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Bei »Dr. Abbeys Büro« handelte es sich um einen beschönigenden Ausdruck für ein Abteil, das nur ein kleines bisschen größer war als die umliegenden. Dazu kam, dass es mit Aktenkisten, altmodischen Computerteilen und – als Höhepunkt – durchsichtigen Plastikbehältern mit Insekten und Spinnentieren vollgestopft war. Ich habe nichts gegen Spinnen. Spinnen können kein Kellis-Amberlee übertragen. Das Gleiche gilt für riesige, fauchende Kakerlaken und sich schlängelnde Tiere mit viel zu vielen Beinen. Becks teilte mein Desinteresse allerdings nicht. Jedes Mal, wenn das Ding mit den vielen Beinen sich rührte, versank sie tiefer in ihrem Stuhl.
Das ist ein Tausendfüßler, sagte George.
»Das ist eine Lachnummer«, brummte ich und wandte meine Aufmerksamkeit wieder Dr. Abbey zu.
Sie hatte ihren Laborkittel abgestreift und anschließend eine Packung Oreo-Kekse aus einem Aktenschrank hervorgeholt und deren Inhalt auf einen Pappteller geschüttet. Jetzt hockte sie entspannt vor dem Minikühlschrank unter ihrem Schreibtisch und kramte darin herum. Joe die Dogge hatte sich zwischen ihr und uns ausgestreckt und den gewaltigen Kopf zwischen die Vorderläufe gelegt. Er wirkte entspannt, aber sein Blick blieb wachsam und behielt immer die Person im Auge, die sich zuletzt bewegt hatte. Das bedeutete, dass er die meiste Zeit zu Becks schaute, die ständig zusammenzuckte.
»Also, es gibt Apfelsaft, Wasser, Bier und irgendetwas Unbeschriftetes, bei dem es sich entweder um einen Proteinshake oder um Algen handelt.« Dr. Abbey blickte auf. »Wer will was?«
»Ich will wissen, wie es dir gelungen ist, eine Reservoirkrankheit auszulösen«, meldete sich Kelly, deren Wissensdrang anscheinend stärker war als ihre Abneigung gegen illegale Forschung.
Dr. Abbey fixierte sie mit einem ausdruckslosen Blick. »Das ist kein Getränk. Ich will wissen, wie du es verantworten kannst, ein halbes Dutzend internationaler Vereinbarungen zu verletzen, indem du einen Klon zu deinem persönlichen Vorteil eingesetzt hast. Gewöhnt man euch das beim Seuchenschutz nicht ab? Ich dachte, dazu wären sie da. Und dazu, die Forschung auf die Parteilinie zu begrenzen, während draußen Menschen sterben.«
»Ich nehme einen Apfelsaft«, sagte ich.
»Danke, für mich nichts«, sagte Alaric. Er schaute Dr. Abbey mit leicht zusammengekniffenen Augen und derselben intensiven Konzentration an, mit der Joe uns beobachtete.
»Äh, Wasser«, sagte Maggie.
Becks sagte nichts. Sie war zu sehr damit beschäftigt, den Tausendfüßler im Auge zu behalten.
»Alles klar.« Dr. Abbey richtete sich auf und reichte Maggie eine Flasche Wasser und mir eine Flasche Apfelsaft, bevor sie sich neben ihrem Hund auf einem Stuhl niederließ. »Also tauchst du endlich wegen der Reservoirkrankheiten hier auf. Verdammt! Ich habe schon seit Jahren eine Wette mit Dr. Shoji und Oahu laufen. Er hat darauf geschworen, dass du eines Tages kommen würdest. Ich dachte, dass du einfach so lange Wasser treten würdest, bis wir alle am Arsch sind.«
»Shoji?«, fragte Alaric, und seine Augen verengten sich noch etwas. »Wäre das Joseph Shoji, der Direktor des Kauai-Instituts für Virologie?«
»Warum stellst du mir Fragen, deren Antworten du bereits kennst? Niemand hier braucht eine Einführung in die Materie.« Gelassen trank Dr. Abbey einen Schluck und sagte dann: »Wenn ihr denkt, dass ihr mich an eure Regierung ausliefern könnt, könnt ihr das vergessen. Die wissen längst, mit wem ich in Verbindung stehe, wie und wie oft wir miteinander in Kontakt treten, im Prinzip alles, außer wie oft ich meine Unterwäsche wechsele. Wenn sie mich kassieren wollten, hätten sie das längst getan. Aber das Risiko gehen sie nicht ein.«
»Genau genommen brauche ich sehr wohl eine Einführung in die Materie, weil ich nämlich nicht die geringste Ahnung habe, von wem ihr redet«, warf ich ein. »Warum will die Regierung das nicht riskieren? Ich meine, ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber du sitzt hier nicht gerade auf einer Atombombe oder so.«
»Oh doch, das tue ich.« Dr. Abbeys Blick wanderte zu Kelly und verharrte dort ruhig und ohne jede Feindseligkeit. »Die Seuchenschutzbehörde weiß nämlich ganz genau, dass da etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, wie viele dort wissen, was es ist, aber man kann wohl kaum über die Hälfte der guten Köpfe verfügen, medizinische Forschung betreiben und trotzdem ahnungslos bleiben.«
»Das ist unfair«, wandte Kelly ein. »Die Forschung …«
Dr. Abbey schnitt ihr das Wort ab: »Das ist eine Ausrede.«
»Du sprichst von den Reservoirkrankheiten«, sagte Becks. Ich war erleichtert, dass sie sich endlich auch in die Unterhaltung einmischte. Sie war im analytischen Denken weit besser geschult als ich. Ich wusste nicht, was für Fragen ich stellen sollte. Sie und Alaric dagegen schon, und das konnte uns den Arsch retten.
»Genau.« Dr. Abbey schaute weiter Kelly an. »Wie viel wisst ihr?«
»Ich weiß nicht, wer Dr. Shoji ist«, gab ich zu. »Aber ich weiß, dass Leute mit Reservoirkrankheiten schneller sterben, als es der Fall sein sollte, und ich weiß, dass meine Schwester Teil dieser Statistik ist. Deshalb sind wir hier, damit du uns sagst, was der Seuchenschutz verschweigt.«
Kelly warf mir einen Blick zu. »Die Kontrolle empfindlicher Informationen ist eine Hauptaufgabe aller Regierungsorganisationen«, sagte sie. »Angesichts deines eigenen Bedürfnisses nach gesicherten Informationen hätte ich vermutet, dass …«
»Vergiss mal die Parteilinie, Doc«, sagte ich freundlich. »Ich habe nach wie vor kein Problem damit, Frauen zu schlagen.«
Ihr Mund schloss sich mit einem hörbaren Klicken.
Dr. Abbey musterte mich einen Moment lang, bevor sie zu Alaric blickte und mit dem Kopf in meine Richtung deutete. »Ist der echt?«
»Er ist echt«, antwortete Alaric. »Er regt einen auf, er ist unmöglich und höchstwahrscheinlich wahnsinnig, aber er ist echt.«
»Hm!« Dr. Abbey nahm einen weiteren Schluck von ihrem Getränk. »Joe hat fünf voll ausgebildete Reservoirkrankheiten. Retinales KA; Hirn-Rückenmarks- und Hoden-KA und meine persönliche Lieblingskrankheit, Schilddrüsen-KA. Er ist der erste bekannte Fall eines Hunds mit einer Schilddrüsen-Reservoirkrankheit, nicht wahr, Joe?« Joe wandte ihr den riesigen Kopf zu und sabberte zustimmend mit schlackernder Zunge.
»Du meintest, dass du diese Krankheiten bei ihm ausgelöst hast?«, fragte Becks.
»Das ist unmöglich«, wandte Kelly ein. »So verhält sich das Virus einfach nicht.«
»Es ist nicht unmöglich, es ist bloß schwierig«, erwiderte Dr. Abbey. »Ich habe begonnen, indem ich ihm im Alter von sechs Wochen das aktive Virus injiziert habe. Dadurch hatte sein Körper Zeit genug zu lernen, wie man mit Kellis-Amberlee fertig wird, ehe er groß genug für eine Virenvermehrung war. Die ersten beiden Krankheiten entwickelten sich von allein, als Folge der Impfungen. Die anderen waren aufwendiger, da ich sie erst im Erwachsenenalter bei ihm ausgelöst habe.«
»Ich begreife das einfach nicht«, sagte Kelly »Ich meine, allein schon das Risiko einer Virenvermehrung …«
»Wer sagt, dass es keine Vermehrung gegeben hat?«
Alle drehten sich zu Maggie um, die Dr. Abbey mit großen, traurigen Augen anschaute. Ich hatte ihre Anwesenheit beinahe vergessen, so sehr war ich mit dem Versuch beschäftigt gewesen zu kapieren, worum es ging.
»Wie bitte?«, fragte Kelly.
»Wer sagt, dass es keine Vermehrung gegeben hat?«, wiederholte Maggie. Nachdenklich nahm sie einen Schluck von ihrem Wasser und fuhr fort: »Ich meine, wenn man Reservoirkrankheiten auslösen kann … du hast gesagt, dass er niemals eine volle Virenvermehrung erlitten hätte. So, wie ich das sehe, gab es für dich nur eine Möglichkeit, das in Erfahrung zu bringen, nämlich durch einen Test. Ich weiß nicht, wie man so etwas anstellt. Ich bin ja keine Ärztin, aber es scheint mir eine Möglichkeit zu sein.«
»Nicht wahr?«, sagte Dr. Abbey. »Kluges Mädchen.«
Langsam fügte sich in meinem Kopf ein entsetzliches Bild zusammen, dass ich am liebsten gar nicht gesehen hätte. George schwieg, was es um so schwerer machte, die Schlussfolgerungen zu ignorieren, die meine Gedanken selbstständig zogen. George zog dieselben Schlüsse, und sie gefielen ihr kein bisschen besser als mir. Mein Mund war mit einem Mal staubtrocken, so ausgedörrt wie die Böden um Memphis, wo die Heckenschützen unseren Konvoi unter Beschuss genommen hatten, wo Buffy gestorben war … wo die Seuchenschutzbehörde uns das erste Mal kassiert hatte.
»Dr. Abbey?«, fragte ich. Mit dem Gesichtsausdruck einer Lehrerin, die einen Lieblingsschüler dazu ermutigen will, vor dem Pausenklingeln noch schnell eine richtige Antwort zu geben, drehte sie sich zu mir um. »Was bewirken Reservoirkrankheiten wirklich? Weißt du es?«
»Natürlich weiß ich es.« Lächelnd stellte sie ihr Getränk beiseite und erhob sich von ihrem Stuhl. »Kommt mit! Es ist an der Zeit für eine Führung durch unser Labor. Ihr müsst verstehen, was wir hier machen.«
»Ich hatte schon immer eine Schwäche für Frankenstein«, sagte Becks. Zumindest eine von uns hatte ihren Sinn für Humor nicht verloren. »Also, sehen wir es uns an.«
Ja, sagte George, die seltsam bedrückt klang. Los geht’s!
Kelly sprach kein Wort. Das war vielleicht auch besser so.
Wir ließen unsere Getränke stehen und folgten Dr. Abbey aus ihrem vollgerümpelten Abteil ins eigentliche Labor. Joe trottete uns hinterher. Das Klappern seiner Krallen auf dem nackten Linoleum raubte mir den letzten Nerv. Man wurde ständig an seine Anwesenheit erinnert und an den Umstand, dass er – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – groß genug für eine Virenvermehrung war. Er hätte uns alle töten können, bevor auch nur jemand Zeit gehabt hätte, nach seiner Waffe zu greifen.
Aber das wird er nicht, griff George meinen Gedanken auf. Ich glaube, Dr. Abbey ist gar nicht so verrückt.
»Das sagt diejenige, die am wenigsten zu verlieren hat«, brummte ich.
Dr. Abbey schaute sich mit gehobenen Brauen zu mir um. »Wie war das?«
Ich bedachte sie mit einem sonnigen Lächeln. »Ich habe bloß mit meiner toten Schwester gesprochen. Sie wohnt jetzt in meinem Kopf. Sie sagt, dass du nicht verrückt genug bist, um deinen Hund zum Zombie werden und uns alle fressen zu lassen.«
»Da hat sie recht«, pflichtete Dr. Abbey mir bei, anscheinend ohne sich daran zu stören, dass ich Unterhaltungen mit Toten führte. Das empfand ich als seltsam verstörend. »Selbst wenn Joe eine Vermehrung erleiden könnte – was nach all unserer Arbeit nicht möglich ist –, dann würde ich nicht zulassen, dass so etwas außerhalb eines abgeriegelten Raums passiert. Hier gibt es zu viel, was beschädigt werden könnte.«
»Zum Beispiel die hier?« Alaric blieb stehen und betrachtete mit gerunzelter Stirn einen Behälter, indem sich etwa ein Dutzend Tiere befanden, die wie Meerschweinchen mit zu vielen Beinen aussahen. Becks folgte seinem Blick, stieß ein Kreischen aus und machte einen Satz zurück.
»Riesentaranteln«, erklärte Dr. Abbey. »Das Durchschnittsgewicht der Exemplare in dem Behälter dort liegt zwischen 150 und 250 Gramm. Man braucht Generationen, um sie so groß zu züchten.«
»Wozu denn überhaupt?«, wollte Becks wissen. »Die sind grausig.«
»Sie sind infiziert«, sagte Dr. Abbey. Alle starrten sie an. Unbeirrt fuhr sie fort: »Bei dem größten weiblichen Exemplar kam es bereits zweimal zur Virenvermehrung. Einmal war sie so krank, dass sie angefangen hat, ihren Artgenossen nachzustellen. Sie hat drei weitere Spinnen infiziert, ehe wir sie isolieren konnten. Eine hat sich nicht wieder davon erholt. Ein Jammer. Sie stammte aus einer sehr hoffnungsträchtigen Zuchtlinie. Kommt, es gibt viel zu sehen.« Sie ging weiter, ohne sich zu vergewissern, ob wir ihr folgten.
»Bei Spinnen kann Kellis-Amberlee nicht ausbrechen«, sagte Kelly, doch sie klang unsicher.
»Glaub das ruhig weiter«, erwiderte Dr. Abbey, ohne innezuhalten.
Wir Übrigen beeilten uns, sie einzuholen, wobei Joe uns als Nachhut weiter dicht auf den Fersen blieb. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn sich jemand vom Rest der Gesellschaft absetzen würde, so, wie die Leute es dauernd in den Horrorfilmen machen, die Maggie und Dave so gern mochten. Angesichts von Joes Kopfgröße und der zahlreichen Zähne in seinem Maul hatte ich es nicht eilig, es herauszufinden. Sollte Becks die mörderischen Risiken eingehen. Immerhin war sie der letzte verbliebene Irwin unter uns.
Dr. Abbey wartete an einem schmalen Durchgang auf uns, in dem es nach Salzwasser und Moder roch. »Ich dachte schon, ich müsste Suchtrupps losschicken«, sagte sie und verschwand in der Dunkelheit zwischen den hoch aufgestapelten Behältern.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Alaric.
»Dafür ist es jetzt zu spät«, antwortete ich und folgte der Wissenschaftlerin.
Die Herkunft des Geruchs war schnell zu erkennen: Die Behälter zu beiden Seiten waren voll mit Salzwasser und enthielten verschiedenste Arten von bunten Korallen und Plastikstrukturen. Ich hielt inne, um einen genaueren Blick durch eine der Scheiben zu werfen, und zuckte zurück, als ein dicker, fleischiger Tentakel von innen ans Glas klatschte. Dr. Abbey kicherte.
»Vorsichtig«, sagte sie. »Manchmal langweilen sie sich, und wenn sie sich langweilen, dann machen sie einen gerne verrückt.«
»Wer sie?«, fragte ich und hielt mir die Hand an die Brust, während ich darauf wartete, dass das heftige Pochen meines Herzens nachließ. Der Druck in meiner Blase verriet mir, dass ich schnell eine Toilette finden musste, ehe die nächste Überraschung kam. »Was zum Geier war das für ein Ding?«
»Eine Pazifische Riesenkrake.« Dr. Abbey klopfte gegen den Behälter. Der Tentakel reagierte, indem er erneut gegen die Scheibe klatschte. Kurz darauf gesellten sich zwei weitere, fast gleich aussehende Gliedmaßen dazu, und dann kroch eine Krake von beträchtlicher Größe aus einem Spalt zwischen zwei Korallen hervor. »Wir arbeiten viel mit Cephalopoden. Es sind gute Testobjekte, solange man dafür sorgt, dass sie sich nicht allzu sehr langweilen. Dann kriechen sie nämlich aus ihren Aquarien und stiften ein heilloses Durcheinander.«
Ich warf Becks einen Blick zu. »Solltest du jetzt nicht schreiend wegrennen?«
»Nee«, antwortete sie. »Gegen Kraken habe ich nichts. Nur Insekten und Spinnen kann ich nicht leiden. Kraken sind niedlich. Sie erinnern einen auf ihre ganz eigene Art daran, dass die Natur bei ihrer Schöpfungsarbeit ziemlich viel Drogen genommen hat.«
»Mädchen sind echt komisch«, stellte ich fest.
Du musst es ja wissen, antwortete mir George.
Mit einem schiefen Grinsen beugte ich mich vor, um die Krake genauer in Augenschein zu nehmen. Sie ließ sich an der Scheibe nieder und beobachtete uns aus ihren runden, fremdartigen Augen. »Das Ding sieht echt verrückt aus«, sagte ich. »Wozu ist es gut?«
»Barney hier dient dazu, einige der neuen KA-Varianten zu testen, die wir entwickelt haben«, sagte Dr. Abbey, während sie den Deckel von dem Aquarium nahm. Sofort richtete die Krake ihre Aufmerksamkeit auf die Wasseroberfläche. Dr. Abbey steckte eine Hand zu ihr hinein, und sie streckte zwei Tentakel aus und wickelte sie fest um ihren Unterarm. »Bislang ist es uns nicht gelungen, sie zu infizieren, aber sie hat einige faszinierende Immunreaktionen gezeigt. Wenn wir bloß herausfinden können, warum bei Cephalopoden die Infektion nicht ausbricht, dann könnten wir sehr viel mehr über den Aufbau der Viren lernen.«
»Moment mal, soll das heißen, dass ihr hier tatsächlich versucht, neue Varianten des Virus zu entwickeln?« Kelly schaute sie mit vor Verblüffung weit aufgerissenen Augen an, als ob sie sich im Traum nicht vorstellen könnte, warum man so etwas tun sollte.
Dr. Abbey wandte ihre Aufmerksamkeit von der Krake ab – die nun versuchte, ihren Arm ganz ins Aquarium hinabzuziehen –, und warf Kelly einen verärgerten Blick zu. »Was dachtest du denn, was wir hier machen? Tomaten anbauen und davon faseln, wie schön alles wird, wenn der Seuchenschutz sich endlich mal die Zeit nimmt, uns alle zu retten?« Langsam entwand sie der Krake ihren Arm, ohne dabei den Blick von Kelly abzuwenden. »Also bitte! Willst du mir hier wirklich mit ethischen Grundsätzen kommen und mir erzählen, dass ihr kein bisschen an der Struktur des Virus gewerkelt hättet?«
Kelly biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab.
»Dachte ich mir.« Dr. Abbey zog die Hand aus dem Behälter und schloss den Deckel wieder. Die Krake ließ sich in einem Wirbel von Fangarmen auf den Grund absinken. Sie schien zu schmollen. »Bitte hier entlang, wir stehen kurz vor dem Ende unserer kleinen Führung. Inzwischen solltet ihr alle nötigen Informationen haben.« Sie wandte sich ab und schritt steif voran.
»Meinst du, wir sollten mitgehen?«, fragte Alaric halblaut.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Joe uns überhaupt eine Wahl lässt.« Ich warf einen Blick auf die Dogge. Die saß ruhig hinter uns und versperrte den einzigen anderen Ausweg aus dem schmalen Durchgang. »Außerdem sind wir jetzt schon mal hier. Willst du nicht rausfinden, welches große Geheimnis die Zauberin von Oz uns erzählen will?«
»Vielleicht will sie dir ein Gehirn schenken«, erwiderte Becks trocken.
»Wenn sie das macht, dann hoffe ich, dass du ein Herz bekommst«, antwortete ich und ging los.
Hinter mir sagte Alaric beinahe wehmütig: »Ich will einfach nur nach Hause.«
Kelly und Maggie sagten überhaupt nichts. Aber sie folgten mir, und das war schon mehr, als ich verlangen konnte.
Dr. Abbey wartete am anderen Ende des Durchgangs vor einem breiten Fenster aus Sicherheitsglas, das den Blick auf etwas freigab, bei dem es sich offenbar um einen Stufe-4-Reinraum handelte. Die Menschen darin trugen Schutzanzüge, die durch dicke Schläuche mit den Wänden verbunden waren, und ihre Gesichter waren unter den schweren, raumhelmartigen Kopfbedeckungen verborgen, die schon lange vor dem Erwachen in allen virologischen Hochsicherheitseinrichtungen zur Standardausstattung gehört hatten. Mit den Händen in den Kitteltaschen schaute Dr. Abbey durch die Scheibe. Sie drehte sich nicht um, als wir uns näherten. Als Joe neben ihr zum Stehen kam, zog sie eine Hand aus der Tasche und legte sie ihm auf den Kopf.
»Vor sechseinhalb Jahren habe ich damit begonnen, dieses Labor aufzubauen«, sagte sie. »Seitdem warte ich auf euch – oder auf jemanden wie euch. Warum habt ihr so lange gebraucht? Warum seid ihr nicht schon vor Jahren aufgetaucht?«
»Ich wusste nicht mal, dass es dich gibt«, antwortete ich. »Ich begreife das Ganze immer noch nicht richtig.«
Doch, das tust du, sagte George. Ihre Stimme klang leise, niedergeschlagen, beinahe verängstigt.
»George?«, fragte ich. Mein eigener Tonfall klang fast genauso wie ihrer.
»Wir sollten gehen«, sagte Kelly, die plötzlich beunruhigt klang. Sie nahm mich am Arm. Ich schaute auf ihre Hände hinab, doch sie ließ nicht los. »Oder wir fragen sie nach ihrer Forschung. Du weißt schon, nach der Forschung, wegen der wir hergekommen sind.«
»Dr. Abbey?«, fragte Alaric. »Was geht hier vor? Was macht ihr hier? Warum hast du deinen Hund mit Reservoirkrankheiten infiziert, und was soll das heißen, dass er keine Virenvermehrung erleiden kann? Und was hat all das mit dem Tod von Menschen zu tun, die von Natur aus an Reservoirkrankheiten leiden?«
»Das Kellis-Amberlee-Virus war ein Unfall«, sagte Dr. Abbey, die nach wie vor durch das Sicherheitsglasfenster schaute. Langsam bewegte sie die Hand über den Kopf ihres Hundes und streichelte ihn zwischen den Ohren. »Es hätte niemals existieren sollen. Die Kellis-Grippe und Marburg Amberlee waren beides gute Ideen. Sie wurden nur nicht sorgfältig genug im Labor getestet. Wenn man mehr Zeit gehabt hätte zu verstehen, wie sie funktionieren, ehe man sie freigesetzt hat, bevor sie sich miteinander verbunden haben … aber die hatte man nicht, und der Geist war schon aus der Flasche, als die meisten Menschen noch nicht einmal wussten, dass es überhaupt eine Flasche gab. Es hätte schlimmer kommen können. Das ist es, was keiner zugeben will. Die Toten sind also auferstanden und rumgelaufen – na und? Dafür werden wir nicht mehr krank wie unsere Vorfahren. Wir sterben nicht an Krebs, obwohl wir weiter Schadstoffe in die Atmosphäre pumpen, und noch dazu ständig neue. Wir sind richtige Glückskinder, mal abgesehen von den verdammten Zombies, und selbst die müsste man nicht zu so einem Riesenproblem machen. Man könnte sie auch einfach als Unannehmlichkeit behandeln. Stattdessen lassen wir zu, dass sie unser ganzes Leben bestimmen.«
»Es sind Zombies«, sagte Becks. »Es ist ziemlich schwer, sie zu ignorieren.«
»Ist es das wirklich?« Dr. Abbey kraulte Joe weiter am Ohr. »Es wartet doch immer etwas Bösartiges hinter der nächsten Ecke, um einen umzubringen, seit jeher. Aber erst seit dem Erwachen nehmen wir es in Kauf, ein Leben in Angst zu führen. Ständig heißt es: ›Bleibt drin und lasst euch beschützen!‹ Durch diese Mentalität sind mehr Leute ums Leben gekommen als durch alle versehentlichen Infektionen der Welt zusammengenommen. Es ist, als wären wir alle süchtig nach der Angst.«
Frag sie nach den Reservoirkrankheiten, drängte mich George.
»George … ich meine, ich wüsste gerne, was die Reservoirkrankheiten mit alldem zu tun haben.« Meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren, als stellte jemand anders die Frage.
»Das Immunsystem kann lernen, mit praktisch allem zurechtzukommen, wenn es einem Erreger nur lange genug ausgesetzt ist. Wie hätten wir sonst so lange überleben sollen?« Dr. Abbey drehte sich zu mir um. Ihre dunklen Augen schauten erschöpft unter dem unordentlich blondierten Pony hervor. »Die Reservoirkrankheiten sind das Ergebnis der Versuche unseres Körpers, mit dem Virus zurechtzukommen. Einen Weg darum herum zu finden. Sie sind eine überschießende, unbequeme Immunreaktion, so wie die Autoimmunerkrankungen, die die Menschen vor dem Erwachen bekamen.«
So ziemlich alle Menschen mit Autoimmunerkrankungen waren im Laufe des Erwachens entweder gestorben oder hatten hinterher festgestellt, dass ihr Los sehr viel leichter geworden war, weil ihr Immunsystem seine Zeit nun auf etwas sehr viel Sinnvolleres verwendete als darauf, körpereigenes Gewebe anzugreifen: Stattdessen beschäftigte es sich mit dem Kellis-Amberlee-Virus, das seinerseits versuchte, alles, was ihm im Weg stand, auszulöschen. Ab und zu treten noch Autoimmunerkrankungen auf, aber sie sind nichts im Vergleich zu den Zahlen, die es gab, bevor das Erwachen die Welt der Medizin auf den Kopf gestellt hat.
Diese Fakten schossen mir durch den Kopf und fügten sich wie Puzzleteile passgenau in ein Gesamtbild. Kellys Überraschung über gewisse Dinge. Der verboten große Hund mit den induzierten Reservoirkrankheiten und die beiläufige Art, auf die Dr. Kelly erklärt hatte, dass er keine Virenvermehrung erleiden würde, als wüsste sie mit absoluter Sicherheit, wovon sie redete. Die Spinnen, die Insekten und die Riesenkraken mit ihren Greifarmen und den starr blickenden, fremdartigen Augen. All das ergab einen Sinn, wenn ich nur aufhörte, krampfhaft danach zu suchen.
Ich drehte mich zu Kelly um, ehe mir überhaupt bewusst wurde, dass ich mich bewegen wollte. Sie riss die Augen auf, wich einen Schritt zurück und drückte sich beinahe schutzsuchend an Maggie. Maggie bedachte sie mit einem verwirrten Blick und trat beiseite.
»Ich weiß zwar nicht, warum er so sauer ist, aber ich will ihm nicht in die Quere kommen«, sagte sie in beinahe mitfühlendem Ton. »Besser du als ich.«
Alaric und Becks schauten mich verwirrt an. Dr. Abbey drehte sich um und sah, wie ich auf Kelly zuging. Auf ihrer Miene war keine Spur von Verwirrung zu sehen, nur stille Befriedigung – einmal mehr der Ausdruck einer Lehrerin, deren Schüler die Lektion nun endlich begriffen hat.
»Die Reservoirkrankheiten sind eine Immunreaktion«, sagte ich. Ich fragte nicht. Das war nicht nötig. Ich sah die Bestätigung in Kellys aufgerissenen Augen. »Sie sind die Art, auf die der Körper mit der Kellis-Amberlee-Infektion fertig wird, nicht wahr?« Sie antwortete nicht. »Nicht wahr?«, brüllte ich und knallte die Hand gegen das Sicherheitsglas.
Maggie und Alaric zuckten zusammen. Becks trat neben mich, und Kelly wandte den Blick ab.
»Ja«, antwortete sie. »Das sind sie. Sie … sie treten einfach so auf. Wir glauben, dass es etwas damit zu tun hat, ob man dem aktiven Virus in der frühen Kindheit ausgesetzt wurde, aber die dahingehende Forschung wurde nie … man hat nie …«
Jedes bisschen Mitgefühl, das ich einmal für sie empfunden hatte, war wie weggewischt. Ich sah keinen Menschen mehr vor mir. Ich sah bloß den Seuchenschutz und das Virus, durch das mir George genommen worden war. »Ich stelle dir jetzt eine Frage, Doc, und ich möchte, dass du gut über deine Antwort nachdenkst, weil du nämlich offiziell tot bist, und wenn wir beschließen, dich dieser freundlichen Dame hier« – ich zeigte auf Dr. Abbey – »als Versuchskaninchen zu überlassen, dann kannst du nicht besonders viel dagegen machen. Lüg mich nicht an! Verstanden?«
Kelly nickte stumm.
»Gut. Freut mich, dass wir uns einig sind. Also, sage mir: Was machen die Reservoirkrankheiten mit einem? Was machen sie wirklich?«
»Sie bringen dem Immunsystem bei, wie es mit einer anhaltenden Infektion durch aktive Kellis-Amberlee-Viren zurechtkommt.« Nun endlich schaute Kelly mir in die Augen. Sie klang seltsam erleichtert, als hätte sie geahnt, dass wir früher oder später an diesen Punkt gelangen würden, und nur nicht gewusst, wie sie das Thema selber ansprechen sollte. »Sie bringen dem Körper bei, was er dagegen machen kann.«
»Und das bedeutet?«
Mit eisiger Stimme warf Alaric ein: »Das ist die falsche Frage, Shaun.«
»Na schön, du bist der Newsie. Wie lautet die richtige Frage? Was soll ich sie fragen?«
»Frag sie, was passiert wäre, wenn du nicht abgedrückt hättest.« Eine ganze Weile lang schaute Alaric Kelly an, ehe er den Blick abwandte, als könnte er ihren Anblick nicht länger ertragen. »Frag sie, was aus Georgia geworden wäre, wenn du sie einfach allein im Sendewagen zurückgelassen hättest, anstatt abzudrücken!«
Kellys Antwort war ein gedämpftes Flüstern, so leise, dass ich einen Moment lang glaubte, mich zu verhören. Doch die Worte schienen immer lauter zu werden, während sie in meinem Kopf widerhallten, immer und immer wieder, bis ich ihren Klang nicht mehr ertragen konnte. Ich schlug, so fest ich konnte, mit den Fäusten gegen das Sicherheitsglas, so fest, dass ich spürte, wie meine Fingerknöchel zu brechen drohten. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und ging mühsam davon, zurück durch den muffig riechenden Gang, in dem die Kraken in ihren Aquarien mich aus fremdartigen Augen beobachteten, vorbei an dem Behälter mit den riesigen Spinnen und an den Labortechnikern, die kaum aufblickten. Ich hatte angefangen zu rennen, in dem Versuch, die Worte hinter mir zu lassen, die noch immer in meinen Ohren widerhallten – jene grauenvollen, verdammenden, vernichtenden Worte. Es half nicht. Wie schnell ich auch rannte, wie fest ich auch auf die Welt einschlug, nichts konnte diese Worte ungeschehen machen.
Diese fünf einfachen kleinen Worte, die alles änderten:
»Sie wäre wieder gesund geworden.«
Shaun und ich hatten heute eines dieser peinlichen Gespräche – die, die besonders wehtun, weil man sie eigentlich niemals führen möchte, obwohl man es früher oder später muss. Es ging um unsere biologischen Eltern. Wer sie wohl waren, warum sie uns weggegeben haben, ob sie das Erwachen überlebt haben. Alles Dinge, die adoptierte Kinder normalerweise irgendwann fragen. Ob sie uns wollten. Das ist eine große Frage für Shaun. Er war den Masons gegenüber immer nachsichtiger als ich, aber aus irgendeinem Grund ist es ihm wirklich wichtig, dass unsere Eltern uns gewollt haben, ehe wir dann hier gelandet sind.
Ich kenne den Auslöser dieses Gesprächs. Ich habe die gleiche E-Mail gekriegt wie er, von einer Organisation, die einem verspricht, »die Waisen des Erwachens wieder mit ihren Familien zu vereinen«. Laut der E-Mail gleichen diese Leute – gegen eine bescheidene Gebühr, versteht sich – Blut- und Gewebeproben mit öffentlichen und militärischen Datenbanken im ganzen Land ab und suchen nach genetischen Übereinstimmungen. Zufriedenheit garantiert: Daran ließen sie keinen Zweifel. Wenn wir Ihre Familie nicht finden, dann kriegen Sie Ihr Geld zurück.
Solche Betrugsversuche finde ich faszinierend, aber ich will die Antworten, die sie mir anbieten, nicht. Ich habe meine Gene auf jedes miese rezessive Gen, auf jedes Risiko hin untersuchen lassen, für das es einen Test gibt – und die paar Sachen, deren Genotyp man nicht kennt, sind so verdammt selten, dass es zumindest interessant wäre, darüber zu schreiben, während ich daran sterbe. Ich habe kein dringendes Bedürfnis, die Familie zu finden, aus der ich hervorgegangen bin. Das Einzige, was ich auf dieser Welt habe, ist Shaun, und ich will auf keinen Fall das Risiko eingehen, ihn zu verlieren. Genau das täte ich aber, wenn ich losgehen und mir eine neue Familie suchen würde.
Ob die Masons uns nun vor dem sicheren Tod bewahrt haben – wie es in den Presseerklärungen heißt – oder ob sie uns gestohlen oder von mir aus auf dem Schwarzmarkt gekauft haben, es ist mir egal. Das Mädchen, das aus mir geworden wäre, wenn ich bei einer Mutter mit der gleichen Nase wie ich und einem Vater mit den gleichen komischen Zehen aufgewachsen wäre, hat es niemals gegeben. Dafür gab es mich. Ich war diejenige, die aufwachsen durfte, und zwar mit Shaun zusammen, und das ist das Einzige, worauf es mir ankommt. Wir haben Glück gehabt. Wenn er das nicht erkennt, tja … dann kann man ihn wohl nicht dazu zwingen.
Aber ich weiß trotzdem, dass es so ist.
Aus Postkarten von der Klagemauer, dem Nachlass von Georgia Mason, 13. Mai 2034.
Das Gute an Kellis-Amberlee ist, dass dieses Virus nur Säugetiere befällt. Ich meine, überlegt nur mal. Könnt ihr euch einen infizierten Riesenkraken vorstellen? Das wäre wie der Sea-World-Zwischenfall von 2015, nur diesmal mit extra Tentakeln. Kein schönes Bild, finde ich. Und wenn ihr damit kein Problem habt, wie wäre es damit: Das Gewicht eines durchschnittlichen Krokodils liegt ein gutes Stück über der Schwelle für eine Virenvermehrung.
Ja. Genau das meinte ich.
Das Schlechte an Kellis-Amberlee ist, dass es alle Säugetiere befällt. Von der kleinsten Feldmaus bis zum größten Blauwal (vorausgesetzt, dass irgendwo da unten noch einer übrig ist): Wenn es ein Säugetier ist, dann überträgt es das Virus. Das bedeutet, dass ein Heilmittel sinnvollerweise bei allen Säugetieren wirken muss, denn sonst besteht immer die Möglichkeit, dass Kellis-Amberlee mutiert und einen zweiten Anlauf startet. In dieser Beziehung sind Viren hinterhältig. Zumindest sind wir es gewohnt, mit dieser Form der Krankheit umzugehen. Ich bin mir nicht sicher, wie schnell wir uns anpassen könnten, wenn die Regeln sich ändern würden.
Aus Auf die Kwong-Tour, dem Blog von Alaric Kwong, 12. April 2041.