12

In den meisten größeren Städten gibt es Außenstellen der Seuchenschutzbehörde, wobei es sich bei drei von vier um nicht viel mehr als Briefkastenbüros handelt, die hauptsächlich dazu da sind, die Leute zu beruhigen. Nur die größeren Anlagen verfügen über ernst zu nehmende Ressourcen und nur hier passiert wirklich etwas. Die nächste große Außenstelle befand sich mitten in Portland, womit sie praktischerweise weniger als eine Autostunde von Dr. Abbeys Labor entfernt war. Weniger praktisch war der Umstand, dass wir nicht einfach unsere Zelte abbrechen, beim Seuchenschutz reinmarschieren und Antworten verlangen konnten. »Die sind eine Regierungsbehörde«, sagte Becks. »Es ist ihre Pflicht, die Tatsachen zu vernebeln.«

»Außerdem, wenn wir einfach da reinstürmen, werden wir alle sterben«, fügte Alaric hinzu.

»Ich hasse es, mit dir zu streiten, wenn du mir mit Logik kommst«, erwiderte ich. Die Sonne war ein gutes Stück tiefer gesunken, während Dr. Abbey uns ihren Virologie-für-Anfänger-Vortrag gehalten hatte, und die Schatten waren inzwischen durchaus bedrohlich lang. Vor dem Erwachen hatten die Menschen Sonnenuntergänge als schön empfunden. Jetzt bedeuteten sie nur noch, dass die Nacht hereinbrach, und nach Einbruch der Dunkelheit draußen zu sein ist eine gute Methode, sich umbringen zu lassen. »Wir müssen da rein. Wir müssen ein paar Wanzen anbringen und zusehen, dass wir was rausbekommen.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Kelly. Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. »Der Seuchenschutz hat das Recht, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen. Sie müssen nur glaubhaft machen, dass ihr eine Bedrohung dargestellt habt.«

»Dann sollten wir wohl lieber nicht bedrohlich wirken, was?« Kopfschüttelnd schaute ich sie an. »Wir gehen rein, Doc. Wir müssen.«

Als er sah, dass Kelly immer noch nicht begriff, sagte Alaric: »Es ist so, als ob man seine Forschungsergebnisse verteidigt. Manchmal sind dabei negative Resultate genauso wichtig wie positive. Auch wenn wir bei der Seuchenschutzbehörde nichts in Erfahrung bringen, dann haben wir wenigstens später Videomaterial davon, wie sie rundheraus etwas abstreiten, wovon irgendwann jeder wissen wird, dass es wahr ist. Und wenn wir etwas in Erfahrung bringen, sind wir einen Schritt weiter.«

»Und ich muss wissen, wer alles beim Seuchenschutz in der Sache mit drinsteckt.«

Kelly schaute mit leicht gerunzelter Stirn zwischen uns beiden hin und her. »Ihr seid alle verrückt«, sagte sie.

»Ja.« Ich entriegelte den Wagen. »Aber betrachte es einmal so: Wenigstens musst du nicht mitkommen.«

Schnaubend stieg Kelly ein.

Leider hatte ich diese Worte ernst gemeint. Ich mochte noch so sauer auf Kelly sein, sie war diejenige, die die Sprache dieser Leute beherrschte, und es hätte die Dinge unendlich viel einfacher gemacht, sie dabeizuhaben. Aber da Dr. Wynne davon ausging, dass sie in Oakland gestorben war und alle anderen glaubten, sie wäre in Memphis ums Leben gekommen, konnten wir mit ihr nicht so einfach dort reinmarschieren und erwarten, dass man uns Antworten gab. Da mussten wir schon eher damit rechnen, dass man auf uns schoss.

Es war Alaric, der auf die offensichtliche Lösung unseres Problems kam: »Es ist zu spät, um heute Abend noch etwas Ernsthaftes zu unternehmen. Warum besorgen wir uns nicht zwei Hotelzimmer. Dann bleibe ich mit Maggie da, um auf Dr. Connolly aufzupassen, während du mit Becks losziehst und die Sau rauslässt.«

»Normalerweise halte ich nichts davon, sich aufzuteilen, aber ich muss zugeben, dass Alarics Plan gut ist«, fügte Maggie hinzu. »Außerdem können diejenigen von uns, die nicht viel Felderfahrung haben will sagen: ich uns so aus der Schusslinie halten. Es wäre mir lieber, wenn die Seuchenschutzbehörde nicht bei meinen Eltern anruft, um ihnen mitzuteilen, dass ich in die heiligen Hallen eingedrungen bin.«

Ich nickte. »In Ordnung. Verschwinden wir hier. Wer sein Gratisticket für dieses Himmelfahrtskommando zurückgeben möchte, kann jetzt natürlich noch hierbleiben. Ihr habt die Wahl, ob ihr ins Labor zurückkehrt und darauf vertraut, dass Dr. Abbey nicht ihren persönlichen Frankenstein aus euch macht, oder ob ihr hier draußen bleibt und betet, dass was immer euch aufspüren wird, mehr Lust aufs Töten als aufs Infizieren hat.«

»Genau genommen war Frankenstein der Doktor, nicht das Monster«, bemerkte Maggie. »Ein weitverbreiteter Irrtum.«

»Du kannst einem echt den Auftritt versauen, Maggie.« Ich ging zum Motorrad und nahm meinen Helm. »Alle einverstanden?«

»Ich bin immer noch der Meinung, dass das ein sehr schlecht durchdachter Plan ist«, sagte Kelly. »Ich meine, vielleicht habt ihr Glück. Vielleicht lässt man euch bei der Seuchenschutzbehörde wieder lebend raus. Aber ich würde nicht darauf wetten.«

»Vielleicht hast du Glück, und sie lassen uns wieder raus«, berichtigte ich sie freundlich. »Becks hier mag am ehesten geneigt sein, jemandem nur so aus Spaß die Knarre an den Kopf zu halten, aber Maggie «

»Sie werden die Leiche niemals finden«, sagte Maggie. Ihr Tonfall klang unbekümmert, als redete sie von der jüngsten Spendenaktion für die Gesellschaft zur Rettung der Bulldogge. Das machte es um so schlimmer. »Nicht, dass man nach dir suchen würde, da du offiziell tot bist, aber selbst wenn man nach dir suchen würde, würde man nicht die kleinste Spur von dir finden. Ich muss nur meinen Vater anrufen und ihm sagen, dass ich endlich mal ein Problem habe, das er für mich lösen kann. Du könntest das beste Vatertagsgeschenk sein, dass er jemals von mir bekommen wird. Es ist so schwer, etwas für ihn zu finden.«

Kelly riss die Augen auf. Angst flackerte in ihnen. »Meint sie das ernst?«

»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, aber ich würde mir jetzt noch keine Sorgen deswegen machen«, sagte ich. »Kommt schon, Leute! Suchen wir uns ein Hotel.«

Letztlich checkten wir im erstbesten Hotel in der Innenstadt von Portland ein, einem unauffälligen kleinen Holiday Inn, an dessen Eingang ein Schild großspurig über die jüngsten Sicherheitsaktualisierungen informierte. Ich bekam kaum Netzzugang, was bedeutete, dass die »jüngsten« Aktualisierungen wahrscheinlich mehr als zehn Jahre zurücklagen, aber das spielte keine Rolle. Die Sicherheitsfreigabe des Hotels war noch gültig, und laut der lokalen Kritiken auf den Websites waren die Zimmer im Großen und Ganzen sauber. Wir brauchten keine Fünf-Sterne-Unterbringung, sondern nur einen Platz, um unsere Quasi-Gefangene abzuladen und uns neu zu gruppieren, ohne dabei von Zombies angegriffen zu werden.

Wir nahmen zwei Zimmer, eins für die Jungs und eins für die Mädchen. Falls es Alaric unangenehm war, mit mir und damit auch mit George in einem Zimmer zu schlafen, sagte er nichts davon. Er baute einfach seine Ausrüstung auf und schloss die Geräte an, um sie wieder aufzuladen, während Becks Maggie und Kelly mit dem Feingefühl eines Armeeausbilders zu dem Zimmer am anderen Ende des Korridors führte. Maggie nahm die geblafften Befehle hin, ohne sich etwas anmerken zu lassen, während Kelly einfach nur verstört aussah. Ich erwischte mich dabei, dass sie mir trotz allem, was geschehen war, leidtat. Immerhin hatte ich sie gemocht, bis sie mir erzählt hatte, was es wirklich mit den Reservoirkrankheiten auf sich hatte. Schließlich hatte sie die Krankheit nicht erschaffen.

Sie ist hier nicht gerade in ihrem Element, sagte George.

»Keiner von uns ist das«, brummte ich. Alaric warf einen Blick in meine Richtung, sagte jedoch nichts. Er steckte einfach weiter Geräte zusammen, um das mobile Büro von Nach dem Jüngsten Tag wieder einsatzfähig zu machen.

Während wir uns im Nordwesten rumgetrieben hatten, um wahnsinnigen Wissenschaftlerinnen auf die Nerven zu gehen und einen Korruptionsfall beim Seuchenschutz aufzudecken, hatte sich in den Foren einiges getan. Ich überflog die Kommentare, während ich darauf wartete, dass der Computer meine E-Mails runterlud. Der übliche Trupp von Trollen, Arschlöchern und Verschwörungsspinnern war im vollen Schwange und übertönte beinahe die etwas zurückhaltenderen Diskussionsteilnehmer. Mahir und die andren Newsies hatten sie allerdings mehr oder weniger im Griff. Offiziell leite ich die Website, aber heutzutage verliert man leicht den Überblick darüber, wie groß wir wirklich sind. Früher waren es einmal George, Buffy und ich. Jetzt gibt es Dutzende von Mitarbeitern, von denen ich die Hälfte noch nie gesehen habe und wohl auch nie kennenlernen werde. Gott sei Dank gab es Mahir! Ohne ihn wäre alles auseinandergefallen, und wir wären zu einer weiteren unbedeutenden Seite geworden, die sich gerade so am Leben erhielt. Er kümmerte sich um die Werbung und das Merchandising, wofür früher George zuständig gewesen war, und irgendwie wurden alle Rechnungen bezahlt selbst die für die Munition der Irwins, von der ich aus persönlicher Erfahrung weiß, dass sie verdammt hoch ausfallen kann.

»Irgendetwas Brandheißes?«, fragte Alaric.

»Nicht direkt, aber das ist schon in Ordnung. Ich bin mir sicher, dass der morgige Ausflug ins Feld uns reichlich Streichhölzer verschaffen wird.« Ich legte meinen Laptop auf den Nachttisch und streckte mich, bis es in meinen Schultern knackte. »Fürs Erste schaue ich mal, ob ich ein bisschen schlafen kann, bevor ich wieder anfange, berufsmäßig mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ist bei dir alles unter Kontrolle?«

»Ja. Ich schreibe noch ein paar Artikel über Medizinethik und darüber, dass die entsprechenden Behörden nicht ausreichend kontrolliert werden. Wenn ich fertig bin, dürfte Mahir wach sein, und ich will mich noch mal bei ihm rückversichern, bevor ich pennen gehe.« Als Leiter der Newsie-Abteilung war Mahir Alarics direkter Vorgesetzter und derjenige, der seine Artikel absegnen musste. Sie arbeiteten gut zusammen, was ein Glück war. Ich wusste nicht, was ich gemacht hätte, wenn sie sich nicht hätten leiden können. Wahrscheinlich hätte ich sie so lange gegen die Wand geschlagen, bis die beiden versprochen hätten, von nun an lieb zueinander zu sein.

Du bist noch nie gut beim Umgang mit Menschen gewesen, sagte George, wobei sie zugleich ironisch und liebevoll klang.

»Das sagt die Richtige«, brummte ich und schloss die Augen, während ich mich auf meine zu weiche Hotelmatratze sinken ließ. Die beruhigenden Tippgeräusche von Alaric halfen mir beim Entspannen. George und ich hatten uns oft genau solche Zimmer geteilt, in dem einer von uns schlief, während der oder die andere weiterarbeitete. Das abgehackte Klappern der Tastatur als Hintergrundrauschen wirkte auf wohltuende Weise einschläfernd.

Still jetzt, tadelte mich George. Du brauchst deinen Schlaf. Du mutest dir zu viel zu.

»Das habe ich von einer Meisterin gelernt.« Ich atmete mit einem tiefen, gedehnten Seufzen aus. Und noch während ich seufzte, rückte die Welt von mir fort, und ich sank in Schlaf.

In meinen Träumen hatte George kupferfarbene Augen, die sie nicht hinter einer Sonnenbrille verstecken musste, und wir liefen in der Sonne umher und mussten keine Angst haben. Alles war perfekt. Das ist die schlimmste Sorte Träume, weil man nicht ewig weiterschlafen kann.

Ich wurde von dem beißenden metallischen Geruch von Waffenöl geweckt. Er hing im ganzen Raum und hatte die weniger aufdringlichen Gerüche von Toastbrot und fettigem Hotel-Putenschinken beinahe verdrängt. Ich rieb mir mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen, setzte mich auf und schaute blinzelnd die Gestalt an, die auf der Bettkante saß.

»Ich dachte schon, du schläfst bis zum nächsten Angriff weiter«, bemerkte eine Frauenstimme. Einen winzigen Moment lang, in dem mir beinahe das Herz stehen blieb, klang sie wie die von George aber der Moment verging. Becks hob die Brauen, als sie meine Miene sah, und fragte: »Hast du etwas Grünes gesehen, Mason? Oder bist du bloß sauer, dass ich dir den Schönheitsschlaf vermasselt habe?«

»Manche Leute brauchen keinen Schönheitsschlaf, Atherton«, gab ich zurück, stemmte mich hoch und griff nach dem Tablett, das jemand freundlicherweise neben meinen Laptop auf den Nachttisch gestellt hatte. »Wie ist der Stand der Dinge?«

»Alaric ist im Nebenzimmer und behält die Prinzessin im Auge, und Maggie ist einkaufen und ruft die Leute an, die auf ihr Haus aufpassen. Sie hat Angst, dass sie vergessen, die Hunde zu füttern, wenn sie sie nicht daran erinnert.« Becks fuhr damit fort, den Griff ihrer Waffe mit einem Silikontuch zu polieren, um ihre Fingerabdrücke zu beseitigen. Vor ihr lag ein ganzer Satz Reinigungsutensilien, was den Geruch erklärte.

»Und die Prinzessin selbst?« Ich begann, mir ein Brot aus falschem Schinken und trockenem Toast zu machen. Es sah nicht besonders appetitanregend aus, aber ich war so hungrig, dass mir das egal war.

»Wach, verängstigt, wie immer.« Becks begann, ihr Waffenzubehör zusammenzupacken. »Sie ist ein braves Mädchen, aber sie ist eine Belastung. Wir sollten eine sichere Unterbringung für sie finden und dafür sorgen, dass andere Leute sich mit ihr herumschlagen müssen.«

»Sie ist eine nützliche Last und was meinst du mit ›Mädchen‹? Sie ist genauso alt wie du. Wir brauchen sie, zumindest fürs Erste.«

»Ich wünschte, ich wäre mir da genauso sicher wie du.«

»Ich dachte, du wärst diejenige, die als Newsie angefangen hat.« Ich biss von meinem Brot ab und schluckte, bevor ich fortfuhr: »Sie weiß Sachen, die wir nicht wissen und falls alles schiefgeht, kennt sie garantiert auch den Grundriss der Seuchenschutzbehörde in Memphis ziemlich gut. Wer immer ihr nach Oakland gefolgt ist, hat vielleicht nicht daran gedacht, bei den Sicherheitsschlössern die Freigabe für ihre Netzhautscans und Fingerabdrücke zu löschen. Schließlich hält man sie für tot, stimmt’s? Warum also das Geld für die Umprogrammierung verschwenden?«

Becks blinzelte überrascht und antwortete: »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Deshalb habe ja auch ich das Kommando.« Ein Tropfen heißen Schmieröls traf mich unterhalb des Schlüsselbeins. Fauchend wischte ich ihn weg, wobei mir auffiel, dass ich offenbar irgendwann im Laufe der Nacht mein Hemd ausgezogen hatte. Das warf die unangenehme und mit einem Mal wichtige Frage auf, ob ich Hosen anhatte. »Kelly hat uns noch mehr zu erzählen, und das wird sie auch. Wir müssen ihr nur etwas Zeit lassen, damit ihr klar wird, dass sie gar keine andere Wahl hat.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Das ist auch nicht nötig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Dr. Wynne nicht traue, aber ich muss trotzdem zugeben, dass er ein verdammt guter Mediziner ist, und sie hat mit ihm zusammengearbeitet. Vielleicht ist sie nicht der effektivste Datenübertragungsmechanismus, den man sich denken kann. Aber trotzdem hat sie eine Menge riskiert, um hierherzukommen und uns weiterzuhelfen. Und sie ist so gut wie tot. Sie hat nichts zu verlieren. Das macht sie zu einer verdammt guten Verbündeten.«

»Es macht sie auch zu einem verdammt großen Selbstmordrisiko.« Becks stand auf und nahm ihr Waffenzubehör an sich. »Wie lange brauchst du, um dich fertig zu machen?«

»Gib mir zwanzig Minuten, um zu duschen und so weiter. Wir wollen schließlich, dass man uns bei der Seuchenschutzbehörde reinlässt, oder?« Ich bedachte sie mit meinem besten Kameralächeln. Becks verdrehte die Augen. Sie wirkte nicht gerade beeindruckt. Stampfenden Schritts verließ sie das Zimmer.

Die Tür knallte hinter ihr zu. Ich zog die Laken weg und stellte erleichtert fest, dass es mir gelungen war, über Nacht nicht auch noch die Jeans auszuziehen. Ein Striptease vor Kollegen gehörte nicht unbedingt zu meinen geheimen Wünschen.

Das Hotel mochte schäbig sein, verfügte aber doch immerhin über eine komplette Dekontaminierungsduscheinrichtung samt einer dazugehörigen Kleider-Sterilisierungseinheit für Leute, die nicht ausreichend Klamotten für die Arbeit im Feld dabeihatten. Es war ein netter Service, auch wenn er wahrscheinlich nicht allzu oft genutzt wurde. Ich zog mich aus, stopfte meine Kleider in den Sterilisator, ging unter die Dusche und schaltete die Desinfektion ein. Das Wasser ging mit an, und ich wurde mit einer erhitzten Mischung keimtötender Chemikalien und chlorhaltiger Antiseptika besprüht und mit etwas, das nach billigem Zitrus-Kloreiniger roch. Ich schloss fest die Augen und fing an, mich zu schrubben.

Die in einer Durchschnittsdusche enthaltene Menge an Bleichmitteln ist der Grund dafür, dass blonde Strähnen mittlerweile so verbreitet sind. Manchen Leuten verheißen sie Sicherheit »Sieh mal, ich habe mich so oft dekontaminiert, dass mein Haar seine natürliche Farbe verloren hat.« George hat das immer gehasst. Sie hat ihr Haar mindestens zweimal im Monat nachgefärbt, damit es dunkelbraun blieb, und knurrte jeden an, der das als »typisches Frauenverhalten« bezeichnete. Ich mochte den Geruch ihres Färbemittels immer, er war zugleich beißend und süß gewesen. Ziemlich genau wie George.

Die Dusche beendete den Dekontaminierungszyklus, ein paar Sekunden nachdem der Kleidersterilisator gepiept hatte, um zu signalisieren, dass ich meine Sachen wieder gefahrlos unter Menschen tragen konnte. Ich trocknete mich ab, zog mich an und kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo Alaric in einer seltsamen und unbeabsichtigten Nachahmung von Becks auf mich wartete.

»Bist du zum Aufbruch bereit?«, fragte er.

»Bist du zum Hierbleiben bereit?«, erwiderte ich.

Zu meiner Überraschung schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein. Maggie und ich haben darüber geredet, und wir wollen mit dem Wagen und dem Doc zurück zu ihr nach Hause, während du beim Seuchenschutz bist.«

»Wieso?«, fragte ich, während ich meinen Laptop abschaltete und einpackte.

»Maggie wird langsam nervös, weil sie schon so lange von zu Hause weg ist, und ich wäre lieber nicht in der Stadt, wenn du deinen Ausflug machst.« Alaric zuckte mit den Schultern. »Vielleicht leide ich ja unter Verfolgungswahn, aber wenn die Sache schiefgeht, will ich nicht, dass sich Dr. Connolly so nah bei einer Einrichtung der Seuchenschutzbehörde aufhält.«

»Hast du Angst, dass sie bei denen abtaucht? Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Zug abgefahren ist.«

»Ich habe Angst, dass man kommt und sie uns wegnimmt.«

Ich war gerade dabei gewesen, den Reißverschluss meiner Laptoptasche zuzuziehen, doch nun erstarrte ich. »Scheiße! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Glaubst du wirklich, das Risiko besteht noch, obwohl wir ihre erste Identität verbrannt haben?«

»Das hängt davon ab, ob sie als Köder hier ist, um uns in die Gefahr zu locken, oder ob sie wirklich geschickt worden ist, weil irgendjemand Seuchenschutzmitarbeiter umbringt.« Alaric zuckte mit den Schultern. »In jeder Organisation, die groß genug ist, um verschiedene Abteilungen zu haben, gibt es innere Querelen. Ich glaube nicht, dass sie hier ist, um uns ein Messer in den Rücken zu rammen, und das bedeutet, dass sie in Gefahr ist, solange sie sich in Portland aufhält und wir sind in Gefahr, solange wir bei ihr sind.«

»Verdammt!« Leise lachend schüttelte ich den Kopf, während ich den eingepackten Laptop in meine Tasche steckte. »Ich verneige mich vor deiner Logik. Ja, nimm Maggie und den Doc und fahr zu Maggie nach Hause. Becks und ich werden uns dort mit euch treffen, wenn wir beim Seuchenschutz fertig sind, vorausgesetzt, sie erschießen uns nicht gleich. Wenn wir uns bis fünf Uhr heute Nachmittag nicht gemeldet haben « Ich hielt einen Moment inne. »Dann lauft! Kapiert?«

»Kapiert.« Alaric erhob sich und nahm dabei seinen eigenen Laptop vom Tisch. »Fast wie in alten Zeiten, was, Boss?«

»Was, du meinst, dass wir uns offenen Auges in Gefahr begeben, mit einer Hand am Rekorder und der anderen an der Waffe?« Ich ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen. »Genau wie in alten Zeiten.«

»Ich wünschte « Seine Stimme versagte, und dann fuhr er matt fort: »Wie dem auch sei, seid heute vorsichtig da draußen, du und Becks, in Ordnung?«

Ich nickte. »Werd mein Bestes tun. Und ihr fahrt vorsichtig.«

»Machen wir.«

Auf dem Flur warteten Maggie, Becks und Kelly. Becks warf mir ein schmales Lächeln zu. »Also, bist du mit dem Plan einverstanden?«

»Ihr müsst euch nicht gegen mich verschwören, wisst ihr, Leute«, sagte ich kopfschüttelnd. »Es ist ein guter Plan. Ich finde den Plan gut. Maggie, ich möchte, dass du dich alle zwanzig Minuten bei Mahir meldest, bis ihr zu Hause seid, hast du verstanden?«

»Kein Problem.« Sie nahm Kelly beim Arm und sagte: »Komm schon! Verschwinden wir hier, bevor sich jemand wehtut.«

»Wo bleibt da der Spaß?«, fragte Becks, drehte sich um und ging durch den Flur voran aus dem Hotel.

Es hinterließ ein seltsam taubes Gefühl in mir, zuzusehen, wie der Sendewagen mit Alaric am Steuer davon fuhr. Ich hatte das Gefühl, als würden wir uns niemals wiedersehen, als handelte es sich um eine Art Endpunkt und nicht bloß um einen weiteren Schritt bei dem Versuch, die wahren Gründe für Georges Tod in Erfahrung zu bringen. Ich stand wie erstarrt auf dem Parkplatz und sah dem Wagen nach. Beim Schlucken merkte ich, dass ich einen dicken Kloß in der Kehle hatte.

»He!« Becks berührte mich am Arm. Ich drehte mich zu ihr um. Sie hob die Brauen. »Alles in Ordnung?«

Ich brachte ein kleines Lächeln zustande. »Mit mir ist immer alles in Ordnung. Bist du bereit, dem Seuchenschutz auf die Nerven zu fallen?«

»Ach, Shaun«, sagte sie und klimperte kokett mit den Wimpern, »ich dachte, du fragst nie.« Sie ging Richtung Motorrad. Nach kurzem Zögern folgte ich ihr.

Die Seuchenschutzbehörde hatte eine eigene Anlage in Portland, eine kleine, peinlich saubere Ansammlung niedriger, weiß gestrichener Gebäude, die genauso gut ein Krankenhaus oder eine medizinische Fakultät hätten sein können. Aus der Entfernung sahen sie freundlich und einladend aus, als würde ein routinemäßiger Gesundheitscheck dort richtig Spaß machen. Dieser erste Eindruck verflüchtigte sich allerdings, sobald man nah genug heran war, um den Stacheldraht oben auf dem Zaun zu sehen, der die gesamte Anlage umgab, und die kleinen gelb-schwarzen Schilder, die darauf hinwiesen, dass der Zaun unter Strom stand. Vor dem Erwachen hätte man weniger Spannung auf den Zaun gelegt und dafür Wachhunde hinzugenommen.

Heutzutage durfte man wohl damit rechnen, dass sich schon beim kleinsten Anlass die ziemlich tödlichen Abwehrmaßnahmen aktivierten.

Becks hatte die Arme um meine Hüften geschlungen, als ich mit dem Motorrad am Wachhäuschen vorfuhr. Es handelte sich um einen kleinen, gesichtslosen Metallkasten, dem nicht anzusehen war, ob er bemannt war oder automatisch betrieben wurde. Ich hielt unsere Ausweispapiere hoch, wobei ich sorgfältig darauf achtete, dass man meine Hände sehen konnte, und sagte: »Shaun Mason und Rebecca Atherton, Nach dem Jüngsten Tag

»Bitte legen Sie Ihre Papiere in das Fach«, sagte eine mechanische Stimme. Direkt neben dem Lautsprecher öffnete sich zischend ein Schlitz. Ich warf unsere Ausweise hinein, worauf er sich mit einem weiteren Zischen schloss. »Bitte warten!«

»Klar, eigentlich hatte ich natürlich vor, abzudüsen und unsere Ausweise hierzulassen«, brummte ich.

Shaun, sagte George warnend. Becks kniff mich in den Nacken.

»Ihre Identität wurde überprüft«, verkündete das Wachhäuschen. Der Schlitz öffnete sich erneut, sodass ich unsere Ausweise herausnehmen konnte, und das erste Tor öffnete sich. »Bitte fahren Sie weiter zum Bluttest und zur Untersuchung!«

»Wie ich den Seuchenschutz liebe«, sagte ich, während ich Becks ihren Ausweis reichte und aufs Gas drückte.

Von da an passierte genau das, womit das Wachhaus uns gedroht hatte. Etwa zehn Meter weiter erreichten wir ein zweites Tor, zu dem sich diesmal Männer mit kugelsicheren Westen gesellten, die Sturmgewehre in den Händen hielten. Dort warteten auch Bluttesteinheiten auf uns, eine für jeden. Wir bestanden beide unsere Bluttests und beraubten die Wachtposten damit der Gelegenheit, die Waffen einzusetzen, die sie so fest umklammert hielten. Dann ging es weiter zur dritten Station, wo uns ein Netzhautscan erwartete.

»Ich würde das ja für übertrieben halten, wenn ich nicht kürzlich bei Maggie zu Hause gewesen wäre«, murmelte ich zu Becks, die ein leises, belustigtes Schnauben ausstieß. Ich hatte es gar nicht als Witz gemeint: Es hätte mich nicht überrascht zu erfahren, dass die Sicherheitssysteme bei Maggie und die der Seuchenschutzbehörde von derselben Firma stammten. Das Geld dafür hatte Maggies Familie allemal, und keiner von denen hatte sich je gescheut, ein paar Kröten mehr für verbesserte Sicherheit auszugeben.

Schließlich, nachdem wir den Testparcour abgeschlossen hatten, durften wir auf den Parkplatz fahren. Ich hielt auf einem Streifen, auf dem in großen gelben Buchstaben BESUCHER stand. Becks stieg vom Motorrad, nahm ihren Helm ab und holte eine Haarbürste aus ihrem Rucksack hervor, während ich den Ständer ausklappte. Eilig kämmte sie sich die Haare und machte dann irgendwas damit, einem geheimen weiblichen Regelkanon folgend, über den mich nicht einmal George hatte aufklären wollen.

»Du siehst gut aus, insbesondere für diese Art von Besuch«, sagte ich, während ich meinen eigenen Helm am Lenker befestigte. »Niemand wird auf deine Frisur achten.«

Becks bedachte mich mit einem eisigen Blick. »Das sagst du«, erwiderte sie steif. »Ich habe festgestellt, dass sorgfältig gekämmtes Haar der Enthüllungsreporterin allerlei Türen öffnet. Und auch meinen Quoten schadet es sicher nicht, wenn ich nicht aussehe, als wäre ich gerade aus dem Bett gepurzelt.«

Ich musste zugeben, dass sie da nicht ganz unrecht hatte. Becks achtete mehr auf ihr Äußeres als alle anderen mir bekannten Irwins, ob Mann oder Frau, und sie verkaufte sogar noch mehr Merchandise als ich. Sie trug ihr Haar etwas länger, als es für die Arbeit im Feld sicher war, und hatte blonde und dunkelbraune Strähnen, die ihrem ansonsten braunen Haar etwas Exotisches verliehen, insbesondere unter den Lichtverhältnissen, in denen sie normalerweise filmte. Nahm man ihre von Natur aus grünen Augen und ihre Vorliebe für enge weiße Tank Tops hinzu, dann war es kein Wunder, dass ihre Zuschauer zu achtzig Prozent Männer waren. Verwunderlich war allerdings, dass sie dabei anscheinend Wert auf meine Meinung legte. Das würde ich nie begreifen.

Lass sie sich die Haare kämmen, damit wir schnell weitermachen können, sagte George.

»Na schön.« Ich kramte meine Sachen etwas eiliger als nötig aus der Satteltasche.

»Wie bitte?«, fragte Becks.

»Nichts.«

»Ist klar.« Sie stopfte die Bürste zurück in ihre Tasche. »Da, schon fertig.«

»Wirklich?« Ich hob die Brauen und taxierte sie. »Bist du dir sicher, dass du nicht noch ein bisschen Make-up auftragen musst oder so, bevor wir reingehen?«

Becks ließ ein helles Lächeln aufblitzen, dass nicht mal ansatzweise ihren sarkastischen Unterton überspielte, als sie antwortete: »Nein. Mein Mascara übersteht vierundzwanzig Stunden heftigen Regen, und zwar im Gefecht. Meinen Lidschatten kann man praktisch nur mit einem Säurebad entfernen, und der Lippenstift ist so haltbar, dass ich die natürliche Farbe meiner Lippen seit meinem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen habe. Ich bin rundum bereit.«

»Ich bin mir sicher, dass der Seuchenschutz begeistert sein wird, dass du dir solche Mühe für ihn gegeben hast«, erwiderte ich und folgte dem Fußweg, über dem in wiederum gelben Buchstaben EINGANG stand. Immerhin stand das Wort diesmal auf einem Schild und war nicht einfach auf den Asphalt gemalt. Becks gab ein ganz und gar nicht damenhaftes Schnauben von sich und folgte mir.

Nach all den Sicherheitsüberprüfungen, denen wir uns hatten unterziehen müssen, um auch nur auf den Parkplatz zu kommen, war der Weg zum Haupteingang der Seuchenschutzbehörde Portland fast schon eine Enttäuschung. Bei den Glastüren hatte man demonstrativ auf jede Form von Verstärkung verzichtet das hier war die Seuchenschutzbehörde. Wenn die Infizierten bis hierher vordrangen, dann war die Stadt bereits verloren, warum sollte man also Geld auf etwas verschwenden, wenn es an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden konnte? Die Leute hier waren Wissenschaftler. Sie hielten es nicht für nötig, öffentliche Gelder für Firlefanz zum Fenster rauszuschmeißen.

Das betraf auch den Eingangsbereich. Eine Woge angenehm kühler Klimaanlagenluft schlug uns entgegen, als wir das Gebäude betraten, das so nichtssagend wie ein unbenutztes Filmset war. Der Boden bestand aus schwarzem Marmor, und die Wände waren weiß, mit Ausnahme der großen Stahlplakette, die verkündete, dass es sich hier um die Seuchenschutzbehörde Außenstelle Portland handelte. »Danke, haben wir schon mitgekriegt«, brummte ich und hielt auf das eine Möbelstück im Raum zu: den stromlinienförmigen, futuristischen Empfangstresen.

Die Rezeptionistin selbst war ebenfalls stromlinienförmig und futuristisch, vermutlich wollte sie nicht hinter ihrem Arbeitsplatz zurückstehen. Ihr Haar war zu einem so straffen Knoten gebunden, dass es beinahe wie gegossenes Metall aussah, das Jackett war von tadellosem Schnitt, kühle Augen wurden von einer Brille mit schwarzer Fassung umrahmt. »Namen und Anliegen?«, fragte sie, als wir uns näherten. Ihre Finger huschten unablässig über eine Tastatur, selbst als sie zu uns aufschaute, uns von oben bis unten musterte und für unwichtig befand.

»Wir sind Mitarbeiter der Nachrichtenwebsite Nach dem Jüngsten Tag, und wir möchten mit dem Leiter dieser Einrichtung sprechen«, sagte ich ganz freundlich, stützte mich auf den Tresen und zeigte ihr meinen Ausweis. Becks tat das Gleiche, allerdings ohne zu lächeln. »Keine Sorge, falls nötig können wir warten.«

Die Rezeptionistin bedachte uns mit einem weiteren ihrer kurzen, unterkühlten, abschätzigen Blicke, bevor sie fragte: »Worum geht es bei Ihrem Anliegen, Sir?« Das »Sir« klang widerwillig, eine reine Formalität, die sie nun auf einer in Gedanken geführten Liste »korrekter Umgangsformen« abhaken konnte.

»Das geht nur den Leiter und uns etwas an«, erklärte Becks.

»Ich verstehe.« Die Rezeptionistin rümpfte leicht die Nase. »Wenn Sie einen Termin vereinbaren möchten, können wir Sie sicher noch im Laufe der Woche unterbringen. Bis dahin «

»Im Laufe der Woche? Tatsächlich? Ist ja toll.« Zur Betonung klatschte ich mit der flachen Hand auf den Tresen und richtete mich dabei auf. Mit einer gewissen Befriedigung sah ich die Rezeptionistin zusammenzucken. »In Ordnung, Becks, du stellst die Kameras auf, und ich analysiere die Lichtverhältnisse hier drin, um zu sehen, wo wir am besten zu drehen anfangen.«

»Ich verstehe nicht ganz.« Die Rezeptionistin erhob sich halb aus ihrem Stuhl, wobei sie den Blick auf einen eng anliegenden Rock freigab, der ebenso perfekt geschnitten war wie ihr Jackett. Ich erwischte mich bei der Frage, ob sie wohl auch ihre Unterwäsche stärkte, damit sie ihr nicht durch übermäßige Weichheit die rechte Laune ruinierte. »Was machen Sie da?«

»Tja, das hier ist doch ein Regierungsgebäude, oder?«, fragte ich unschuldig. »Was bedeutet, dass wir als Bürger dieses Landes das Recht haben, uns hier aufzuhalten, wann und warum auch immer wir wollen, solange wir die Arbeitsabläufe nicht stören oder uns des Vandalismus schuldig machen. Da habe ich doch recht, oder? Solange kein Ausnahmezustand besteht, wird dafür kein Termin benötigt, wenn ich richtig informiert bin.«

»Ja, aber «

»Also senden wir live hier aus der Eingangshalle, bis wir reinkönnen, um mit Ihrem Vorgesetzten zu sprechen. Die braven Bürger von Portland und der ganzen Welt habe ich darauf hingewiesen, dass wir eine der weltweit meistbesuchten Nachrichtenseiten sind? Stimmt, diese Kleinigkeit habe ich vielleicht ausgelassen, als wir uns vorgestellt haben. Nun, alle Welt soll erfahren, wie toll diese Behörde mit Besuchern umgeht.«

»Ich glaube, wir können die Kameras gleich da drüben aufstellen«, sagte Becks und zeigte mit dem Finger an eine Stelle irgendwo an der Wand.

»Das können Sie nicht machen!«, sagte die Rezeptionistin. Sie klang erregt. Das arme Ding. Wahrscheinlich würde sie sich etwas zerren, wenn sie mit derart straff zurückgebundenen Haaren versuchte, einen echten Gesichtsausdruck zustande zu bringen. »Es tut mir leid, es gab ein kleines das ist alles ein Missverständnis, geben Sie mir einen Moment, dann stelle ich Sie zu Direktor Swenson durch.«

»Danke«, sagte ich und warf ihr ein breites Lächeln zu. »Ist schon gut, Becks, du kannst jetzt mit dem Aufbauen aufhören.«

»Alles klar«, sagte Becks und setzte ihren Rucksack wieder auf. Wir schauten zu, wie die zunehmend nervös wirkende Rezeptionistin ihr Telefon abnahm und mit der Hand über dem Mundstück etwas hineinmurmelte, als könnte sie uns dadurch am Mithören hindern. Es funktionierte zumindest teilweise: Der Großteil dessen, was sie sagte, war kaum zu verstehen, allerdings meinte ich, die Worte »verrückt«, »Reporter« und »drohen damit« aufzuschnappen. Das war keine schlechte Presse und verschaffte dem Direktor vielleicht eine Ahnung davon, womit er es zu tun bekommen würde.

Nichts könnte ihn jemals auf dich vorbereiten, sagte George.

»Schmeichlerin«, murmelte ich. Die Rezeptionistin warf mir einen misstrauischen Blick zu, die Hand immer noch um den Hörer gelegt. Ich lächelte sie strahlend an. Sie schaute wieder weg.

»Ja, Sir, natürlich, Sir«, sagte sie und legte auf. Ohne uns anzuschauen, sagte sie: »Direktor Swenson ist auf dem Weg hierher und möchte sich für die Unannehmlichkeiten und die lange Wartezeit entschuldigen.«

»Kein Problem«, erwiderte ich.

Die Rezeptionistin sagte nichts. Sie beugte sich ein wenig vor, zog die Schultern hoch und konzentrierte sich auf ihren Computer. Offensichtlich konnte sie unsere Anwesenheit nicht einfach als Albtraum abtun dafür waren wir ein bisschen zu leibhaftig , und ebenso offensichtlich versuchte sie es trotzdem. Ich wippte auf den Hacken. Sie durfte uns gerne ignorieren. Man kann ja die Sache mit den höflichen Umgangsformen großzügig auslegen, um ans Ziel zu kommen, oder aber man kann richtig gemein werden. Wenn möglich, beschränke ich mich aufs Erste.

Wir mussten keine fünf Minuten warten, bis klackende Schritte durch den Raum hallten und ein tadellos gepflegter Mann im weißen Laborkittel um die Ecke kam. Abgesehen von dem Kittel war er wie ein beliebiger Bürokrat aus dem mittleren Management einer beliebigen Firma gekleidet: mit grauer Hose, die wahrscheinlich aus irgendwelchen wahnsinnig teuren Naturfasern bestand, einem weißen Hemd, einem unaufdringlichen blaugrünen Schlips und auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen. Selbst sein Laborkittel sah maßgeschneidert aus und nicht wie ein Standardmodell von der Stange. Falls die Seuchenschutzbehörde derzeit rote Zahlen schrieb, dann schlug sich das eindeutig nicht in seiner Garderobe nieder.

Und auch nicht auf dem Konto seines Schönheitschirurgen. Sein Haar war dicht und sorgfältig frisiert, wenn auch silbergrau, und seine faltenlose Haut wies die charakteristische Straffheit von Männern Ende fünfzig auf, die Unsummen zahlten, um die Illusion von gut erhaltenen Ende dreißig aufrechtzuerhalten. Er kam mit der ruhigen Selbstsicherheit eines Mannes, der weiß, dass er seine Umgebung kontrolliert, an den Empfangstresen und streckte mir die Hand entgegen. »Shaun Mason, nehme ich an?«

»Ebender.« Ich nahm seine Hand und schüttelte sie. Selbst nach all der Abhärtung gegen gelegentliche Körperkontakte mit Fremden kam mir die Geste falsch vor. Man fasst keine Leute an, die man nicht kennt. Es sei denn, sie haben ihren Gesundheitszustand soeben mit einem bestandenen Bluttest dokumentiert, und eigentlich nicht mal dann. »Das ist meine Kollegin Rebecca Atherton. Sie arbeitet für unsere Action-Nachrichtenabteilung.«

»Ah, eine Irwin«, bemerkte der Mann, zog seine Hand zurück und wandte sich Rebecca zu, um sie zu mustern. Sein Blick richtete sich auf ihr Gesicht, wanderte an ihr hinab und kehrte dann zu ihrem Gesicht zurück, ohne eine Spur von Zögern oder Scham. »Wissen Sie, dieser Begriff hat mir immer gefallen. Irwin, für den großen, verstorbenen Steve Irwin. Er ist im Feld gestorben, wissen Sie. Genauso, wie er es gewollt hätte.«

»Nein wirklich, Arschloch?«, brummte Becks.

»Genau genommen bin ich mir ziemlich sicher, dass er im Schlaf sterben wollte, Sir, irgendwann mit Ende neunzig, aber darum geht es derzeit nicht.« Etwas an ihm ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Vielleicht war es die Art und Weise, wie er Becks anschaute. Vielleicht war es auch sein Tonfall, der so glatt war, dass man eine rostige Kettensäge damit hätte schmieren können. »Ich nehme an, Sie sind Direktor Swenson.«

»Ganz genau. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich sie warten ließ. Beim nächsten Mal rufen Sie doch bitte vorher an. Dann können wir solche kleinen Verzögerungen vermeiden.«

Ja, weil wir dann nicht mehr durch die Sicherheitskontrollen kommen.

Mühsam beherrscht sagte ich: »Ich werde daran denken. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, meine Kollegin und ich waren gerade in der Gegend und hätten einige Fragen an Sie an Sie persönlich, weshalb wir vorbeigekommen sind. Gibt es hier einen Ort, an dem wir reden können?«

Einen kurzen Moment lang huschte ein Ausdruck des Unbehagens über sein Gesicht, der jedoch verflog, ehe ich auch nur Zeit zu blinzeln hatte. »Natürlich«, sagte er glatt. »Wenn Sie beide mich begleiten würden, ich glaube, eines der Konferenzzimmer ist verfügbar. Miss Lassen, weitermachen!«

Die Rezeptionistin Miss Lassen nickte, sichtlich erleichtert, als Direktor Swenson sich abwandte und die Eingangshalle auf demselben Weg verließ, auf dem er sie betreten hatte. Es war ihr vielleicht nicht gelungen, uns vor die Tür zu setzen, aber immerhin waren wir ab jetzt nicht mehr ihr Problem. Becks und ich wechselten einen Blick, zuckten mit den Schultern und folgten dem Direktor in den rückwärtigen Bereich der Halle, um eine Ecke und auf einen Korridor, der aussah, als wäre er gut einen Kilometer lang.

Direktor Swenson passierte drei gleich aussehende Türen, ehe er vor der vierten stehen blieb und den Daumen auf ein kleines Sensorfeld drückte. Das Licht über der Tür sprang von rot auf grün um, und die Tür schwang auf. »Ab hier braucht man nicht nur einen Bluttest, sondern auch jemanden mit der nötigen Sicherheitsfreigabe, um eine Tür zu öffnen, und sei es nur die zur Toilette.« Selbstgefällige Belustigung klang aus seiner Stimme. »Ich empfehle Ihnen, nicht ohne Begleitung herumzulaufen.«

»Ich werde dran denken, falls ich mal pinkeln muss«, brummte Becks. Ich bedachte sie mit einem forschenden Blick, den sie finster erwiderte.

Komisch, normalerweise bist du derjenige, der die Eingeborenen ärgert, bemerkte George.

Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu antworten, als wir Direktor Swenson durch die Tür und auf einen der langen, schmucklosen weißen Korridore folgten, die typisch für die Anlagen der Seuchenschutzbehörde waren. Anscheinend haben sie Angst davor, Geld für Inneneinrichtung auszugeben, weil jederzeit eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass alles in Desinfektionsmitteln getränkt werden muss. Wir kamen nicht an Ärzten vorbei, allerdings an mehreren großen Glasscheiben, hinter denen sich leere Krankenzimmer befanden. Weiße Wände, weiße Betten, weiße Böden alles war weiß. Ich bin einmal in so einem Zimmer aufgewacht, nachdem ein Team der Behörde uns vor Memphis eingesammelt hatte. Ich habe gedacht, dass ich gestorben wäre und mich im keimfreien Leben nach dem Tod befände.

Direktor Swenson blieb vor einer Tür stehen, die genau wie alle anderen Türen auf dem Gang aussah, mit Ausnahme der größeren, technisch eindrucksvolleren Testeinheit, die daneben in die Wand eingelassen war. »Der Testzyklus dauert etwa fünfzehn Sekunden«, erklärte er, während er die Hand flach auf das Sensorfeld drückte. »Sobald ich reingegangen bin, schließt die Tür sich und die Einheit wird zurückgesetzt. Versuchen Sie bitte nicht, mir ohne sauberes Testergebnis zu folgen! Es wäre mir wirklich lieber, wenn heute nicht die ganze Anlage abgeriegelt wird.«

»Kein Problem«, sagte ich. »Wir machen unseren Job nicht erst seit heute.«

Das Licht über der Tür wurde grün, und die Tür schwang mit einem hydraulischen Zischen auf, was Direktor Swenson die Mühe ersparte, mir zu antworten. Stattdessen hob er eine Braue und trat durch die Tür, bevor sie sich wieder schloss.

»Wie bescheuert ist das auf einer Skala von eins bis zehn?«, fragte Becks, während sie ihre eigene Handfläche auf das dafür vorgesehene Feld legte.

Zehn, sagte George.

»Ach, höchstens fünf«, antwortete ich mit einem fröhlichen Lächeln. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber! Wir sind bloß hier, um den Wissenschaftlern ein paar Fragen zu wissenschaftlichen Fakten zu stellen. Wissenschaftler mögen so was.«

»Stimmt«, sagte Becks zweifelnd. Das Licht wurde grün, und zischend öffnete sich die Tür erneut. Becks trat hindurch.

»He, George«, brummte ich, während ich die Hand auf das Testfeld drückte. »Jetzt kriegst du was zu sehen.«

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Kann die Wahrheit Terror sein? Ab welchem Punkt ist es ein Akt der Gnade zu lügen? Ist es grausam, Eltern zu sagen, dass ihr Kind sterben wird, auch wenn es wahr ist? Ist es gütig, einem Verletzten die Genesung zu versprechen, obwohl alles dagegen spricht? Wo verläuft die Grenze zwischen Aufrichtigkeit und Schaden, Täuschung und Anstand, Fehlinformation und Böswilligkeit? Ich weiß es nicht. Und all die klugen Argumente zu dem Thema bringen mich nicht weiter. Es tut mir leid. Ich wünschte, ich wüsste es.

Was ich weiß, ist Folgendes: Eine Lüge, wie gut sie auch gemeint ist, kann nicht auf die Wirklichkeit vorbereiten und nicht die Welt verändern. Das Unfallopfer wird sterben, ob man ihm nun die Genesung versprochen hat oder nicht, aber wenn Eltern wissen, dass ihr Kind im Sterben liegt, haben sie vielleicht Zeit, sich vorzubereiten, und werden die letzten gemeinsamen Tage mit ihm um so mehr schätzen. Wenn man jemandem die Wahrheit sagt, dann gibt man ihm Waffen gegen eine Welt in die Hand, die so voller Grausamkeit ist, dass man nicht mit einfachen Unwahrheiten gegen sie ankommen kann. Wenn diese Wahrheiten bedeuten, dass die Welt weniger tröstlich ist, als sie es andernfalls hätte sein können, scheint mir das ein kleiner Preis zu sein.

Ich glaube, wir sind es der Welt schuldig mehr noch, wir sind es uns selbst schuldig , den Trost gegen die Hoffnung einzutauschen, die in der Wahrheit liegt. Denn dann könnte die Wahrheit uns vielleicht wirklich frei machen.

Aus Auf die Kwong-Tour, dem Blog von Alaric Kwong, 16. April 2041.

Heute haben wir uns wieder mit dem Senator getroffen. Bald geht es los, und er will sichergehen, dass wir alle verstehen, welche Rolle wir bei seiner Kampagne spielen. Ich glaube, er ist sich noch nicht sicher, ob wir mit dem Kopf voll bei der Sache sind, und ehrlich gesagt bin ich das auch nicht. Shaun spricht mit kaum jemandem, auch nicht mit mir, und Buffy redet einfach gar nicht. Ich spiele immer wieder die Aufnahmen von dem Angriff ab, auf der Suche nach etwas, das wir übersehen haben, auf der Suche nach einem Hinweis darauf, wer für all das verantwortlich ist.

Als ich die Bewerbung abgeschickt habe, glaubte ich, das wäre eine tolle Sache für uns. Ich glaubte, uns die eine Chance auf Ruhm zu verschaffen, eine Chance, die Welt zu verändern, indem wir die Wahrheit verbreiten. Ich glaubte, das Richtige zu tun. Aber jetzt muss ich mit ansehen, wie Shaun gegen Wände schlägt, und wenn ich aufwache, bin ich noch so müde wie beim Schlafengehen, und ich wünschte einfach nur, dass ich all das rückgängig machen könnte. Ich bin müde, und ich will nach Hause.

Oh Gott, ich habe solche Angst, dass nicht alle von uns nach Hause zurückkehren werden.

Aus Postkarten von der Klagemauer, dem Nachlass von Georgia Mason, erstmals veröffentlicht am 18. April 2041.