6
Maggies Zuhause befindet sich zehn Kilometer außerhalb einer Stadt, die ungelogen Weed heißt. Weed in Kalifornien, eines der kleinsten Stadtgebiete, das nach dem Erwachen gezielt zurückerobert wurde. Was ist so besonders an diesem Ort? Seine Lage: Von Weed aus kommt man bequem zu drei der größten Flüsse Kaliforniens, und da Rind- und Schweinefleisch für immer von der Speisekarte gestrichen sind, ist die Fischerei derzeit wirklich angesagt. Wenn man Flussforellen auf der Speisekarte haben will, muss man sich die Fischerorte zurückholen. Man hat Weed vor dem Schicksal, das die meisten Städte und Ortschaften am Rande der Wildnis ereilte, gerettet, und zwar weil es sich so nah am Rande der Wildnis befand. Manchmal funktioniert das mit der Logik einfach nicht.
Die Fahrt von Oakland nach Weed dauert ohne Quarantäneabsperrungen auf der Interstate 5 etwa viereinhalb Stunden. Laut unserem GPS hatten wir freie Bahn. Ich bedeutete Becks, mir zu folgen, und fuhr Richtung Norden auf die Straße. Es war höchste Zeit, sich vom Wilden Westen zu verabschieden.
Shaun?
»Ich bin jetzt nicht in Stimmung, George.« Das Rauschen des Windes riss mir die Worte von den Lippen, doch darauf kam es nicht an; sie hörte mich in jedem Fall. Sie hörte mich immer, selbst wenn ich kein Wort sprach.
Ich habe ihn auch verloren.
»Er ist unter meinem Kommando gestorben, George. Unter meinem Kommando. Das hätte nicht passieren dürfen.«
Ein Ton verbitterter Belustigung lag in ihrer Stimme, als sie antwortete: Ach so, die Leute sollen also nur sterben, wenn ich das Kommando habe?
Darauf wusste ich keine Antwort, weshalb ich einfach gar nichts sagte. Sie verstand und schwieg ebenfalls, während das Motorrad die Kilometer zwischen uns und unserem Ziel fraß. Den Sendewagen konnte ich im Rückspiegel sehen, er folgte mir dichtauf, aber mit dem nötigen Sicherheitsabstand. In keiner der beiden Fahrtrichtungen waren andere Autos auf dem Highway zu sehen. Ein gelbes Reflektorschild blitzte im Scheinwerferlicht auf: ACHTUNG – WILDWECHSEL.
Rotwild kann deutlich schwerer als fünfundzwanzig Kilo werden und fällt damit in den Bereich, in dem es zu einer Kellis-Amberlee-Vermehrung in einem Organismus kommen kann. Wir können solche Tiere nicht einfach völlig ausrotten – abgesehen von den ökologischen Bedenken dagegen, handelt es sich um Pflanzenfresser, was bedeutet, dass ihre Nahrungsquelle nicht verseucht ist und sie sich vermehren wie die Riesenkarnickel. Dann und wann schlägt jemand ein Gesetz vor, das es erlaubt, die Wälder mit Brandbomben einzudecken und das Wildproblem so ein für alle Mal zu lösen, nur um sofort von allen niedergebrüllt zu werden, von den Naturschützern bis zur Holzindustrie. Ich habe keine Meinung zu dem Thema. Aber mir fällt auf, dass die Kinder früher einmal geheult haben, wenn Bambis Mutter stirbt. George und ich haben beide den Atem angehalten und laut losgejubelt, als sie nicht wieder zum Leben erwacht ist und versucht hat, ihr Kind zu fressen.
Oben rechts in meinem Visier begann ein kleines, orangefarbenes Licht zu blinken, was bedeutete, dass der Sendewagen versuchte, eine Verbindung zu mir herzustellen. Wollte ich mit jemandem von meinen Leuten reden? Nein. Nein, das wollte ich nicht. Hieß das, dass ich es mir leisten konnte, den Anruf zu ignorieren?
Unglücklicherweise nicht. Ich unterdrückte den Drang, Gas zu geben und so schnell wie möglich meiner Verantwortung zu entfliehen. »Anruf annehmen«, sagte ich.
Kurz darauf erklang Becks Stimme in meinem Ohr. Wegen des Fahrtwinds, der über meinen Helm peitschte, verstand ich sie nur schwer. »Shaun, bist du das?«
»Nein, hier spricht der Osterhase«, sagte ich. »Was denkst du denn, wer bei mir rangeht? Was willst du, Becks? Wir sind noch lange nicht bei Maggie.«
»Genau darum geht es mir. Wir hatten keine Zeit, die Fahrzeuge für einen weiteren Ausflug vorzubereiten, ehe wir aus …« Sie kam ins Stocken und verschluckte den Rest des Satzes. Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme leiser, sodass ich sie durch das Rauschen des Windes noch schlechter verstand. »Ich meine, bei uns hier sieht es nicht so gut aus mit dem Benzin. Ich weiß ja nicht, wie es bei dir ist, aber wir kommen noch etwa siebzig Kilometer weit, höchstens, ehe wir in der Klemme stecken.«
Scheiße! »Was sagt das GPS?«
»Dreißig Kilometer weiter gibt es eine Raststätte, die für akkreditierte Journalisten geöffnet ist und eine gute Sicherheitseinstufung hat. Sauber, verlässliche Bluttests, keine Ausbrüche in den letzten neun Jahren.«
Bei unserem Glück hat der letzte Punkt sich demnächst erledigt.
»Wahrscheinlich«, sagte ich erleichtert. George hatte geschwiegen, seit ich ihr gesagt hatte, dass ich jetzt nicht in der Stimmung sei, und ich hatte die irrationale Angst gehabt, dass das Trauma, einen weiteren Menschen zu verlieren, der mir etwas bedeutete, in Kombination mit meiner Wut irgendwie mein Gehirn repariert hätte, sodass ich wieder den üblichen Standards für geistige Gesundheit gerecht würde. Scheiß auf geistige Gesundheit! Ich will nicht, dass sie aufhört, mit mir zu reden. Das würde mich wirklich in den Wahnsinn treiben.
»Shaun? Was war das?«
»Nichts weiter, Becks. Das mit der Raststätte klingt gut. Wie wär’s, wenn du schon mal dort anrufst und uns ankündigst?« Wenn die Raststätte auf unser Eintreffen vorbereitet war, würde bereits jemand am Tor warten, um uns Blutproben abzunehmen und uns reinzulassen. Das würde sehr viel schneller gehen und bequemer sein, als auf der Auffahrt zu stehen und sich die Hacken zu kühlen, bis irgendein unterbezahlter Angestellter es schaffte, sich von seinem Kaffee loszureißen.
Ich wollte gerade auflegen, als mir plötzlich der Magen in die Kniekehlen sackte. »Scheiße – was ist mit dem Doc? Offiziell ist sie tot, und ihre einzige saubere Identität ist gerade zusammen mit ganz Oakland in die Luft geflogen.«
In nicht mal einer Woche ist sie zweimal gestorben, bemerkte George. Das habe nicht mal ich hingekriegt.
»Pst«, zischte ich.
Becks achtete nicht auf den Einwurf und antwortete: »Darum haben wir uns längst gekümmert. Alaric hat eine von Buffys alten Ausgehidentitäten für sie ausgegraben. Einer genaueren Untersuchung wird sie nicht standhalten, aber bis wir bei Maggie sind und er etwas Belastbareres auftreiben kann, wird es reichen.«
»Großartig. Setzt ihr einen Hut auf oder so – man soll ihr Gesicht nicht so gut sehen. Und sie bleibt im Wagen. Was zu trinken kann ihr auch wer anders mitbringen.«
»Alles klar«, sagte Becks. »Auflegen!« Ein Klicken war zu hören, und dann war ich einmal mehr allein mit dem Rauschen des Windes.
Mit dem Rauschen und mit der Stimme in meinem Kopf.
»George?«
Ja?
»Ist es immer so? Wenn man jemanden verliert, der sich auf einen verlassen hat?«
Du sagst das, als würde einem das dauernd passieren.
»Du hast damit angefangen.«
Ja. Eine ganze Weile schwieg sie, und ich hörte die leise Andeutung eines Seufzens in meinem Hinterkopf. Das ist ja wohl nichts Neues.
George hat immer alles als Erste gemacht. Sie hat vor mir angefangen zu reden, hat vor mir gelesen … so ziemlich das Einzige, was ich zuerst hingekriegt habe, war herauszufinden, was für ein Spiel die Masons mit uns spielten, und das war in erster Linie Glück. Sie war diejenige, die beschlossen hatte, Journalistin zu werden und mich in ihrer Begeisterung mitgerissen hat. Am Anfang habe ich es einfach ihr zuliebe mitgemacht, später dann, weil sich herausstellte, dass ich tatsächlich ziemlich gut darin war, zur Unterhaltung der Massen mit Stöcken nach Toten zu stochern. Zum ersten Mal hatte ich etwas gefunden, worin ich richtig gut war und was mir wirklich Spaß machte. Ohne sie wäre mir das nie gelungen. Sie war diejenige, die vorgeschlagen hatte, Senator Rymans Präsidentschaftswahlkampagne zu begleiten. Sie hat als Erste erkannt, was das für unsere Karriere bedeuten konnte.
Sie ist als Erste gestorben.
Schweigend fuhr ich dahin und gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Schließlich sagte sie zögernd: Es ist jedes Mal anders. Als wir Buffy verloren haben … das war eigentlich das Ende der Welt, aber irgendwie habe ich mich am Riemen gerissen. Mir blieb gar nichts anderes übrig.
»Warum?«
Ich musste es für dich tun, sagte sie, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. Du hast mich gebraucht.
Es gab nichts, was ich darauf hätte erwidern können. Ich neigte den Kopf, gab Gas und sauste über den Highway, bis das Neonschild der Raststätte vor mir auftauchte, eine Verheißung von Essen, Treibstoff und einem Haufen bewaffneter, stiernackiger Hinterwäldler, die nur auf die Gelegenheit warteten, einen Ausbruch niederzumachen. Für jeden gibt es bestimmte Plätze, an denen er sich sicher fühlt. Ganz oben auf der Liste stehen bei mir wohl: eine Zusammenkunft von Irwins, eine abgeriegelte Einrichtung des Seuchenschutzes und eine beliebige Highwayraststätte Nordamerikas. Wenn man beim Thema gruselige Survival-Spinner mitreden will, sucht man sich am besten erst mal einen Trucker.
Am Tor empfingen uns drei Wachleute in ölfleckigen Jeansjacken und mit Bluttesteinheiten in der Hand. Ein Wachmann für mich, zwei für den Wagen. Bei meinem handelte es sich um einen pickligen, unfreundlichen Teenager, dessen Namensschild ihn wahrscheinlich unzutreffend als »Matt« auswies. Ich versuchte gar nicht erst, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen. Stattdessen zog ich einfach meinen Handschuh aus und hielt ihm meine Hand hin, damit er seine Arbeit machen konnte. Er quittierte meine professionelle Haltung mit einem zufriedenen Schnauben. Mit festem Druck schob er mir die Testeinheit über die Hand, ohne sich zuvor zu vergewissern, dass meine Finger richtig ausgestreckt waren. Die Lichter an der Testeinheit blinkten erst rot und dann grün. Ein Grinsen trat auf sein pockennarbiges Gesicht und ließ es fast schon liebenswert aussehen. »Sieht aus, als wären Sie sauber und könnten durch, Mr Mason«, sagte er, womit ich mir sicher sein konnte, dass Becks uns telefonisch angemeldet hatte. »Ihre Website ist toll. Unglaublich, diese Reportagen aus Sacramento, die Sie letztes Jahr gebracht haben.« Er hielt kurz inne und fügte dann schüchtern hinzu: »Es hat mir wirklich leidgetan, das mit Ihrer Schwester zu hören.«
Ich setzte mein bestes Lächeln auf, das besagte: »Ach was, es tut kein bisschen weh, wenn Sie bei einer Unterhaltung einfach so George erwähnen. Tausend Dank, dass Sie vorher nachgefragt haben«, wobei ich froh war, dass das Visier meines Helms meine Augen weitgehend verbarg. »Danke! Es waren interessante Zeiten.«
»Tja, willkommen im Rudy’s! Ich hoffe, wir haben alles, was Sie brauchen.«
»Danke«, sagte ich noch einmal, zog mir den Handschuh wieder über und fuhr durch das geöffnete Tor auf die eigentliche Raststätte. Die anderen beiden Wachleute waren nach wie vor damit beschäftigt, Proben von den Leuten im Wagen zu nehmen. Vielleicht schauten sie sich Kellys Daten sogar genauer an. Ich hatte ein besseres Gefühl dabei, dass sie eine von Buffy konstruierte Identität benutzte. Der Affe mochte der Beste in seiner Branche sein, aber Buffys Arbeit kannte ich und konnte mich darauf verlassen.
Ich stellte mein Motorrad auf Selbsttanken ein und betrat den großzügig ausgestatteten Laden, wo ich auf meiner Suche nach Kaltgetränken an Regalen voll mit echt künstlichen Käse-Nachos und schlaffen Soja-Hotdogs vorbeikam. Ich wollte gerade den Kühltresen öffnen, da hielt ich inne und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Kaffee, der neben den Hotdogs vor sich hin köchelte. Das teerartige Zeug stammte wahrscheinlich noch aus prähistorischen Zeiten, entstanden durch den stetigen geologischen Druck auf die Knochen von Urzeitungetümen, deren fossilisiertes Blut man aus dem Kern der Erde pumpte, um die Nerven von Langstrecken-Truckern zu stählen.
Nur zu.
»Hä?« Ich hielt in der Bewegung inne und blinzelte wie ein Volltrottel. Ganz und gar nicht ungefährlich, da Desorientierung und ruckartige Bewegungen frühe Anzeichen einer Kellis-Amberlee-Vermehrung sind. Meine Truppe ist vielleicht an meine Gespräche mit meiner toten Schwester gewöhnt, aber der Rest der Welt ist weniger verständnisvoll.
Du willst Kaffee. Hol dir welchen!
»Aber …«
Heute habe ich dich schon einmal dazu gezwungen, eine Nutte aus Zuckerland zu trinken. Ich kann auch mal Gnade walten lassen. Aus ihrem Tonfall klang eine Mischung von Belustigung und Traurigkeit. Ich hatte ein bisschen gebraucht, um ihren Gemütszustand richtig einschätzen zu können – schließlich war ich es nicht gewohnt gewesen, auf die Nuancen körperloser Stimmen zu lauschen – aber jetzt, wo ich es konnte, war es nicht mehr rückgängig zu machen. Außerdem hast du ihn dir verdient.
»Ein Kaffee pro in die Luft gejagtem Mitarbeiter, was?«, murmelte ich und ging in Richtung des dampfenden Urzeitkaffees. George hasste den Geschmack von Kaffee seit jeher. Ich hingegen verstehe einfach nicht, warum man sein Koffein nicht so effizient wie möglich aufnehmen sollte.
Offenbar hatte Alaric beim Münzenwerfen darum, wer zuerst das Auto verlassen musste, verloren. Er betrat das Geschäft im selben Moment, in dem ich rauskam, mit dem größten Kaffee, den es für Geld gab, fest in beiden Händen. Alaric schaute auf den dampfenden Becher hinab, blinzelte und hob die Brauen. Der fragende Ausdruck in seinem Gesicht war unverkennbar. Zu meinem Glück hatte ich viel Übung darin, mich nicht beeindrucken zu lassen.
»Ich geh noch mal das Motorrad durchchecken und sehe nach, ob alle Fenster am Wagen zu sind, während du dich hier um alles kümmerst.« Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee und genoss das Gefühl, als die sengende Flüssigkeit in meine Kehle hinabfloss. Sie war so stark und bitter, wie ich es mir erhofft hatte. »Vergesst nicht, Becks und dem Doc was zum Essen zu holen. Es ist ein weiter Weg bis Weed, und wir wissen nicht, ob Maggie schon das Essen für uns auf dem Tisch stehen hat, wenn wir da sind.«
Alaric runzelte die Stirn. »Boss …«
»Nimm ruhig die Firmenkarte. Wenn die Rechnung kommt, erzähle ich mir selbst, dass ich das autorisiert habe, und ich bin mir sicher, dass ich keine Einwände erheben werde.« Ich bedachte ihn mit einem sarkastischen Grinsen und schob mich schnell an ihm vorbei Richtung Zapfsäulen.
Die Sonne senkte sich langsam dem Horizont entgegen. Den größten Teil der Fahrt nach Weed würden wir in völliger Dunkelheit zurücklegen müssen. Selbst in der sicherheitsversessenen Gesellschaft von heute ist die Interstate 5 größtenteils nicht beleuchtet, lediglich die Ausfahrten sind es. An den Wachhäuschen dort trifft man freundliche, bewaffnete Herren an, die einem gerne »helfen«, falls man sich infiziert hat. Jeder Einzelne von ihnen ist ein barmherziger Samariter. Dank der Gesetzeslage müssen sie sich nicht mal vergewissern, ob man infiziert ist, bevor sie abdrücken; alles, was vor Gericht als begründeter Zweifel durchgeht, reicht als Vorwand, um jemandem eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Je weiter man sich in die Wildnis vorwagt, desto weniger begründet muss der Zweifel sind.
»Eine Nachtfahrt«, sagte ich und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Toll. Genau das hatte ich heute Abend vor. Im Dunkeln über einen verlassenen Highway zu fahren ist immer ein Heidenspaß.«
Wenn ich könnte, würde ich es dir abnehmen.
»Ich weiß«, sagte ich. Alaric kam aus dem Geschäft. Er taumelte regelrecht unter seiner Last von Junkfood und Getränkeflaschen. Ich warf meinen halb vollen Kaffeebecher in den nächsten Mülleimer und zog mir den Helm über. Während ich mich aufs Motorrad schwang, winkte ich ihm kurz zu. Je schneller ich beim Tor war, desto weniger Zeit hatten wir, um darüber zu reden, was vorgefallen war. Bei Maggie würden wir dazu noch genug Gelegenheit haben. Wir würden überhaupt nicht darum herumkommen. Im Moment wollte ich einfach nur fahren, und eigentlich hatte ich nicht mal darauf besonders große Lust.
Ich hatte das Motorrad von der Zapfsäule weggefahren und wartete bereits mit laufendem Motor, als Alaric beim Wagen ankam. Er schmiss die Vorräte auf den Beifahrersitz und winkte mir mit fragender Miene zu. Inzwischen kenne ich den Willst-du-darüber-reden-Blick – weiß der Himmel, wie oft ich ihn nach Georges Tod zu sehen gekriegt habe. Ich schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen Richtung Tor.
Meine Truppe kennt meine Signale ebenso gut wie ich ihre. Alaric nickte und stieg in den Wagen. Kurz darauf zeigte Becks mir den erhobenen Daumen aus dem Fahrerfenster und ließ den Motor an. Der Wagen fuhr an, blieb hinter mir stehen und wartete auf mein Zeichen.
»Amateure«, brummte ich und ließ den Motor aufheulen.
Die restliche Fahrt nach Weed blieb in jener speziellen Weise ereignislos, bei der jeder in voller Alarmbereitschaft ist, bereit, beim kleinsten Anlass auszurasten. Horrorfilme aus der alten Zeit haben normalerweise Spannung aufgebaut, indem sie das Publikum haben warten lassen. Erst ließ man etwas Schreckliches passieren, beispielsweise indem man ein paar Hauptfiguren umbrachte, und dann ließ man die Leute rumsitzen und auf das nächste Unglück warten. Das nannte man »einen Schockmoment vorbereiten«. Tja, die Fahrt nach Weed kam mir genauso vor. Wir brausten über die verlassene Interstate 5, und mit jedem zurückgelegten Kilometer, bei dem nichts schiefging, wuchs meine Besorgnis.
Um kurz vor elf verließen wir schließlich den Freeway und trafen in Maggies Heimatstadt ein. Flutlichter erleuchteten eine Anzeigetafel in der Nähe des Ortskerns, auf der große Blockbuchstaben verkündeten: GRATULATION, JAMES! WEEDS BÜRGER DES MONATS!
Gewisse Elemente der Kleinstadtmentalität werde ich nie verstehen. Kopfschüttelnd bedeutete ich den andern, mir zu folgen, und bog in die Straße ein, die zu Maggie führte.
Seit dem Erwachen sind Häuser entschieden zweckmäßiger geworden, da die Leute mit einem Mal begriffen hatten, dass es wichtiger war, die Zombieapokalypse zu überstehen, als mit seinen Buntglasfenstern anzugeben. Ich habe seit jeher eine Schwäche für Gebäude aus der alten Zeit. Klar, im Prinzip handelt es sich um Todesfallen, und die meisten davon sollte man am besten abreißen, ehe ein Unglück geschieht, aber es sind stilvolle Todesfallen. Diese alten Häuser sind die Irwins der Architektur. Was Maggies Haus betrifft … nun, das hätte die Steve-Medaille in Gold verdient, allein für seine Existenz.
Wir verließen die schlecht gepflegte Straße und bogen auf Maggies glatt gepflasterte, drei Kilometer lange Auffahrt ein, die sich zwischen den Bäumen hindurchwand und einen nahezu perfekten Kreis um das Haus bildete. Das ist gar nicht so unpraktisch, wie man meinen könnte: Die Auffahrt war rundherum mit automatischen Sensoren und Bewegungsmeldern bestückt, die bis zu den Außenwänden reichten, die wie gemauert aussahen, aber in Wirklichkeit aus einem mit einem speziellen Verbundstoff überzogenen Stahlkern bestanden. Die Tore waren so konstruiert, dass man sie in einer halben Sekunde schließen konnte, und was dabei dazwischengeriet, würde glatt durchtrennt werden, wenn es sich nicht gerade um einen Panzer handelte. Durch die gewundene Auffahrt wurde der umliegende Wald in einzelne Sektoren aufgeteilt, und in jedem Sektor gab es eine Reihe von Stolperfallen und Kameras, die sicherstellten, dass nichts und niemand sich an Maggie und ihre Gäste heranschleichen konnte.
Ich blieb unmittelbar vor dem ersten Tor stehen, schaltete auf Leerlauf und aktivierte meinen Helmfunk. »Äh, Becks? Hat jemand Maggie angerufen und ihr gesagt, dass wir kommen?«
Eine ganze Weile kam keine Antwort. Dann sagte Becks: »Nein, ich dachte, das hättest du erledigt.«
»Hab ich nicht dran gedacht.« Ich seufzte und ließ den Motor wieder an. »Dann schauen wir mal, ob ihr Sicherheitssystem uns umbringt.«
Die ersten beiden Tore waren darauf eingestellt, sich für jeden zu öffnen, der bei Nach dem Jüngsten Tag mitarbeitete. Beim dritten mussten wir Blutproben abgeben – wenn man infiziert war, durfte man weiter in den Todesschacht, wo der Weg dann ziemlich rasch zu Ende war. Beim vierten musste man sich einem Augenscan unterziehen. Es war ein Jammer, dass George niemals Gelegenheit gehabt hatte, Maggie zu besuchen. Es wäre sicher lustig geworden, wenn das vorprogrammierte Sicherheitssystem versucht hätte, mit ihrem retinalen KA zurechtzukommen. Vielleicht hätte Maggie sogar einen der Wachleute aus seinem Versteck zwischen den Bäumen rufen müssen.
Nach der dritten Biegung der Auffahrt sahen wir das Haus. Alle Fenster waren erleuchtet, und der Hof war von Flutscheinwerfern erhellt, die sich im sorgfältig gestutzten Garten verbargen. Es war praktisch taghell. Der restliche Weg die Anhöhe hinauf war beleuchtet. Nachdem wir das vierte Tor hinter uns gelassen hatten, ohne dass etwas aus den Bäumen gekommen war, um uns umzubringen, entspannte ich mich langsam. Das fünfte und letzte Tor stand offen. Ich fuhr vors Haus und parkte am Rand, sodass der Sendewagen genug Platz hatte, um durchs Tor zu fahren.
Während ich den Helm abnahm und Becks den Wagen parkte, öffnete sich die Eingangstür. Eine kleine Flut von Pelzknäueln strömte auf die Auffahrt, und inmitten des herumtollenden, bellenden Rudels lief Maggie. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Das Grenzgewicht für eine Kellis-Amberlee-Vermehrung – also das Mindestgewicht, das etwas haben muss, um von den Toten zurückzukehren und Großmutter aufzufressen – beträgt 25 Kilo. Es scheint sich um eine ziemlich klare Grenze zu handeln: Manche Tiere zwischen 25 und 35 Kilo erwachen auch nicht wieder zum Leben, aber nichts unter 25 Kilo steht jemals wieder auf. Logischerweise sollte man annehmen, dass die Hundenarren dieser Welt sagen würden: »Ach, ist so ein Pudelchen nicht was Nettes?«, aber Logik war noch nie die Stärke der menschlichen Rasse. Kaum war die Gefahr des Weltuntergangs gebannt, da schossen auch schon die Zuchtprogramme aus dem Boden. Überall auf der Welt versuchten die Leute, ihre Lieblingshundearten zu miniaturisieren.
George fand das immer widerwärtig und meinte, dass die Leute einfach mal ’nen Punkt machen sollten. Ich für meinen Teil finde Maggies Minibulldoggen seit jeher auf ihre ganz eigene, kaputte und epileptische Art und Weise herzallerliebst. Die Neigung von Minibulldoggen, Epilepsie zu entwickeln, ist genau genommen der Grund dafür, dass Tierheime wie das von Maggie existieren, weil nämlich erstaunlich viele Menschen einen Hund »wie den von Großpapa« wollen, sich aber nicht die Mühe machten, die Zuchtprognosen zu lesen.
»Hi, Maggie«, sagte ich und wandte meine Aufmerksamkeit von der Bulldoggenhorde ab und ihrer Besitzerin zu. »Kommen wir zu spät zum Abendessen?«
»Nicht, wenn ihr Emu-Hackbraten mögt«, antwortete sie mit einem gezwungenen Lächeln. Ihre Augen waren gerötet und verquollen, als hätte sie sie in den letzten Stunden viel gerieben. »Ich vermute, dass ihr ein Weilchen bleibt?«
»Wenn das für dich in Ordnung ist.« Sie sah elend aus, wie sie da inmitten ihrer kleinen Herde geretteter Hunde stand und zu wirken versuchte, als wäre alles in Ordnung. Ich wollte sie trösten. Ich hatte bloß keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.
In solchen Dingen war ich besser gewesen, als George noch gelebt hatte, weil ich es da für jemand anderen getan habe. Sie berührte nicht gerne andere Menschen, also übernahm ich das für sie. Sie mochte es nicht, wenn Menschen ihre Gefühle zur Schau stellten, also war ich der Puffer. Aber wenn sie nicht da war, wusste ich bei Gefühlssachen überhaupt nicht, wo ich anfangen sollte.
Wir hatten immer gedacht, dass nur sie durch unsere Erziehung emotional verkümmert war. Es war komisch, jetzt festzustellen, dass wir beide irgendwie einen Schaden hatten.
Alaric rettete die Situation für mich. Noch bevor Becks den Motor abgestellt hatte, sprang er aus dem Wagen und rannte auf Maggie zu, ohne die sie umgebenden Hunde im Geringsten zu beachten. Glücklicherweise sind Minibulldoggen schlau genug, aus dem Weg zu gehen, ehe man auf sie drauftritt. Er umfing sie mit beiden Armen und drückte sein Gesicht an ihre Schulter. Sie tat das Gleiche bei ihm, und eine Weile hielten sie einander einfach nur fest. Das war alles. Es schien zu genügen.
Atmen, sagte George.
»Ich versuch’s ja«, murmelte ich. Irgendwie kam ich mir vor wie ein blöder Spanner, als ich Maggie und Alaric bei ihrer Umarmung zusah. Ich wandte mich ab.
»He«, sagte Becks, die neben mich trat. Kelly folgte ihr dichtauf. Um sich zu wärmen, hatte sie sich fest in eine der Ersatzdecken hinten aus dem Sendewagen gewickelt. Beide sahen erschöpft aus, aber Becks wirkte immerhin so, als ob sie darüber hinwegkommen würde. Die Ringe unter Kellys Augen waren erschreckend dunkel, und ihr Gesicht war bleich.
»He«, antwortete ich, machte eine Kopfbewegung in Kellys Richtung und fügte hinzu: »Hat der Doc die Fahrt gut überstanden?«
»Ich hab ein bisschen geschlafen«, sagte Kelly mit einer Stimme, die von weit weg zu kommen schien.
»Nein«, sagte Becks praktisch gleichzeitig.
»Hatte ich auch nicht mit gerechnet.« Ich warf einen Blick zu Alaric und Magdalene, die einander noch immer umklammert hielten, und sagte: »Maggie hat Emu-Hackbraten gemacht. Drinnen. Vielleicht sollten wir uns anschließen.«
»Für mich klingt das nach einer hervorragenden Idee«, sagte Becks. »Ich hole meine Tasche.«
Jetzt wirkte Kelly erschreckt. »Moment mal – wir bleiben hier?«
»Jau«, antwortete ich, drehte mich um, löste die Satteltaschen vom Motorrad und warf sie mir über die Schulter. »Willkommen in Maggies Heim für Reporter auf Abwegen und offiziell tote Seuchenschutzmitarbeiter!«
»Aber hier ist es nicht … es ist nicht …« Sie wedelte mit den Händen in Richtung der offenen grünen Rasenfläche, mit den Inseln aus scheinbar ungepflegten, undurchdringlichen Sträuchern und den Bäumen draußen hinter der Mauer »Hier ist es nicht sicher!«
Becks und ich wechselten einen Blick. Dann brachen wir praktisch gleichzeitig in Gelächter aus. Es hatte den atemlosen, fast schon hysterischen Klang völliger Erschöpfung, aber trotzdem fühlte es sich verdammt gut an, überhaupt über etwas lachen zu können. An diesem Punkt war es ziemlich egal, über was.
Kelly schaute zwischen uns hin und her und riss die Augen auf. Erst wirkte sie verblüfft, dann verärgert. »Was ist?«, wollte sie wissen. »Worüber lacht ihr?« Das brachte uns nur noch mehr zum Lachen, bis ich mich fast schon krümmte und Becks sich die Hände vors Gesicht hielt. Selbst George lachte mit, ein unheimliches, asynchrones Echo in meinem Kopf. Alaric und Magdalene achteten nicht auf uns. Sie waren ganz in ihrem Kummer gefangen.
Becks riss sich zuerst zusammen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte: »Ach, Shaun, anscheinend hat niemand daran gedacht, dem Doc zu sagen, wohin genau wir unterwegs sind.«
»Sieht ganz danach aus.« Ich straffte meine Schultern, wandte mich mit erzwungener Nüchternheit Kelly zu und sagte: »Doc, wir haben das Glück, uns an der Gastfreundschaft von Miss Magdalene Grace Garcia erfreuen zu dürfen.«
»Bitte klau nicht das Tafelsilber«, fügte Becks hinzu.
Kelly klappte die Kinnlade herunter.
Während Kellys Familie für viele der medizinischen Fortschritte der letzten 25 Jahre verantwortlich zeichnete, hatte Maggies Familie diese Forschung erst möglich gemacht. Vor dem Erwachen hatten ihre Eltern massiv in Software investiert. Ihre Firma hatte bereits Millionen gemacht, als die Toten sich zu erheben begannen. Da sie nicht dumm waren, erkannten sie, was die Zukunft bringen würde: Entweder es würden alle sterben, womit Geld eine überholte Idee geworden wäre, oder wir würden die Infizierten zurückdrängen und die Leute würden anfangen, sorgfältig auf ihre Gesundheit zu achten. Es gelang ihnen, den Großteil ihres Kapitals in die Entwicklung medizinischer Technologien zu stecken, ehe die Märkte stillstanden. Durch diese Umschichtung machten sie nicht etwa Millionen. Sie machten Milliarden, und zwar netto.
Sie hatten allerdings nicht nur massiv in Software investiert, sondern auch in Wohltätigkeitsprojekte. Ihre finanziellen Beiträge hatten eine Menge zur Rettung von Weed beigetragen. Natürlich hatte das unter anderem zur Folge gehabt, dass sie nun die Aktienmehrheit in zwei der vier größten Fischereibetrieben der Stadt und im örtlichen Krankenhaus hatten. Wir reden hier von der Sorte Menschen, die tausend Dollar für einen völlig normalen Preis für eine Flasche Wein halten. Zu Maggies einundzwanzigstem Geburtstag fragten sie sie, was sie sich wünschte, und erklärten, dass sie alles haben könne, was sie wolle. Das Beste war gerade gut genug für ihre geliebte Kleine.
Sie wünschte sich die Farm ihrer Großeltern, ein Sicherheitssystem, das militärischen Standards genügte, eine private T1-Verbindung und jederzeit Zugriff auf die Zinsen des für sie angelegten Kapitals. Weiter nichts. Und ihre Eltern, die zu der Sorte Menschen gehören, die ihr Wort halten, erklärten sich einverstanden. In einem unterirdischen Bunker der Seuchenschutzbehörde wären wir vielleicht sicherer gewesen. Vielleicht. Wenn er von Ninjas bewacht worden wäre oder so.
»Aber …«, sagte Kelly schließlich. »Sollte sie nicht irgendetwas Wichtiges mit ihrer Zeit anfangen?«
»Das tut sie«, sagte ich lächelnd. »Sie lädt zu Grindhouse-Filmpartys und schreibt für mich. Komm schon! Wer als Letzter am Tisch sitzt, muss abwaschen.« Ich ging zur Eingangstür, wobei ich einen weiten Bogen um Alaric und Maggie machte. Die noch immer verwirrt dreinschauende Kelly folgte mir, Becks hinterher. Sie ließ die Tür hinter sich offen stehen – es geht doch nichts über ein gutes Sicherheitssystem, von dem man am besten nichts mitbekommt.
Das große Wohnzimmer war von Bücherregalen gesäumt und angefüllt mit verstaubten Kisten voller Papiere, mit Hundekörben und gemütlichen Sofas, doch von den anderen Fiktiven war niemand zu sehen. Das war ungewöhnlich. Maggie war fast nie allein zu Hause, da sie die Tore auf mehr oder weniger regelmäßiger Basis für alle Fiktiven öffnete, die bei uns arbeiteten, und auch für einige der Irwins und Newsies. Maggie schätzte Geselligkeit sehr. Sie war in einer Gesellschaftsschicht aufgewachsen, in der man noch ein Party-Girl sein konnte, und obwohl sie ihre Wurzeln in vielerlei Hinsicht hinter sich gelassen hatte, konnte sie nicht einfach alles, was sie gelernt hatte, aufgeben. Die meisten Menschen sind gerne allein, denn das bedeutet Sicherheit. Doch Maggie fühlte sich dann einsam.
Kelly blieb dicht hinter mir und nahm die neuen Eindrücke mit einer kühl abschätzenden Miene auf, wie ich sie von Irwins kenne, die Gefahrenzonen begutachten. Heutzutage sind die meisten Häuser nach praktischen Gesichtspunkten eingerichtet. Man bevorzugt sanfte Kurven, hell erleuchtete Ecken und moderne Möbel, die aussehen wie aus einem Horrorfilm aus der alten Zeit, allesamt darauf ausgelegt, dass man sie leicht desinfizieren kann. Maggie dagegen hatte sich mit antiken und handgefertigten Möbeln eingerichtet, die allesamt mit verstaubtem Kram bedeckt waren.
Ich glaube, dass Maggies Leben zum Großteil ein Protest ist. Man erwartete von ihr, mit ihren Jugendfreunden beständig Partys zu feiern und in einer von überbezahlten Wachleuten aufrechterhaltenen künstlichen Blase zu leben, mit so viel Sicherheit, wie man sie für Unsummen von Geld nur kaufen kann – also wohnte sie mitten im Nirgendwo, mit einem Rudel epileptischer Hunde anstelle eines Pudels im Handtaschenformat und einer Clique reicher Freunde. Die Leute gingen davon aus, dass sie kaum mehr als drei graue Zellen im Hirn haben konnte, und also wurde sie professionelle Autorin und hatte zwanzig Mitarbeiter unter sich, die sie anleitete. Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie ist ein lustiges Mädchen, die Maggie, selbst wenn ihr Lebensstil an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln lässt.
Kaum war ich bei diesem Gedanken angekommen, da warf George auch schon ein: Du bist an der Reihe mit reden.
Von mir aus. Zumindest redete sie wieder mit mir. Und sie klang belustigt, was immer schön ist. Es ist gut zu wissen, dass ich meine Schwester noch zum Lächeln bringen kann. »Sei leise«, sagte ich.
Kelly schaute mich verwirrt an. »Ich habe nichts gesagt«, protestierte sie.
»Ich meinte George«, erwiderte ich mit einem kurzen Kopfschütteln.
»Weißt du«, sagte Kelly behutsam, »wenn du Angstzustände hast und deshalb mit ihr redest, dann gibt es Medikamente, die …«
»Anderes Thema«, sagte ich freundlich. »Wenn die Unterhaltung in diese Richtung weitergeht, dann könnte jemand eins in die Fresse kriegen, und das könntest du sein.«
»Shaun findet nichts dabei, Mädchen zu schlagen«, erklärte Becks.
»Versuch du mal, mit George aufzuwachsen, du würdest dich wundern.« Ich führte unsere bunt zusammengewürfelte kleine Truppe in Maggies Küche. Sie war genau wie der Rest des Hauses eingerichtet und hätte aus einer heruntergekommenen Mittelschichtswohnung aus der alten Zeit stammen können. Die Sache mit dem Hackbraten war kein Witz gewesen. Er stand auf dem Küchentisch, neben einem Tablett mit klein geschnittenem Gemüse, einer großen Schüssel Kartoffelbrei und einem halben Biskuitkuchen.
»Ich hole Teller«, sagte Becks.
Als Maggie und Alaric fünfzehn Minuten später schließlich reinkamen, saßen wir drei bereits um den Küchentisch und stopften uns voll. Zumindest taten Becks und ich das. Kelly beobachtete uns mit einer Art entsetzter Verblüffung, als könnte sie nicht fassen, was innerhalb eines einzigen Tages aus ihrem Leben geworden war. Sie würde es schon noch kapieren. Wenn sie lange genug lebte.
Maggie und Alaric war die Heulerei anzusehen, auch wenn es bei ihr deutlicher war als bei ihm. Ihre Augen waren verquollen und ihre Wangen gerötet, während Alaric so fotogen wie immer aussah. Er hat mal versucht mir zu erklären, wie er das anstellt, aber ich habe nicht zugehört. Vor allem, weil es mich nicht interessiert hat.
»Alaric meinte, dass du die Tote von der Seuchenschutzbehörde bist«, sagte Maggie auf diese direkte Art, die sie zu einer der gefürchtetsten Redakteurinnen in der Welt der Fiktiven gemacht hatte. »Netter Trick. Erklär mal!«
»Hallo, Maggie«, sagte ich fröhlich und griff nach dem Kartoffelbrei. »Möchtest du unserem Gast vorgestellt werden, oder ziehst du die Tornado-Tour vor? Nur, dass du’s weißt, sie hat eine ziemlich miese Woche hinter sich, und man kann ihr keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie durchdreht. Genau genommen haben wir alle einen miesen Tag hinter uns, und ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du nicht zu grob mit dem Doc umspringen würdest.«
Maggie versteifte sich. Ich schaute sie ruhig an und wartete ab, auf welche Art der Damm brechen würde: mit einer tosenden Flut oder einem bedrohlichen Rinnsal.
Schließlich sackten ihre Schultern nach unten, und sie sagte: »Mahir hat Daves letzte Post zurückgehalten, aber er hat mir eine Kopie zugeschickt und mir mitgeteilt, dass ihr zu mir unterwegs wärt. Deshalb habe ich die andern nach Hause geschickt.«
»Das war eine gute Idee«, sagte ich neutral.
»Ich hatte keine Gelegenheit, mich zu verabschieden, Shaun.« Maggie schüttelte den Kopf. »Das war nicht richtig. Ich hätte die Gelegenheit haben müssen, ihm zu sagen … ich hätte dort sein sollen.«
Mit dieser Art von Kummer komme ich klar. Traurigerweise ist diese Art von Kummer mein Leben, weil es nämlich nicht reicht, sich bloß zu verabschieden. Es gibt immer etwas, was man noch hätte sagen, tun oder fragen sollen, wofür man keine Zeit mehr hatte. Es gibt immer ein fehlendes Puzzleteil.
Ich legte meine Gabel beiseite, stand auf und ging zu Maggie. Auf dem Weg schob ich mit dem Fuß vorsichtig Hunde beiseite. Sie schaute mich an. Ich nickte einmal und nahm sie in die Arme. Die Anspannung in ihren Schultern war deutlich zu spüren. »Ich behaupte jetzt nicht, dass alles gut wird, weil nämlich nicht alles gut wird«, sagte ich. »Ich behaupte nicht, dass ich verstehe, was du durchmachst, weil niemand außer dir das verstehen kann, und ich behaupte nicht, dass wir hier sind, um dir zu helfen. Das sind wir nicht. Wir sind hier, um unsere Ärsche in Sicherheit zu bringen und um verdammt noch mal rauszukriegen, was läuft. Aber eins kann ich dir sagen: Dave hat seine Entscheidung getroffen, und man wird ihn an der Mauer unter den Helden verewigen. Dort wird er bleiben, weil er nämlich das Richtige getan hat. Ich schätze, dafür kann ich ihm nicht allzu böse sein. George hätte ihn nicht eingestellt, wenn sie nicht der Meinung gewesen wäre, dass er dazu in der Lage sei, schwere Entscheidungen zu treffen, und ich hätte ihn nicht behalten, wenn sie damit unrecht gehabt hätte.«
Maggie drückte ihr Gesicht an meine Schulter. »Ich glaube, ich habe ihn geliebt«, sagte Maggie so leise, dass die Worte fast erstickt wurden.
Ich seufzte schwer und schaute über ihren Kopf hinweg zu den anderen. Becks und Alaric hatten kaum Zeit gehabt, über das Schlimmste hinwegzukommen, nachdem wir Buffy und George verloren hatten. Ich konnte gerade mal eben vortäuschen, dass ich zurechtkam. Und jetzt ging alles von vorne los. Die Verschwörungstheorien, die konfuse Beweislage, die Todesfälle, der ganze verdammte Scheiß.
Das Schlimmste daran war, dass ich tief in meinem Innern, in dem Teil von mir, den nur George zu Gesicht bekam, glücklich war. Wenn nämlich all der alte Scheiß wieder losging, bedeutete das, dass wir wieder am Ball waren. Dass wir uns einer Antwort auf die Frage näherten, die mir den Schlaf raubte und mich wahrscheinlich auch davon abhielt, mich umzubringen:
Wer hat meine Schwester wirklich auf dem Gewissen?
Kelly schaute mir in die Augen und wandte dann mit schuldbewusster Miene den Blick ab. Ich würde mit ihr darüber reden müssen. Es war nicht ihre Schuld, ebenso wenig wie es die von mir oder Alaric oder Maggie war. Sie war ein Opfer, genau wie der Rest von uns. Niemand hatte etwas falsch gemacht. Aber darum konnte ich mich auch noch morgen kümmern, nachdem wir geschlafen und Mahir mitgeteilt hatten, dass wir noch lebten, und uns Kellys Datenmaterial genauer angesehen hatten.
»Ich glaube, wir alle haben ihn zumindest ein bisschen geliebt«, sagte ich absolut ernst, in der heimelig riechenden Küche, umgeben vom Rest meiner Truppe, und mit der weinenden Maggie im Arm.
Scheiß auf dich, David Novakowski! Scheiß auf deinen Edelmut und deine Güte und deine Ernsthaftigkeit, wegen der du dort in diesem verdammten Gebäude zurückgeblieben bist, und scheiß auf deine letzte Nachricht, und scheiß verdammt noch mal darauf, dass du so lange gebraucht hast, um das Maul aufzukriegen! Du Trottel. Du blöder, blöder Trottel.
Ich habe dich so geliebt, du Trottel.
Ich kann das nicht veröffentlichen. Ich will es, aber ich kann es nicht. Trotzdem hilft es mir, es hinzuschreiben, weil wir nun mal genau das machen: Sachen hinschreiben. Sie sind auf dem Weg hierher – es muss so sein, denn wenn sie das nicht sind … Darüber will ich nicht nachdenken. Das Haus kommt mir so leer vor. Himmel!
Aus Geliebte Pusteblume, dem Blog von Magdalene Grace Garcia, 12. April 2041, unveröffentlicht.
Es tut mir leid, meine Lieben, aber heute Abend schaff ich’s nicht zum Chat. Ich weiß, ich hab’s versprochen, und es tut mir leid, aber Tante Maggie hat Kopfschmerzen und muss ein Nickerchen machen. Morgen bin ich wieder normal auf Sendung. Seid brav. Seid lieb zueinander. Und wenn ihr jemanden liebt, sagt es ihm. Die Welt kann immer noch ein bisschen Liebe gebrauchen.
Aus Geliebte Pusteblume, dem Blog von Magdalene Grace Garcia, 12. April 2041.