zumindest bis jetzt –, und das ist auch etwas, worüber ich gerne mit allen sprechen würde. Also, wann könnt ihr hier sein?«
Ich hörte ein Klappern, als Alaric seine Tastatur wegschob und dabei irgendetwas auf den Boden des Sendewagens fiel. »Gib mir zehn Minuten, um Becks zu holen, dann breche ich ein halbes Dutzend Tempolimits auf dem Weg zu dir.«
»Vergiss nicht, das Essen zu holen«, rief Maggie.
»Maggie sagt …«
»Ich hab’s gehört. Braucht ihr sonst noch was?«
»Fahr einfach vorsichtig, lass dich nicht anhalten, und bretter nicht irgendwo rein! Wenn wir schon einen entsetzlichen Tod sterben müssen, dann alle zusammen.«
»Tolle Motivation, Boss. Sehr anrührend. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem du mir gesagt hast, dass ich auf dem Heimweg nicht gegen einen Baum fahren soll.« Alaric fügte irgendetwas Ätzendes auf Kantonesisch hinzu – das bisschen, was ich in meinem Anfängerkurs gelernt hatte, veranlasste mich zu der Vermutung, dass er mich soeben als Ziegenficker bezeichnet hatte – und legte auf.
Grinsend nahm ich meinen Kopfhörer ab und steckte ihn mir in die Hemdtasche. Dann drehte ich mich zu Maggie und Kelly um. »Sie sind auf dem Weg, und ja, Maggie, Alaric holt Essen. Er meinte, dass sie in etwa einer Stunde hier sind. Warum machst du Pfannkuchen, wenn wir doch Essen bestellen?«
»So habe ich etwas zu tun, und Mahir hat später sicher noch Hunger, jetzt wo er ein international gesuchter Flüchtling ist.« Maggie reichte Kelly ein weiteres Ei. »Ich sage dem Haus, dass es unsere normale Bestellung abschicken soll, mit drei zusätzlichen Mahlzeiten.«
»Ist in Ordnung.« Ich stand auf, ging an den Kühlschrank und holte mir eine Dose Cola heraus. »Macht mir auch zwei Pfannkuchen, ja?«
»Hatte ich sowieso vor.« Maggie nahm Kelly die Schüssel ab. Sie schaute hinein, seufzte und fing an, Eierschalen aus dem Teig zu sammeln. »Ich nehme an, dass es bei ihm ziemlich schlecht aussehen muss, sonst wäre er nicht hergekommen.«
»Ich wüsste nicht, dass es derzeit schlechter aussieht als gestern, aber es dürfte wohl bald ziemlich übel werden, ja.« Ich musste die ganze Zeit an Mahirs beiläufige Bemerkung über Scheidungsunterlagen denken. Ich hatte seiner Frau zwar einen Haufen Scheiß zugemutet, seit die beiden geheiratet hatten, aber das hatte ich doch nicht gewollt. Er riskierte alles, um hier bei uns zu sein. Zum Teufel noch mal, er hatte seit dem Tag, an dem er sich bereit erklärt hatte, wieder bei uns einzusteigen, alles riskiert. Ich hoffte nur, dass wir dem Vertrauen gerecht werden konnten, dass er in uns setzte, denn sicher war ich mir da nicht mehr.
Hauptsache, du vergisst das Atmen nicht, riet mir George. Keiner von uns kann jetzt noch zurück. Dafür ist es zu spät.
»Da hast du recht«, brummte ich, öffnete die Cola und trank einen Schluck, bevor ich fragte: »Doc, was weißt du über viralen Parasitismus?«
Kelly glotzte mich an. »Was?«
»Das war etwas, worüber Mahir geredet hat, bevor er zum Pennen hochgegangen ist – das Virus verhält sich in Leuten mit Reservoirkrankheiten wie ein Parasit, und dadurch lernen ihre Körper, wie sie besser mit ihm zurechtkommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was er gemeint hat, aber ich schätze, dass du für uns übersetzen kannst, wenn wir unsere große Konferenz abhalten.«
»Ich …« Kelly runzelte nachdenklich die Stirn. »Das ist nicht gerade eine verbreitete Theorie, aber ich habe schon mal von ihr gehört. Im Prinzip besagt sie, dass das Virus sein Verhalten ändern und sich von einem reinen Raubtier zu einer Art symbiotischem Parasiten wandeln kann.«
»Ist das nicht das, was die beiden Ursprungsviren eigentlich hätten tun sollen?«, fragte Maggie, während sie sich wieder zum Herd umdrehte. Sie goss Teig in die Pfanne, sodass heißer, süßer Duft den Raum erfüllte. »Eigentlich hätte man sie sich einfangen und sie dann für immer behalten sollen … wie, ich weiß nicht, wie komische unsterbliche Hamster, die Krebs heilen.«
»Nur dass diese Hamster tollwütig geworden sind.« Ich trank einen Schluck Cola. »Wenn das etwas ist, das wir schon wissen, gibt es dann einen Grund, jemanden abzuschieben, der darüber forscht? Über viralen Parasitismus, meine ich. Nicht über Hamster.«
»Nein«, sagte Kelly fest. »Es gibt keinen guten Grund, jemanden abzuschieben, weil er über viralen Parasitismus forscht.«
»Das dachte ich mir.« Ich lehnte mich zurück, trank von meiner Cola und schaute Maggie beim Pfannkuchenmachen zu. Kelly schwieg, und ein nachdenklicher Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Man konnte beinahe zusehen, wie es in ihrem Kopf ratterte, während sie sich ein Glas Wasser holte und sich mir gegenüber niederließ. Wir warteten auf die Pfannkuchen.
Mahirs Eintreffen hatte alles verändert. Wir waren auf der Stelle getreten, hatten unsere Artikel geschrieben, das Material von Dr. Abbey studiert und darauf gewartet, dass etwas passierte, weil offenbar immer, wenn wir es uns zu gemütlich machten, etwas passierte. Den Punkt, an dem wir uns sicher aus der Sache hätten zurückziehen können, hatten wir längst verpasst – vielleicht schon an dem Tag, an dem George und ich auf die Idee gekommen waren, uns der Wahlkampagne von Senator Ryman anzuschließen. Ich weiß es nicht – aber das bedeutete nicht, dass wir uns beeilt hätten, das große Finale zu erreichen. Wir hatten abgewartet, was als Nächstes passieren würde. Jetzt, wo Mahir zu uns gestoßen war, war es an der Zeit, die Dinge wieder voranzutreiben.
Noch war ich nicht bereit dafür. Ich glaube, keiner von uns war es. Auf so etwas konnte man sich nicht vorbereiten. Ich wusste einfach nur, dass es verdammt noch mal zu spät war, um einen Rückzieher zu machen. Es war schon seit Georges Tod zu spät.
Vielleicht war es sogar schon vorher zu spät gewesen, und wir hatten es nur nicht erkannt. Ich weiß es nicht.
Als Alaric und Becks eintrafen, war Mahir immer noch nicht die Treppe runtergekommen. Das Sicherheitssystem kündigte ihr Kommen an, lange bevor das vertraute Motorenbrummen des Wagens zu vernehmen war. Maggie hatte genug Zeit, die Reste des Pfannkuchenessens zu beseitigen und den Tisch neu zu decken. »Shaun, geh unseren Gast wecken«, sagte sie, während sie die Gabeln hervorkramte. Ich blinzelte ihr zu, und sie grinste. »Ich nehme an, dass er irgendjemanden schlagen wird, wenn man ihn erschreckt, und wenn es eine Frau trifft, hat er hinterher sicher ein schlechtes Gewissen.«
Dagegen ließ sich nichts sagen, und so schnaufte ich zustimmend, trank meine Cola aus und schlurfte die Treppe zu dem Zimmer hoch, das bis vor ein paar Stunden noch meines gewesen war. Die Tür war geschlossen, und von drinnen war kein Mucks zu hören. Ich hob die Hand und zögerte einen Moment, bevor ich klopfte.
»Er sah so erschöpft aus«, sagte ich.
Wir sind alle erschöpft, antwortete George. Früher oder später muss er eine Erklärung abgeben.
Sobald er den Rest erklärte, würde die letzte Chance, die Zukunft aufzuschieben, dahin sein. Sobald er seine Tasche aufmachte und das Datenmaterial, das er mir bisher noch nicht gezeigt hatte, herauszog, würde es vorbei sein. Dann ließ sich nichts von alledem mehr rückgängig machen, weil das nie funktioniert, wenn man es mit der Wahrheit zu tun hat. »Kann es nicht noch warten?« Mein flehender Tonfall überraschte uns beide, aber mich wohl mehr als sie. George hat mich immer besser gekannt als ich mich selbst. Ebenso, wie ich sie besser gekannt habe.
Du hast schon lange genug gewartet, sagte sie leise.
Sie hatte recht, und deshalb klopfte ich an die Tür des Gästezimmers. »He, Mahir! Alaric und Becks sind mit dem Abendessen da.«
Es kam keine Antwort.
Ich klopfte erneut, diesmal lauter. »Mahir! Schlafen können wir, wenn wir tot sind!« Ein Teil von mir erinnerte sich unwillkürlich daran, wie hoffnungslos er ausgesehen hatte, an die dicken Ringe unter seinen Augen. Wenn wir schlafen können, sobald wir tot sind …
Hör auf! Du machst dich bloß verrückt, und das hilft niemanden. Klopf noch mal!
Ich klopfte nicht; ich hämmerte an die Tür. »Mahir!«
Die Tür ging auf. Mahir war noch angezogen, seine Kleider waren kein bisschen zerknautschter als zuvor – sie hatten den Punkt, an dem ein kleines Nickerchen noch etwas ändern konnte, längst überschritten –, und sein Haar stand ihm wild vom Kopf ab, sodass er wie ein Weltuntergangsprophet aussah. »Ist es schon Morgen?«, fragte er. Seine Stimme war vor Müdigkeit so belegt, dass ich ihn kaum verstand. »Ich könnte jemanden umbringen für ein Tässchen.«
»Ich bin mir nicht sicher, was du damit meinst, aber unten gibt’s Kaffee und Tee. Und Abendessen. Maggie hat Becks und Alaric auf dem Rückweg von wer weiß was sie da draußen getrieben haben beim Curry-Haus vorbeigeschickt.« Wahrscheinlich hätte ich mich mehr darum kümmern sollen, was mein Team so trieb, wenn es nicht gerade an der Sache mit der möglichen weltweiten Verschwörung dran war, aber um ehrlich zu sein hatte ich dafür weder die Zeit noch die Kraft. Ich vertraute darauf, dass sie sich schon nicht umbringen lassen würden, wenn ich gerade nicht hinschaute. Das war alles, was ich ihnen noch zu bieten hatte, und es musste genügen.
»Alles klar.« Mahir fuhr sich mit der Hand durchs Haar, was auch nicht gerade half. »Kann ich mir hier irgendwo das Gesicht waschen und mir ein paar Stimulanzpflaster aufkleben, bevor ich runterkommen und mich menschlicher Gesellschaft stellen muss?«
»Das Bad ist am anderen Ende des Flurs.«
»Wundervoll.« Er bedachte mich mit einem erschöpften, abwesenden Lächeln und ging Richtung Badezimmer. Ich legte ihm eine Hand an den Ellbogen. Er blieb stehen und schaute mich blinzelnd an. »Ja?«
»Ich bin froh, dass du hier bist, auch wenn es heißt, dass die Kacke jetzt endgültig am Dampfen ist«, sagte ich und umarmte ihn.
George und ich waren nicht dazu erzogen worden, unsere Zuneigung körperlich zu zeigen. So ist das, wenn man Eltern hat, für die man nur ein Quotenbringer ist. Mahir wusste das. Es entstand eine Pause, die gerade so lang war, wie er brauchte, um nach Luft zu schnappen, und dann erwiderte er meine Umarmung. Seine Schultern sackten ein wenig herab, als ein Teil seiner Last von ihm abfiel. Ich wusste noch nicht, woran er so schwer zu tragen hatte, aber zweifellos würde ich es bald erfahren.
»Danke«, sagte er. Als er mich losließ, wirkte sein Lächeln etwas kraftvoller. Ich wandte mich in Richtung Treppe, während er ins Bad ging und die Tür hinter sich zumachte.
Unten roch es nach heißem Curry, Knoblauchbrot und der süßen, klebrigen Leere von weißem Reis. Maggie packte auf der Anrichte prall gefüllte Papiertüten aus dem Curry-Haus aus, während Alaric, Becks und Kelly am Tisch saßen und versuchten, ihr nicht in die Quere zu kommen. Die Bulldoggen waren weg und die Verbindungstür zum Vorraum geschlossen, was vermuten ließ, dass man sie dorthin verbannt hatte.
Sieh an, die ganze Truppe ist versammelt, sagte George leise.
»Ja«, murmelte ich und hielt in der Tür inne, um sie zu betrachten. Becks lachte hinter vorgehaltener Hand, wahrscheinlich über einen von Alarics Sprüchen. Maggie wippte auf ihren Zehenspitzen, als tanzte sie zu einer Melodie, die nur sie hören konnte. Selbst Kelly war entspannt. Sie saß auf ihrem Stuhl und schaute den anderen mit einem leisen, verwunderten Lächeln auf den Lippen zu. Das war mein Team. Es war vielleicht nicht das Team, das ich mir selbst zusammengestellt hätte – von ihnen allen war Becks die Einzige, der ich im Feld vertraute, und zugleich war sie diejenige, mit der zu reden mir nach wie vor am schwersten fiel. Alaric war nie auch nur für den Feldeinsatz zertifiziert worden, da er noch in seinen Prüfungsvorbereitungen gesteckt hatte, als der ganze Ärger losgegangen war, und Maggie hatte als Fiktive nie eine Prüfung ablegen müssen.
Schritte hinter mir verrieten mir, dass Mahir sich näherte. Ich drehte mich zu ihm um und fragte: »He, du darfst doch ins Feld, oder?«
Mahir schaute mich stirnrunzelnd an. Er hatte sich das Haar mit Gel zurückgestrichen und die deutlicheren Anzeichen von Erschöpfung beseitigt. Die Sache mit den Stimulanzpflastern war kein Scherz gewesen. Den Preis dafür würde er später bezahlen. Andererseits würden wir alle später für eine Menge Dinge bezahlen, vorausgesetzt, dass wir lange genug lebten.
»In England und in der Europäischen Union ja, in den Vereinigten Staaten nicht. Allerdings darf ich mit meiner England-Lizenz bis zu neunzig Tage als Journalist auf Besuch hier unterwegs sein. Wieso?«
»War nur neugierig.« Ich trat beiseite und machte eine ausholende Geste Richtung Küchentisch. »Meine Damen und Herren, Mahir Gowda!«
»Hey Boss!«, rief Alaric entzückt. Als Newsie arbeitete er direkt unter Mahir, und er verließ sich ganz auf ihn, wenn es darum ging, mir Vernunft beizubringen. Vermutlich rechnete er damit, dass das mit uns beiden unter einem Dach nun unkomplizierter würde. Damit lag er wohl auch nicht ganz falsch.
Becks war etwas dezenter. Sie stand auf, ging zu Mahir, legte ihm die Arme um die Schultern und drückte ihn fest an sich. Er erwiderte ihre Umarmung ebenso fest. »Ich bin so froh, dass du hier bist«, sagte sie.
Ich fühlte mich unbehaglich, wie ein Voyeur, weshalb ich den Blick abwandte und dabei zufällig zu Kelly schaute. Sie beobachtete die Szene mit beinahe wehmütigem Gesichtsausdruck, wie ein Kind, das man nicht zu einer Party eingeladen hatte.
Sie hat ihr ganzes Leben aufgegeben, um herzukommen und uns zu erzählen, was sie weiß, und sie kann nie wieder zurück. Die Leute in diesem Zimmer sind alles, was ihr geblieben ist. Und sie wird niemals in der gleichen Weise dazugehören wie Mahir.
»Stimmt«, brummte ich. Lauter, an ein Publikum gewandt, das außerhalb meines Kopfes existierte, fuhr ich fort: »Hier riecht es toll, Maggie. Bitte sag mir, dass das unser Abendessen ist und nicht irgendein sadistisches neues Raumparfüm.« Ich schob mich an Mahir und Becks vorbei, die sich immer noch in den Armen hielten, und trat an die Anrichte.
Maggie warf mir ein Lächeln zu. »Ach, das ist das Abendessen! Alle Behälter sind beschriftet, und ich habe darauf geachtet, diesmal extraviel Alo Gobi zu bestellen, damit du nicht alles allein aufessen kannst.«
»Du unterschätzt meine Fähigkeiten beim Verzehr von Blumenkohlcurry deutlich.« Ich griff nach einem Teller.
Das war das Signal für alle, sich Teller, Besteck und was immer sie von den verschiedenen Gerichten zu Abend essen wollten, zu schnappen. Mahir aß wie ein Verhungernder, und wir anderen benahmen uns kaum besser. Ich war nicht der Einzige, der begriff, was Mahirs Ankunft bedeutete. Das war vielleicht die letzte ruhige Mahlzeit, die wir für eine ganze Weile zu uns nehmen würden, und niemand wollte sie unterbrechen.
Erstaunlicherweise fanden wir alle sechs Platz an Maggies Tisch. Ich kenne sonst niemanden, der so oft Gäste hat wie sie oder derart bereitwillig Überraschungsgäste empfängt. In ihrer Küche fühlte man sich beinahe wie in einer dieser Fernsehserien aus der alten Zeit, in denen am Ende immer alle dasaßen, aus derselben Schüssel Kartoffelbrei aßen und einander von ihrem Tag erzählten. Wir hatten keinen Kartoffelbrei, und ich hatte kein Interesse daran, mir mit irgendjemandem mein Alo Gobi zu teilen, aber wir hatten Reis und Samosas und andere Sachen, die man herumreichen konnte. Mahir unterhielt sich anscheinend überraschend gut mit Kelly, die mit jeder Minute entspannter wurde.
Aber auch mit den besten Absichten konnten wir die Zeit nicht anhalten. Allzu bald legten wir unsere Gabeln beiseite, tranken aus und verfielen in erwartungsvolles Schweigen. Maggie stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen. Alaric und ich schickten uns an, ihr zu helfen, aber sie winkte ab. »Bleib sitzen«, sagte sie. »Du musst diesen Affenzirkus beaufsichtigen, und das geht besser, wenn du nicht abgelenkt bist.« Bei Alaric winkte sie nicht ab. Offenbar war sie der Meinung, dass er seinen Teil auch von der Spüle aus beitragen könne.
Mahir räusperte sich. »Ich hole nur ein paar Sachen, ja?«
»Ich denke, dafür ist es jetzt Zeit«, pflichtete ich ihm bei. »Mach dich darauf gefasst, dass du uns eine Menge von dem Wissenschaftszeug erklären musst, Doc.«
Kelly lächelte ein bisschen. »Ist mir ein Vergnügen.«
Maggie kehrte an den Tisch zurück, reichte mir eine Cola und ließ sich zu meiner Linken nieder. Alaric setzte sich neben Becks und ließ dabei einen Platz für Mahir frei. Die Luft in der Küche schien irgendwie drückend zu werden.
Es war beinahe eine Erleichterung, als Mahir mit einem Arm voller Mappen zurückkehrte, aus denen massenhaft bunte Klebestreifen ragten. »Von alldem habe ich auch virtuelle Kopien«, erklärte er, während er die Akten ohne weitere Vorrede auf den Tisch knallte. »Ich wollte das nicht per E-Mail schicken, weil es nach dem, was mit Dr. Christopher passiert ist, sein kann, dass man mich beobachtet.«
»Der Australier?«, fragte ich.
Mahir nickte. »Genau. Vorher habe ich vielleicht noch nicht unter Überwachung gestanden, aber nachdem wegen mir jemand abgeschoben wurde, hat die Wahrscheinlichkeit dafür sich sicher deutlich erhöht. In dem Moment ist mir klar geworden, dass es vielleicht das Beste für alle Beteiligten wäre herzukommen.«
»Klingt logisch.« Ich schaute zu Alaric und Becks und sagte: »Einer der Wissenschaftler, zu denen Mahir mit Dr. Abbeys Forschungsergebnissen gegangen ist, wurde des Landes verwiesen.«
Alaric stieß einen langen, tiefen Pfiff aus. »Die machen keine halben Sachen.«
»Nein, allerdings nicht«, sagte Mahir mit trockenem Ernst. »Was wir hier haben ist eine Kombination des Materials, das ich anfangs bekommen habe, des Materials von Dr. Tiwari und Dr. Christopher, einige zusätzliche Daten, die ich von Dr. Shoji am Virologischen Institut Kauai bekommen konnte, bevor mir der Kontakt ins Ausland zu gefährlich wurde, sowie zu guter Letzt die Daten, die ich aus Professor Brannons Postfach gerettet habe, bevor es gesperrt wurde. Ich habe nicht genug Kopien für alle, aber das Material reicht, damit wir alle bis weit nach Sonnenaufgang zusammen über das Ende der Welt orakeln können.«
»Wer ist Professor Brannon?«, fragte Becks. »Ich komme mir nämlich ein bisschen so vor, als hätte ich ein Rundschreiben verpasst.«
»Professor Brannon …« Alaric runzelte die Stirn. »Er war ein weltberühmter Kellis-Amberlee-Experte. Er hat seine ganze berufliche Laufbahn der Identifizierung und dem Studium verschiedener Virenstämme gewidmet. Er …« Alaric riss die Augen auf. »Er hat sich letzte Woche erschossen. Es war ein schwerer Schlag für die epidemiologische Forschung. Niemand hat damit gerechnet.«
»Ich fürchte, das war meine Schuld.« Mahir reichte ihm eine der Aktenmappen. »Er hat das Virus unter Laborbedingungen erforscht, aber er hatte nie Gelegenheit, es in freier Wildbahn zu studieren. Ich schätze, jeder muss sich irgendwie spezialisieren, um über die Runden zu kommen.«
Alaric blätterte mit zusammengekniffenen Augen die Mappe in seinen Händen durch, als gäbe es mit einem Mal sonst nichts mehr auf der Welt. Diesen Ausdruck habe ich bei George schon oft gesehen.
Kelly schaute derweil entsetzt drein. »Professor Brannon ist tot?«, fragte sie. Sie klang ehrlich bestürzt. »Aber … aber … Professor Brannon kann nicht tot sein. Das kann nicht sein.«
»Kanntest du ihn?«, fragte ich, während ich nach einer Mappe griff.
»Ich war während des Studiums bei einer seiner Vorlesungen. Es ging um die fundamentalen Unterschiede zwischen Kellis-Amberlee und den natürlichen Viren …« Sie schaute sich um, sah unsere Mienen und räusperte sich, ehe sie fortfuhr: »Natürlich auftretende Viren haben einen Hauptwirt, in den sie sich sozusagen zurückziehen, wenn es gerade keinen Ausbruch gibt. Wie zum Beispiel die Malaria – da geht es zwar um ein Bakterium, aber als Beispiel passt es trotzdem. Selbst wenn gerade kein Malaria-Ausbruch im Gange ist, sind die Moskitos nach wie vor infiziert. Dadurch kommt die Krankheit immer wieder, egal wie oft wir glauben, sie bei einer menschlichen Population geheilt zu haben.«
»Was hat das mit Kellis-Amberlee zu tun?«, fragte Maggie.
»Nichts. Das ist es ja gerade.« Kelly zuckte mit den Schultern. »Kellis-Amberlee hat kein natürliches Reservoir. Es infiziert alle Säugetierspezies. Selbst in Tieren, die zu klein für eine Virenvermehrung sind, kann das Virus fortbestehen – Mäuse, Eichhörnchen, alles. Es ist absolut endemisch. Es würde uns nichts helfen, die gesamte Menschheit zu heilen, wenn wir nicht gleichzeitig auch noch alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten heilen könnten.«
»Puh! In Ordnung.« Ich blickte zu Mahir. »Also war er ein Labortyp, und als du ihm Dr. Abbeys Arbeit gezeigt hast, hat er sich umgebracht. Warum?«
»Es gibt mehrere mögliche Gründe, aber ich denke, das hier ist der hauptsächliche.« Mahir legte eine Reihe von Grafiken vor uns aus. Mir sagten sie nicht viel, zumindest nicht auf den ersten Blick. Auf jedem der Blätter waren zwei Zickzacklinien zu sehen, eine rot, eine blau, die abwechselnd hoch- und runtergingen. Dann und wann kämpfte die rote Linie gegen den Abwärtstrend, brachte eine kurze Spitze zustande, aber letztlich wurde sie immer wieder von der blauen überflügelt, die sich unaufhaltsam der Oberkante des Blattes näherte.
Angestrengt starrten wir auf die Seiten. Kelly wurde blass und schlug eine Hand vor den Mund. Sie sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Alaric schüttelte den Kopf.
»Das dort kann nicht stimmen.« Er tippte am Ansatzpunkt einer blauen Linie auf eines der Blätter. »Dieser Stamm ist nur sechs Jahre nach dem Erwachen in Buenos Aires aufgetreten. Es war eines der ersten Anzeichen dafür, dass Kellis-Amberlee außerhalb des Labors mutierte.«
Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für die verschiedenen Stämme, sagte George sehr leise. Das hier sind die Bezeichnungen für einige der verbreitetsten Varianten von Kellis-Amberlee.
Alle haben Kellis-Amberlee, aber die meisten von uns haben nur einen Stamm auf einmal. Einige sind aggressiver als andere und löschen eine bereits bestehende Infektion praktisch aus, wenn sie einen Körper übernehmen. Der ursprüngliche Kellis-Amberlee-Stamm ist entstanden, als die Labor-Variante der Kellis-Grippe auf die Laborvariante von Marburg Amberlee traf. Diese erste Version war zunächst die einzige, diejenige, die beim Erwachen über die ganze Welt geschwappt ist. Es dauerte Jahre, die Struktur des Virus zu erforschen und zu analysieren, bevor überhaupt jemandem klar wurde, dass es genau das tut, was Viren seit jeher tun: Es mutiert und passt sich seiner Umgebung an. Für eine Weile hofften die Menschen, dass es weniger ansteckend werden und schließlich eine nicht so verheerende Form annehmen würde. Ehrlich gesagt wären wir wohl schon glücklich gewesen, wenn das Virus die Leute einfach nur umgebracht hätte. Dann wären die Toten wenigstens tot geblieben, und die Dinge hätten wieder ihren normalen Lauf nehmen können. Stattdessen zeigte Kellis-Amberlee sich weiterhin von seiner grausamsten Seite: Es produzierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Zombies und ließ sie auf die Welt los.
Man kann sich auf dieses Virus wirklich verlassen. Das ist immerhin etwas.
»Doch, das stimmt«, antwortete Mahir. Sein Tonfall war düster, und ein unheilverkündender Unterton schwang darin mit, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihm vernommen hatte. Er rückte seine Brille zurecht und fuhr fort. »In Buenos Aires gab es kurz vor der ersten Identifizierung und Isolierung dieses Stamms besonders viele Todesfälle. Bei achtzig Prozent der Toten ist bestätigt, dass sie an frühen Formen von Reservoirkrankheiten litten. Es hat fünf Jahre gedauert, bis man den Stamm in Verbindung mit einer aktiven Reservoirkrankheit identifizierte.«
Kelly wurde noch bleicher.
»Durch seine Forschung über die Unterschiede zwischen den Virenstämmen hatte Professor Brannon Zugriff auf Zensusdaten und Totenakten von überall auf der Welt«, sagte Mahir. »Ein Großteil dieses Datenmaterials wurde bis vor Kurzem nicht in das Modell einbezogen – Dr. Abbey kann durch die üblichen Kanäle keine Informationen einholen, da ihr Labor nicht anerkannt ist, Dr. Christopher konzentriert sich auf die Behandlung und nicht auf die Struktur des Virus, und Dr. Tiwari befasst sich nicht mit Statistiken.«
»Ich komme nicht mehr mit«, sagte ich.
»Ich schon«, sagte Kelly. Sie starrte benommen an die Wand. »Er meint, dass man, sobald man die Analyse dieses Virenstamms und die Zensusdaten ins selbe Model einspeist, unerwünschte Ergebnisse erhält. Die Sorte Ergebnisse, wegen denen ein Mann, dessen Lebenswerk es war, das Leben anderer zu retten, Selbstmord begeht.«
Maggie runzelte die Stirn. »Ich dachte, dass es genau darum ginge, Ergebnisse zu produzieren.«
»Das schon, aber bei jeder Analyse kann es negative und positive Ergebnisse geben. Schau dir mal das hier an!« Mahir tippte auf ein Blatt und schob es zu Maggie. »Jedes Mal, wenn ein neuer Virenstamm identifiziert wurde – jedes Mal –, gab es unmittelbar vorher einen deutlichen Anstieg der Sterberate in der entsprechenden Gegend. Buenos Aires. San Diego. Manchester. Das ist kein Zufall, und es ist nichts, was sich auf ein bestimmtes Land oder einen Erdteil eingrenzen ließe. Es ist überall so, jedes Mal.«
Becks schüttelte den Kopf. »Na und? Vielleicht sind die neuen Stämme virulenter, wenn sie entstehen, und die Leute sterben daran.«
»Unwahrscheinlich.« Er holte ein weiteres Blatt Papier hervor, das ein bunt eingefärbtes Tortendiagramm zeigte.
»Sehr anschaulich«, sagte ich und zog es näher zu mir.
»So ist es auch gedacht.« Mahir holte ein weiteres Exemplar des Diagramms aus seiner Mappe und reichte es Alaric. »Das hier ist eine Übersicht über die Todesursachen bei Personen mit Reservoirkrankheiten, die unmittelbar vor der Identifizierung einer neuen Unterart ums Leben gekommen sind.«
»Die Tortenstücke sind so klein, dass man nichts lesen kann«, sagte Alaric.
»Genau darum geht es. Es gibt keine vorherrschende Todesursache bei den Opfern in den betreffenden Regionen. Sie … sterben einfach. Sie werden überfahren, fallen von Leitern, nehmen sich das Leben, sie sterben. Wie ganz gewöhnliche Todesfälle an einem ganz gewöhnlichen Tag. Das Muster besteht im absoluten Fehlen eines Musters, und es ist überall zu finden. Einen Monat später ist dann ein neuer Kellis-Amberlee-Stamm im Umlauf, der virulenter ist als der vorhergehende in derselben Region. Weitere drei bis fünf Jahre später treten die ersten Reservoirkrankheiten in Verbindung mit dem neuen Stamm auf, und noch zwei Jahre später beginnt der Kreislauf von Neuem.« Mahir setzte seine Brille ab und putzte sie mit einem Hemdzipfel. »Dr. Connolly, würden Sie uns bitte sagen, welche Schlüsse sie aus diesen Daten ziehen?«
»Ich kann nichts mit Sicherheit sagen, solange ich mich nicht eingehender mit dem Material befasst habe, aber …« Kelly rieb sich mit dem Handrücken die Augen und geriet ein wenig ins Stocken, als sie fortfuhr: »Ich würde sagen, dass es keine natürlich auftretenden neuen Virenstämme von der viralen Chimäre gibt, die wir gewöhnlich als Kellis-Amberlee bezeichnen.«
»Was redest du da?«, fragte ich. »Er hat doch gerade gesagt, dass die ganze Zeit neue Stämme auftreten. Dieser tote Professor hat seine ganze Laufbahn darauf verwendet, sie zu studieren. Es muss sie geben.«
Sie hat nicht gesagt, dass es keine neuen Stämme gebe, Shaun. Sie hat gesagt, dass sie nicht natürlich auftreten.
Georgia klang niedergeschlagen, geradezu resigniert, als hätte sie schon die ganze Zeit mit dieser Antwort gerechnet, als ob der Teil von mir, der an ihr festhielt, längst alles begriffen hatte und nur darauf wartete, dass auch der Rest meines Verstandes es kapierte. Ich verstummte, auf meinen Armen bildete sich Gänsehaut. Hilflos schaute ich zu Mahir. Er erwiderte abwartend meinen Blick. Sie alle warteten, und sie alle wussten, dass ich darauf kommen würde, wenn sie mir einen Moment zum Nachdenken ließen. Sie wussten, dass George die Antworten kannte, und George … tja, George war in mir.
»Sie existieren, aber nicht von Natur aus«, sagte ich.
»Genau.« Mahir nahm eine weitere Mappe und teilte Blätter aus. »Das hier sind Analysen der Seuchenschutzbehörde zur Struktur von Kellis-Amberlee. Sie wurden auf legalem Wege beschafft und sind zur allgemeinen Nutzung freigegeben. Seit Jahren versuchen die Leute herauszufinden, wie etwas derart Komplexes und Stabiles mutieren kann, ohne dabei einen Stamm hervorzubringen, der sich deutlich anders als seine Vorläufer verhält. Die Antwort ist einfach: Das kann es nicht, und das hat es auch nicht getan. Jeder Stamm, mit Ausnahme des ursprünglichen, wurde in einem Labor entwickelt und freigesetzt, nachdem man zuvor gezielt Personen mit Reservoirkrankheiten – man kann es nicht anders sagen – gekeult hat. Es ist ein beschissenes Experiment, ein weltweites Experiment, und wir dürfen alle mitmachen.«
Totenstille senkte sich über den Tisch. Keiner von uns wusste genug, um Mahirs Schlussfolgerungen infrage zu stellen, vielleicht mit Ausnahme von Kelly, und sie sagte kein Wort, sondern saß nur da und starrte auf die auf dem Tisch ausgebreiteten Blätter, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Das war es wohl, was mir am deutlichsten machte, dass Mahirs recht hatte. Nach all den Jahren, die sie getreu für die Seuchenschutzbehörde gearbeitet hatte, hätte Kelly jeden denkbaren Einwand vorgebracht.
Es war Becks, die schließlich das Schweigen brach, indem sie fragte: »Und was machen wir jetzt?«
»Jetzt?« Ich stand auf und knallte die Hände flach auf den Tisch. »Wir packen. Morgen früh machen wir uns auf den Weg. Alle Beiträge werden von unterwegs veröffentlicht – ich will nicht, dass wir hier wie die Schießbudenfiguren rumsitzen, wenn der Ärger losgeht.«
»Wo geht es hin?«, fragte Alaric.
»An den einzigen Ort, an dem wir herausfinden können, wie es weitergeht, und an dem wir mit einem Einbruchsversuch zumindest eine Chance haben.« Ich warf Kelly einen herausfordernden Blick zu. Sie schaute nicht weg. Stattdessen nickte sie, und ich sah, wie sich in ihrem Gesicht die Erkenntnis breitmachte.
»Wir fahren nach Memphis«, sagte sie.
Ich wollte Sportreporter werden. Ich wollte über Sport schreiben. Klingt gut, oder? »Mahir Gowda, Sportreporter.« Ich hätte mir Kricketspiele, Hindernisläufe und Amateurrennen angesehen, pointierte kleine Artikel darüber geschrieben und eimerweise Geld gescheffelt, mir irgendwo in der Londoner Vorstadt ein riesiges Haus gekauft und eine so große Familie gegründet, dass ich mit meinen Kindern ein eigene Kricketmannschaft hätte aufziehen können.
Und dann kam Georgia Carolyn Mason. Sie wusste, dass ich niemals glücklich damit werden würde, über Wettkämpfe und über das Leben der Profis zu berichten. »Die Nachrichten liegen dir im Blut.« Das hat sie zu mir gesagt, und sie hat nicht lockergelassen, bis ich einwilligte, es zumindest mal zu versuchen. Als sie sich ein Jahr später selbstständig machte, hat sie mich angeworben. Sie hatte viel zu oft recht. So auch, was mich und meine Berufung betraf.
Ich wünschte, sie hätte sich geirrt.
Aus Fisch und Clips, dem Blog von Mahir Gowda, 21. Juni 2041.